Weltfremd

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Roland Düringer: Weltfremd?

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 edition a, Wien

www.edition-a.at

Lektorat: Anatol Vitouch

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Hidsch

Gesetzt in der Premiera, Myriad Pro

Gedruckt in Europa

1 2 3 4 5 — 18 17 16 15

Print-ISBN: 978-3-99001-136-2

eBook-ISBN 978-3-99001-153-9

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Vorwort

Bei diesem Buch handelt es sich um ein Bilderbuch, hauptsächlich mit Bildern Ihrer Wahl. Wie das konkret funktioniert, können wir gleich hier vor Ort, in dieser Buchhandlung, ausprobieren. Stellen Sie sich einfach einmal hier, gleich neben dem Bestsellerregal, einen rosa Babyelefanten vor. Nur keine Scheu, versuchen Sie es einfach einmal …

Gar nicht so einfach, stimmts? Ist die Ablenkung zu groß? Dann versuchen wir etwas Einfacheres. Blicken Sie zur Lebenshilfeabteilung und stellen Sie sich dort eine Ihrer aktuellen Wichsvorlagen vor, die nackt und brummend wie ein Trafo im Regal stöbert und sich dabei anschickt zu masturbieren – falls es sich dabei zufällig ohnehin um einen rosa Babyelefanten handelt, dann sehen Sie sich diesen ruhig noch einmal an …

Leichter, oder? Sollten Sie jetzt der Meinung sein, dass der Autor dieses Buches eine ordinäre Drecksau ist, dann möchte ich nur darauf hinweisen, dass ich jetzt nichts gesehen habe, jedenfalls keine Obszönitäten in einer Buchhandlung. Was ich vor mir sehe, sind viele leere Seiten, die es zu füllen gilt, und ich werde mir erlauben, während ich die Seiten beschreibe und damit mit Ihnen in einen Dialog trete, Sie mir nackt vorzustellen. Ich hoffe, das stört Sie nicht. Für Sie ist es ja bedeutungslos, und ich habe dadurch einen zusätzlichen Anreiz.

Und nun liegt es an Ihnen, wie es mit uns beiden weitergeht. Ich werde schreiben, ob Sie es lesen werden, das ist letztendlich Ihre Entscheidung …

Nachwort

Das Nachwort steht relativ vorne, aber immerhin nach dem Vorwort. Warum? Weil es keine Garantie dafür gibt, dass Sie es bis zu einem Nachwort am Ende des Buches schaffen würden, denn ehrlich gesagt ist das teilweise schon ziemlich heftig, was da so aus mir herausgeronnen ist. Bist du deppert, da wird es so manchem die Sicherungen schmeißen. Da werden einige durch die Hölle gehen …

Heute ist der 18. September 2015. Dieses Buch geht in Kürze in Druck. Kein Zurück mehr also. Dafür vielleicht ein Schritt nach vorne. In den letzten Wochen hatte dieses Buch einen fixen Platz in meiner Lebensgeschichte, bekam dadurch eine Wichtigkeit und eine Bedeutung. Letztlich ist es nur ein Buch, eines von tausenden und abertausenden. Was ist schon wichtig? Nichts ist wichtig! Oder ist alles wichtig? Wahrscheinlich ist es beides. In ein paar Monaten, vielleicht in ein paar Wochen oder schon in wenigen Tagen, wird dieses Buch seine Wichtigkeit in meinem Leben verloren haben, für mich Vergangenheit sein. Wenn auch nicht mehr wichtig, wird es trotzdem nicht egal für mich sein, denn nichts, was ich tue oder getan habe, ist oder war egal, deswegen aber noch nicht unbedingt wichtig. Was ist wichtig in einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät? Ist es tatsächlich so, dass unsere Welt in Gefahr ist, oder ist nur die Wirklichkeit, unsere Vorstellung der Welt, wie sie sein sollte, im Zusammenbruch begriffen? Überall bröckelt der Verputz, die Fassade zerfällt, das Kartenhaus wackelt. Sie spüren das, ich spüre das. Wachstum, Beschleunigung, Expansion, Fortschritt, Wohlstandsvermehrung, Konsumzwang, Reglementierung, Überwachung, Finanzskandale, Arbeitslose. Das alles und vieles mehr liegt schwer auf unseren Herzen. Oder besser: Es liegt nicht, es lastet auf unseren Herzen, Verunsicherung und Angst hat nun auch die »Insel der Seligen« erreicht. Seit Tagen zieht eine für unsere Generation – die Generation der Macher und des Erfolgs – bislang unbekannte Welt durch unser Land, unseren Kontinent. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor dem Leid und suchen ihr Glück in Europa. Sie suchen in der Regel Schutz und Sicherheit, manche von ihnen suchen vielleicht Streit und befinden sich im heiligen Krieg mit unserer »heilen Welt«. So oder so, ist das nicht beschämend, eine Schande für unsere ach so zivilisierte Kultur? Wie auch immer, sowohl tatsächlich verfolgte als auch gewaltbereite Menschen aus einem fernen Teil der Welt sind plötzlich Teil unserer Wirklichkeit. Plötzlich? Unerwartet? So als wär der Flüchtlingsstrom eine unvorhersehbare Naturkatastrophe, ein Tsunami, der unsere Küsten über Nacht erreicht und die Regierenden wie ein Blitz getroffen hat? Oder ernten die schon lange industrialisierten Länder Europas nun gerade, was sie gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika gesät und fleißig »bewirtschaftet« haben?

Wobei Europa in diesem Fall den Erntehelfer gibt und die USA den Großgrundbesitzer mimen. Gerade vor einigen Minuten war ein Beitrag im Radio zu hören. Ö1, ein Qualitätssender, brachte in »Saldo, dem Wirtschaftsmagazin« einen Bericht über die wirtschaftlichen Folgen der Migration nach Österreich. Erwiesenermaßen, so die Experten, kurbeln Migranten die Wirtschaft an, sie steigern das BIP und sorgen für Wirtschaftswachstum. Das klingt plausibel, denn Menschen, die bei uns arbeiten, geben dann bei uns auch ihr Geld aus, nehmen eines Tages Kredite auf und bezahlen brav ihre Steuern und natürlich Zinsen.

Warum denkt ihr Experten nicht weiter, warum nur hört euer Denken am Tellerrand des angelernten Wissens auf? Mehr Wachstum = mehr Wohlstand! Mehr Wachstum ist aber auch mehr Verbrauch. Verbrauch von Rohstoffen und Energie. Um Zugriff auf Rohstoffe und Energie zu bekommen, muss man expandieren – was für ein schönes Wort für Plündern, Rauben und Morden. Unseren Glauben an Wohlstand durch Wachstum bezahlen viele mit dem Leben. Menschen, Tiere und Pflanzen – das Leben an sich fällt dem Wachstum zum Opfer. Mehr Wachstum = mehr Verbrauch = mehr Krieg um Ressourcen = mehr Leid. Noch hat der Krieg uns nicht erreicht, noch schlagen wir uns hier noch nicht die Schädel ein, aber der Krieg der Ideologien, der Weltbilder und der Überzeugungen kommt wieder ins Rollen. Die ideologischen Einsatztruppen rüsten sich bereits, alle schreien nach effizienten und raschen Lösungen, jeder möchte das Kartenhaus auf seine Art vor dem Zusammenbruch bewahren. Jeder meint es gut, gut aus seiner Sicht. Man möchte der angespannten Situation Herr werden und konzentriert sich voll und ganz auf die Bekämpfung von Symptomen.

Darüber ist zur Zeit viel zu hören und zu lesen. Sei es im Bezug auf die Flüchtlingsströme, auf die imperialistischen Stellvertreterkriege, auf die Auswüchse eines aufgeblähten Finanzsystems, die Zerstörung unserer Umwelt oder die wachsende Umverteilung von »fleißig« zu »reich«. Wie wenig hört man aber über die Ursachen, wie wenig denken wir über unser Denken nach? Jenes Denken, das die Welt, in der wir leben, erschaffen hat. Wir lehren die Kinder noch immer, was sie denken sollen, aber nicht, wie man denken könnte. Man kann einen lebendigen Organismus, einen in ständiger Bewegung befindlichen Prozess, wie es unsere Welt ist, nicht mit Wundpflastern heilen, die Situation mit den selben Mitteln verbessern, mit denen wir sie zyklisch verschlechtern.

Das Denken, Sprechen und Handeln von Menschen begleitet mich seit fast 35 Jahren beruflich. Um als Schauspieler Menschen spielen zu können, muss man versuchen, sie zu verstehen, die Funktionsweise ihres Denkens zu begreifen. Bleibt man an der Oberfläche an den Symptomen hängen, liefert man nur eine Karikatur ab. Versucht man, das Denken der Figur zu verstehen, so wie sie zu denken, dann hat man viel über das eigene Denken gelernt, und die Figuren verlieren immer mehr an Bedeutung. Die Beobachtung der eigenen Denkmuster schiebt sich in den Vordergrund. Was bin ich eigentlich, jenseits meines Denkens?

Die Antwort darauf habe ich bislang noch nicht gefunden, vielleicht ist sie ja auch nicht so wichtig. Denn was ist schon wichtig?

18. September 2015. Valentino Rossi führt mit einem Vorsprung von 23 Punkten vor Jorge Lorenzo die Motorrad-WM an. Nächstes Wochenende ist der Grand Prix von Aragon, und ich werde vorm Fernseher sitzen und mit Valentino mitzittern. Ganz einfach, weil es mir wichtig ist.

Ach ja, und eines noch zur Vergeschlechtlichung in diesem Buch: Manchmal habe ich es zur schwereren Lesbarkeit gemacht, manchmal nicht. Mir selbst ist das nicht wichtig. Falls es Ihnen wichtig ist, dann gratuliere ich Ihnen. Sie sind eine Glückspilzin, denn was ist es für ein Glück, wenn man sonst keine Sorgen hat und dadurch die Freiheit genießt, Buchstabenkombinationen Wichtigkeit zu geben. Vieles ist aus der Sicht eines Mannes erzählt. Warum? Vielleicht weil ich ein Mann bin und die Welt nur aus meiner Sicht wahrnehmen kann.

Das ist etwas, was wir beide, lieber Leser, liebe Leserin, teilen, und das ist doch ein guter Anfang, oder?

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Nachwort

Erstes Buch Die Welt, wie sie ist

KAPITEL 1 – Leben

 

Sind Sie allein?

Ein Leben

I bin i und Se san Si

Kleine Götter?

Von Leben umgeben

Die Indianer lagen gar nicht so falsch

Die Wahnsinnigen

Zehn Seiten einfach nur Leben

Früher …

UNTERliebt, Herr Prehsler?

Die Affen erheben sich

Der Neandertaler hatte die Zeit

Prehslers Tag hat 23 Stunden

KAPITEL 2 – Geburt

Sie waren vor Ihrer Geburt schon da

Prehslers Speisekarten des Lebens

Ich – Mich – Mein

KAPITEL 3 – Heranwachsen

Erfahrung = Erkenntnis

Was Prehsler gesagt hat, tut hier nichts zur Sache

Wissen und Weisheit

Nichtraucherkampagne

Du lernst nicht für die Schule, …

KAPITEL 4 – Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme

Unsere Triebe

SEXualität

Der Tiger im Tank

Das Sättigungsgefühl

Ernährungswissenschaft

Verdauen und Entgiften

KAPITEL 5 – Überlebensangst

Löwenmut = Löwenangst

Säbelzahntiger

Freiheit auf Rädern

KAPITEL 6 – Krankheit

Die chronische Krankheit

Die entzündliche Krankheit

KAPITEL 7 – Tod

Heben wir uns den Tod noch etwas auf

Zweites Buch Die WIR-klichkeit

Zur Erinnerung

Loslassen

Abgeblitzt

Wer ist WIR?

Sie sind ganz sicher einer von den anderen, wenn …

Hätten wir auch einen festen Klescher, wenn wir allein wären?

Der schwarze Mann

Warum verhalten sich Eltern eigentlich so, Herr Prehsler?

Die Macht der WIR-klichkeit

80 Liegestütz in der Sauna

Die Erklärung der Welt

Prehslers »Nicht genügend« in Mathe

Bin ICH, weil ich denke?

Gibt es Gott?

Die Schlösselgasse

Unsere Tierliebe

Gesetzlos?

KRK

Die Natur des Menschen

Planetenretter?

Menschenkraftwerke

Haben wollen!

Herr Prehsler möchte nicht mit einem Faustkeil einen Reifen wechseln

Fortunat, der Hasenmagnat

Wollen und Brauchen

Ich bin Kapitalist

Sie tun Ihre Arbeit

Das Arbeitsamt – Flaschen schaffen Arbeitsplätze

Sinnlose Arbeit

Ein faires Angebot

Gesteuert durch Steuern

Ich habe nichts von meinen Einnahmen an den Staat abgeliefert

Reich werden durch Arbeit

Reich und Arm

Vielleicht ist es gut so, wie es ist?

Freizeit?

Das Semmerl

Meine Bank

Schulden machen! Schuldlos?

Ferdinand Ochsenhofer

Was halten Sie jetzt gerade in Ihrer Hand?

Zehn ÖS

Da Wimma Bertl

Punkterln in einem Computer

Drittes Buch Zwischen den Welten

Kehren wir nun zu den einfachen Fragen zurück …

Big John

Das Zentrum des Universums

Der »Blade Willi«

Intelligenz

Das österreichische Selbstwert-Notfall-Pack

Der Kaiser ist nackt!

Der Notfall

Royal Flush

Ihre Entscheidung

Eigennutz

Unser Weltbild?

Steht der Schwanz, steht das Hirn

Denken und Handeln

Wichtige Informationen?

Das eitrige Nilpferd

Ich hab’ Sie lieb

Wer hat wann und wo an welcher Zitrone geschleckt?

Der Osterhase

Die Glaubensfrage

Bist Austrianer oder Rapidler?

Glaubensgeschichte

Auszüge aus Prehslers Kirchen-Marketing-Geschichte

Wer ist gerade am Ball?

Apokalypse

Geheimreligionen

Christliche Kultur?

Wollen, was wir sollen

Softporno

Haben Sie Zeit?

Die Zeit verrinnt

Ich werde niemals in meinem Leben:

Wir drehen uns im Kreis

Du kannst mich heute einmal

26. Juli 2015 – Das Ende naht

Der schöne Tod

Sie sterben jetzt nicht!

… ein guter Tag zu sterben?

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Das ist Eugen Prehsler

Ich will nur DANKE sagen.

Bücher, die Sie nicht ungelesen lassen sollten

Erstes Buch

Kapitel 1 – LEBEN
Sind Sie allein?

Lassen Sie mich an dieser Stelle mit einem Zitat beginnen, denn Zitate lassen den Autor klüger erscheinen, als er eigentlich ist.

 

»Je mehr eine Kultur begreift, dass ihr aktuelles Weltbild eine Fiktion ist, desto höher ist ihr wissenschaftliches Niveau.«

Und lassen Sie mich nun aus dem Zitat ein wenig Unterhaltung für Sie machen, schließlich kann man ja heute aus allem Unterhaltung machen. Gut eignen sich dazu politische Diskussionen, Nachrichten, historische oder wissenschaftliche Dokumentationen, aber auch halblustige Pseudofachliteratur wie dieses Buch. Manipulation, gut gekleidet im Informationsmäntelchen mit Unterhaltungswert. Manchmal liegt ihr Wert nur in der Unterhaltung, das reicht aus, um die Unterhaltungskonsumenten »unten zu halten«. Wissen kann als Ratespiel unterhalten. Heben wir also den Unterhaltungswert und machen wir aus dem Zitat ein Quiz. Was glauben Sie, wer hat diesen klugen Satz gesagt? War es:

a) der Dalai Lama

b) Albert Einstein

c) Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner, oder

d) der Dakota-Häuptling »Crazy Horse«?

Und das wird jetzt nicht gegoogelt, da müssen Sie allein draufkommen. Vorausgesetzt Sie sind allein. Also ich bin nicht allein. Werfen Sie nur einen Blick auf das Coverfoto dieses Buches und schauen Sie mich doch einmal an. Ganz ehrlich »Ala is der Typ net«. Und wenn ich Sie mir ein wenig genauer ansehe, muss ich ehrlich sagen: »Sie sind auch nicht wirklich allein.« Machen wir uns doch nichts vor, wir haben beide unsere stillen Begleiter dabei. Unsere Erwartungen zum Beispiel. Ihre Erwartungen an dieses Buch kenne ich nicht, möchte ich eigentlich auch gar nicht kennen. Denn es könnte durchaus sein, dass Ihre Erwartungen meine Erwartungen zerstören könnten. Und das möchte ich so gut es geht vermeiden. Ich werde mir doch nicht von Ihnen meine Erwartungen zerstören lassen. Da ist es doch besser, wenn ich Ihre Erwartungen zerstöre und damit meinen Erwartungen gerecht werde. Jetzt wollen Sie sicher wissen, was ich mir von unserer Begegnung, unserem Dialog erwarte? Offen gestanden, nicht viel. Was ich mir schon erwarte, ist, dass Sie nicht dazu gezwungen wurden, dieses Buch zu lesen. Sie wissen, worauf Sie sich durch den Kauf dieses Buches eingelassen haben. Sie haben insgesamt drei Vorträge und damit fünf Jahre Zeit gehabt, sich zu informieren und auf unseren Dialog vorzubereiten, und es war Ihre bewusste, freie Entscheidung, dieses Buch zu lesen. Es sei denn, Sie lesen es aus beruflichen Gründen, als Lektor, Verleger, Kritiker oder Mitglied des Verfassungsschutzes. Oder aber es handelt sich für Sie um einen gesellschaftlichen Zwang: ein Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk. Aha … ich verstehe. Leider gibt es oft sehr unüberlegte Geschenke, aber Kopf hoch, vielleicht gibt es nächstes Jahr wieder einen Büchergutschein, und Sie dürfen dann selbst eine Entscheidung treffen.

Falls es Ihre eigene Entscheidung war, dieses Buch zu kaufen, um es zu lesen, Sie sich nach wenigen Seiten eingestehen müssen, dass es trotz Ihrer Überzeugung eine falsche Entscheidung war und Sie damit den Glauben an sich selbst verlieren sollten, dann sind wir auch schon bei einer der vielen Fragen, die ich Ihnen als Leser oder Leserin und mir selbst stellen möchte:

»Glaube ich nur das, was ich sehe, oder sehe ich nur das, was ich glaube?« Die Antwort darauf zu finden ist an sich ein Leichtes. Aber machen wir zwei es uns nicht unnötig leicht, sondern denken wir gemeinsam zuerst über das Leben nach. Was ist das eigentlich, ein Leben?


Ein Leben

Da sitzt so ein menschliches Wesen auf einem Stein und beobachtet die vorbeiziehenden Wolken. Mehr hat es nicht zu tun. Weil es eben jetzt, in diesem Moment, seine Bestimmung ist, auf einem Stein zu sitzen und vorbeiziehende Wolken zu beobachten. Und dafür braucht es nichts. Nicht einmal einen Namen und auch kein »Ich«.

Abertausende Jahre später ziehen noch immer die Wolken am Himmel vorbei und der Stein ist noch immer derselbe. Aber er ist leer, denn das menschliche Wesen hat jetzt einen Namen, und sein »Ich« ist jetzt gerade auf der Suche. Auf der Suche nach seiner Bestimmung, auf der Suche nach dem Sinn. Sinn und Bestimmung findet man bekanntlich nicht, indem man blöd auf Steinen herumsitzt. Dazu muss man schon etwas tun, da reicht es nicht, einfach nur auf einem Stein zu sitzen und in die Luft zu schauen. Sinn und Bestimmung muss das menschliche Wesen erst finden, und um zu finden muss man oft lange suchen. Oft sucht man in der Zukunft, dort wo ja alles einmal besser wird. Wenn dieses menschliche Wesen keine Mühen, Entbehrungen und Kämpfe scheut, mit ein wenig Glück und Fügung, wird es dann eines Tages seine Bestimmung gefunden haben. Es wird auf einem Stein sitzen und die vorbeiziehenden Wolken beobachten, weil es seine Bestimmung ist, jetzt gerade auf einem Stein zu sitzen und vorbeiziehende Wolken zu beobachten. Bis zu dieser Erkenntnis ist es aber noch ein langer Weg. Manchmal dauert er ein Leben oder, wie manche meinen, viele Leben lang.

I bin i und Se san Si

Haben Sie Angst, Ihr Leben zu verlieren? Nicht jetzt, während Sie diese Zeilen lesen, aber irgendwann in einer fernen Zukunft? Wenn ja, dann erlauben Sie mir, Ihnen diese Angst zu nehmen. Ganz einfach, weil es unmöglich ist, das Leben zu verlieren. Denn dies würde ja bedeuten, dass Sie eines Tages Ihr Leben verlieren, und Sie selbst sind noch da, um sich darüber zu ärgern, das Leben verloren zu haben. Das kann schon deswegen nicht passieren, weil wir beide gar kein Leben haben. Wir sind ein Leben. Möglicherweise ein ewiges, aber das ist bislang noch nicht bewiesen. Das, was wir so gerne als unser Leben bezeichnen, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung lediglich als unsere Lebensgeschichte, mit welcher wir uns dummerweise oftmals identifizieren, sie damit über das Leben stellen und dabei vergessen, was wir sind: Leben, das leben will, inmitten von anderem Leben, das auch leben will. Und das eint uns mit all den anderen Leben auf diesem Planeten.

Das, was wir fälschlicherweise als unser Leben betrachten, sich aber bei genauerer Betrachtung lediglich als unsere Geschichte entpuppt, ist vergleichbar mit einem Sprung von einem Hochhaus, der ungefähr 80 Jahre dauert. Es beginnt mit der Geburt, der Entscheidung zu springen, und endet mit dem Asphalt, dem Tod. Wobei natürlich so mancher dazwischen, an einer übersehenen Fahnenstange, einem offenen Fensterflügel und, wenn es ganz blöd hergeht, am F der Immofinanz-Leuchtbuchstaben hängen bleibt und dadurch schon vorher den Löffel abgibt oder dabei zumindest bewusstlos und in schwerer Ohnmacht vom Gehsteig zertrümmert wird. Bei manchen setzt diese Bewusstlosigkeit schon sehr früh ein. Und wenn ich früh schreibe, dann meine ich auch früh. Manche schlagen sich ja schon beim Absprung den Kopf so ungeschickt an der Dachkante an, auf dass sie ihre Lebensgeschichte in tiefer Bewusstlosigkeit verleben, ohne jemals gelebt, gespürt und sich selbst erfahren zu haben. Worum es im ersten Teil des Buches geht, ist allerdings das Leben, das wir unabhängig von unserer Geschichte, unabhängig von unserem Verstand und unserem ICH sind.

»Aber ich bin doch ICH. Da ist kein anderer, da bin nur ICH. In mir bin nur ICH. Was soll ich sonst sein außer ICH, das, was ich aus mir gemacht habe. I bin i und Se san Si.«

Aber glauben Sie mir: Ich bin nicht ich, und Sie sind nicht Sie. Wir beide haben ein Ich, wir sind aber keines. Wir haben beide ein Ich, weil wir es durch unser Denken konstruiert haben. ICH ist ein Konstrukt, die Summe unserer Erfahrungen, abhängig von äußeren Umständen.

Überlegen Sie, wenn Sie zu sich sagen: »I bin a festa Trottl«, und damit in der Situation natürlich recht haben, wer spricht da? Was in Ihnen weiß, dass ICH ohne Zweifel ein ziemlicher Idiot ist. Es ist das, was übrig bleibt, wenn Sie eines Tages Ihr ICH verlieren sollten.

Haben Sie schon jemals in der Vergangenheit Ihr ICH verloren? Wenn Sie sich nicht sofort daran erinnern können, hat es keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn dann sind Sie mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit noch nie Ihres ICHs verlustig gegangen. Denn daran würden Sie sich in der Sekunde, ohne nachzudenken, erinnern. So etwas vergisst man nicht. Ich selbst habe mein ICH schon mehrmals verloren. Als Motorradfahrer passiert es fallweise, und das im wahrsten Sinn des Wortes, dass man sich vom Gerät trennt, und das oftmals unfreiwillig. Während sich das Motorrad in der Botanik kalt verformt, kann es schon vorkommen, dass, ausgelöst durch einen dumpfen Aufprall des Kopfes, der FI-Schutzschalter fällt und sich das Bewusstsein kurzzeitig verabschiedet. In der Regel springt dieser Schutzschalter wieder von selbst rein, und man wacht auf, abseits der Fahrbahn, neben einem verbogenen Eisenhaufen, und hat keine Ahnung, wo man sich gerade befindet.

»Was mach ich da? Wo bin ich hier? Wem gehört das verbogene Motorrad? Wie heiß ich eigentlich? Wer bin ICH?«

Alles ist weg. Kein Name, keine Geschichte, kein ICH. Aber du bist zweifellos da. Und genau in diesem Moment ist man dort, wo wir zwei schon einmal waren, aber wir können uns nicht mehr daran erinnern, weil es für Sie und mich schon sehr lange her ist. Für mich war es konkret die Zeit nach dem 31. Oktober 1963.