IM FADENKREUZ

Text
Aus der Reihe: Blackshaw #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

übersetzt von Tina Lohse

Copyright © 2013 by Robert Blake Whitehill</p><p> All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

For my precious Mary


Impressum

überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: NITRO EXPRESS

Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Tina Lohse

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-618-4

Du liest gern spannende Bücher? Dann folge dem LUZIFER Verlag auf

Facebook | Twitter | Google+ | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an info@luzifer-verlag.de meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

TEIL I

Kapitel 1

Der Mord war spektakulär. Obwohl unmittelbar darauf die gängigen Nachrichtenproduzenten und ihre Geldgeber davon absahen, es ein Attentat zu nennen, reagierten die ergebenen, manche würden sagen fanatischen Fans von Lucilla Calderon, als wäre Kennedy vor ihren Augen erschossen worden. Verglichen mit Calderon war der Tod des kurzlebigen Tex-Mex-Stars Selena lediglich eine Bagatelle gewesen.

Menschen, die Tragödien anziehen, sind leicht zu erkennen. In den schlimmsten Fällen leiden sie unter der Furcht, dem Untergang allein entgegenzutreten. In dieser Nacht zerbrach sich La Luz, wie sie genannt wurde, über nichts weiter den Kopf als ihr Make-up und die Busca-Novio-Schmachtlocke, die sich von ihrer linken Schläfe zu lösen drohte. Sie war sicherlich nicht allein an diesem Abend. Dank ihrer Liebhaber und ihres Gefolges von Assistenten hatte sie seit einigen Jahren keinen abgeschiedenen Moment erlebt, abgesehen von einigen, aber nicht allen Toilettenpausen. Heute Abend erwartete sie, bei der Hollywood-Premiere ihres Films in der Gesellschaft bewundernder Fans zu baden. Sie fühlte, dass der Abend umwerfend werden sollte.

Lucilla Calderon war ganz groß. Galaktisch. Mit vierundzwanzig war sie eine Ausnahme-Künstlerin, die tief mit traditioneller lateinamerikanischer Musik verwurzelt war, diese aber mit modernen Texten und funkigen, tanzbaren Technoarrangements kombinierte und dieser Mischung ihren Erfolg verdankte. Sie schrieb meistens über die Probleme des Volkes; sprich, jeder, der mit zwanzig noch kein Multimillionär war. Sie beherrschte Krumping, Pop & Lock oder Tango, je nachdem, welchen Stil ihr Musikvideo verlangte. Jeder Pieps, den sie in den letzten sechs Jahren geäußert hatte, erklomm die Top Five der großen Popmusik-Charts, wobei die meisten es auf den ersten Platz schafften. Ihre Fangemeinde erstreckte sich über den ganzen Globus. Es gab einen Astronauten auf der International Space Station, ein Biologe, der bekanntlich Calderons Songs spielte, während er an seinen Experimenten arbeitete. Schon diese Geschichte allein sprudelte auf den großen Fernsehsendern durch mehrere Nachrichtenzyklen.

Und doch war La Luz, oder Das Licht, wie Journalisten in Ignoranz jeglicher Subtilität und Finesse eilig übersetzt hatten, auf dem Boden geblieben. Das behaupteten ihre begeisterten Fans. Sie war eine von ihnen. Sie zelebrierte ihre Herkunft mit einer wilden Art von Würde, was eine der züchtigeren und doch meistverkauften Bilderreihen im Playboy Magazine des letzten Jahrzehnts beinhaltete.

Und nun hatte sie die Hauptrolle in ihrem ersten Film. Dieser hieß Ganar – Sieg. Er handelte von einer mutigen, großherzigen Revolutionsführerin und ihrem Freiheitskampf in einer fiktiven südamerikanischen Inselnation. Calderon spielte die charismatische Walküre, wie Evita, die aber nicht durch den Tod ihres Ehemannes an die Macht gelangte, sondern durch eigene Initiative und Integrität, indem sie grundverschiedene politische und sozioökonomische Fraktionen vereinte und in eine unschlagbare Rebellentruppe verwandelte. Der Streifen war mit einem gewissen Maß an Gewalt und einem Liebesdreieck mit einem Genossen und einer Genossin gewürzt, und während das von den Spießern noch als schockierend gewertet wurde, hatte sie damit bei den offeneren Kritikern, auf die es ankam, Punkte gesammelt. In einer unrealistischen Wende hält ihre Figur gleich, nachdem sie die faschistische Opposition bezwungen hat, Mehrparteienwahlen ab, die von europäischen Beobachtern als ehrlich und fair bewertet werden, und übernimmt die Führung ihrer frischgebackenen Demokratie. Luz war George Washington, aber mit ihren eigenen Zähnen und ohne jegliche Implantate, sofern man ihrem Publizisten Glauben schenken konnte.

Vorankündigungen für Ganar in den Printmedien, der Blogosphäre, dem Twitterversum der sozialen Medien und in Film- und Fernsehmagazinen sagten dem Film atemlos die allerhöchsten Auszeichnungen bei den großen Preisverleihungen voraus. Luz war im Begriff, das glorreiche, medienübergreifende Schicksal zu erfüllen, das Selena auf so tragische Weise versagt worden war.

Nach einem glanzlosen Jahr für die Filmindustrie garantierte die Filmpremiere im Dolby-Theatre in Los Angeles dem Projekt einen phänomenalen Erfolg an den Kinokassen am folgenden Wochenende. Das kleinere Graumans Theatre eine Ecke weiter war für diesen Anlass kurzzeitig in Erwägung gezogen worden, wurde aber als zu klein wieder verworfen, und weil es zu sehr an eine längst vergangene Hollywood-Ära erinnerte, die damals vom weißen Establishment dominiert worden war.

Es war eine gute Entscheidung. Innerhalb einer halben Stunde nach Ankündigung der Premiere war fast jeder der 3332 Plätze des großen Kinos vergeben, ausgebucht von Hollywoods Schönsten und Mächtigsten, sowohl vor als auch hinter der Kamera. Die Normalsterblichen überschwemmten jegliche Götter oder Halbgötter der Filmindustrie, die auch nur die geringste Verbindung mit der Produktion oder dem Vertrieb des Films hatten, mit aufgeregten Anfragen, ob man ihnen nicht Zutritt verschaffen könnte. Selbst die unbedeutenden Filmautoren, alle acht von ihnen, ob nun im Abspann gewürdigt oder nicht, bekamen Angebote für großzügige Geschenke, Drogen, Bargeld, Reisen und sogar Sex, wenn sie sich nur von einem einzigen Ticket trennen oder eines auftreiben könnten.

Ein paar glückliche Mitglieder der breiten Masse bekamen genau das, was sie wollten, ohne ihre Seelen zu verkaufen. Luz Calderon hatte darauf bestanden, dass fünfhundert Plätze für das Volk reserviert wurden, und verteilte sie unentgeltlich durch ein Gewinnspiel auf speziell markierten Flaschen und Dosen des Softdrinks AzteKola; ungültig, wo gesetzlich verboten, kein Kauf erforderlich. Wenn man mal einen Moment vergaß, dass das sprudelnde, süße Getränk ursprünglich in Mexiko in den Dreißigern von einem weißen Einwanderer aus Kansas erfunden worden war. Diese Geste, von manchen Zynikern als aalglattes Manöver bezeichnet, hatte einem Star, der ohnehin schon nichts falsch machen konnte, noch mehr berauschte Pressestimmen verschafft.

Luz Calderons volksnahe Art machte ihren Gefolgsleuten zu schaffen. Sie mied die aufgepumpten Sicherheitsdienste, auf die so viele Prominente der Industrie bestanden. Der Premierenabend im Dolby sollte keine Ausnahme sein. Ihr einziges Zugeständnis an Schutz vor Verrückten, denn nur Geistesgestörte könnten La Luz wehtun wollen, war ein Trio unbewaffneter Cholo-Freunde, die sie seit Kindergartentagen damals in East L.A. kannte. Auf Luz' Forderung hin hatten diese drei Männer öffentlich sämtliche Gang-Zugehörigkeiten aufgeben müssen, bevor sie sie in den Dienst stellen würde. Die Presse war begeistert. Verschlang es. Heute Abend war Luz also allein, und das gefiel ihr so. Es gab keine künstlichen Barrieren, da sie nicht den Drang verspürte, sich von genau den Leuten zu distanzieren, die sie liebten und die wiederum sie liebte, jeden Einzelnen von ihnen. Letztendlich war es auch egal. Selbst wenn La Luz die entschlossene, zusammengewürfelte Rebellenarmee, die ihre Figur im Film befehligte, rekrutiert hätte, hätte es keinen Einfluss auf den Verlauf des Abends gehabt.

Die Anwesenheit von Luz' drei Kumpanen hielt die Polizeibehörde von L.A. nicht davon ab, zusätzliche Beamte für den Abend abzustellen. Viele davon. Es gab die übliche Machtdemonstration entlang mehrerer Blocks rund um das Kino, eine lockere Kette aus Uniformen, angefangen am West Sunset Boulevard südlich, North La Brea westlich, Franklin Avenue im Norden und North Las Palmas im Osten. Es gab noch mehr uniformierte Beamte auf den Straßen um das Kino herum und sie wurden unterstützt von Zivilpolizisten, die aus den Valley-, Central- und Südbezirken kamen, um das Sternchen des Volkes nicht mit einer offensichtlichen Polizeiinvasion in der Gegend zu verärgern.

 

Hausdächer waren ein anderes Problem. Jedes Gebäude im Block des Kinos und unmittelbar daneben wurde von Scharfschützenteams gesichert. Ungewöhnlicherweise befand sich die Einsatzleitung für das Ereignis direkt auf dem Kino selbst, um weniger provokativ zu wirken. Das machte die Einsatzleiterin nicht sehr glücklich. Sie war eine praktisch veranlagte Beamtin, die sich von ihrer ersten Position als Streifenpolizistin heraufgearbeitet hatte, aber sie hatte sich daran gewöhnt, dass Pragmatismus neben den Launen der Berühmtheiten die zweite Geige spielte.

Obwohl sechs der zwölf Helikopter vom Typ Aérospatiale B-2 Astar der Luftunterstützungsdivision des LAPD in der Luft waren, kreisten sie fünf Meilen entfernt, damit die Gegend um das frühere Kodak-Theatre nicht aussah, als wäre während der Premiere eine Luftverfolgungsjagd im Gange. Es war eine zeitweilige Flugbeschränkung für die allgemeine Luftfahrt im Umkreis von zehn Meilen um das Kino erhoben worden. Die einzige Ausnahme war für fünf Presse-Hubschrauber gemacht worden. Sie waren mehr als willkommen, solange ihre Sender sich rechtzeitig um die Freigaben gekümmert hatten, und sie übermittelten die eigens für den Anlass ausgegebenen Freigabecodes auf ihren Transpondern. Wenn Luz Calderon etwas wollte, bekam La Luz es auch. Sie bekam mehr, als ihr lieb war.

Wie immer lag die größte Aufmerksamkeit um das Kino auf dem Hollywood-Boulevard. Kameratürme und Kommentatorenboxen waren über Nacht von Spitzenteams errichtet worden, von denen viele zwar wie Chaoten aussahen und sich nicht gerade zu überarbeiten schienen, die aber ihre Arbeit gleich beim ersten Mal richtig machten. Die Aufbauten waren mit Wimpeln in den Farben der Revolutionsarmee des Films dekoriert worden und bevölkert mit Kameramännern, damit sie die Totale des Promi-Aufmarschs auffangen konnten. Kamera- und Tonteams für die Nahaufnahmen und Moderatoren der Sender tummelten sich in Rudeln entlang der abgeteilten, mit Teppich ausgelegten Gasse, die zu der außen gelegenen Vorbühne am Eingang führte.

Die Einschaltquoten eines Senders hatten Einfluss auf die Position seines Interviewers. Andere Crews schnappten sich weniger begehrte Stellen, an denen die Elite passieren und Kommentare abgeben musste. Dies war ein spezielles Ereignis für die Bevölkerung, aber für die Gewerkschaftsarbeiter, die es verwirklichen mussten, war es nur wenig mehr als eine Trockenübung. Sie hatten es gerade für die große Preisverleihung im Februar ein paar Wochen zuvor vollbracht. Diese leicht zurückgeschraubte Veranstaltung gleich im Nachhinein war ein Leichtes.

Eine Hürde für die Prominenten während ihres Eintreffens war es, sich immer wieder neue Formulierungen dafür auszudenken, wie die Arbeit an Ganar sie in einem fortwährenden Zustand des emotionalen Orgasmus gehalten hatte, dass mit jedem Beteiligten, vor allem mit Luz, traumhaft zu arbeiten war, und dass Ganar das wichtigste Projekt ihres Lebens und das aller anderen war. Autoren standen schon seit Wochen auf Abruf, um perfekte Sieben-Sekunden-Sätze für die Filmgötter zu produzieren, die es vorzogen, diesen Spießrutenlauf nicht aus dem Stegreif zu absolvieren. Mit den üppigen Honoraren konnten die Schreiberlinge beinahe Tiaras erstehen, entweder die mit Juwelen besetzte Sorte oder die Glasfaserrennboot-Variante mit den Doppeldieselmotoren. Große Eröffnungen führten zu großen Geschäften in der ganzen Stadt.

Es wurde langsam Zeit für den Vorstellungsbeginn. Inzwischen hatten die meisten der anwesenden Stars, Regisseure, Agenten, Manager und Produzenten in die Mikrofone auf dem roten Teppich gesprochen. Sie glitten nun an den Theken vorbei, an denen sie Flöten mit Cristal-Champagner grapschten wie ausgelaugte Marathonläufer, die den Freiwilligen Wasserbecher entrissen. Die fünfhundert Gewinnspielsieger standen immer noch auf dem Hollywood-Boulevard. Sie würden nach La Luz' Ankunft hineingehen, deren Wagen zuletzt ankam. Sie verstand, wie wichtig es war, gespannte Erwartung aufzubauen und einen großen Auftritt hinzulegen. Es war ihr Abgang, an den sich alle erinnern würden.

Heute Nacht sah La Luz wie eine Königin aus. Die Augen waren mit schwarzem Mascara hervorgehoben, die Lippen glänzend rot, die widerspenstigen Schmachtlocken gebändigt. Sie trug einen Mantilla-Kamm in ihrem Haar, ein türkisfarbenes Oberteil mit Nackenträger und enge schwarze Mariachi-Hosen mit Silberknöpfen, die von der Hüfte zu dem engen Saum gleich unter ihrem Knie gingen. Ihr einziges Schmuckstück war ein wunderschöner, türkisfarbener Anhänger, fünf Zentimeter breit an einer langen, silbernen Venezianerkette auf Höhe ihres Brustbeins zwischen ihren kleinen, der Schwerkraft trotzenden Brüsten. Luz war jedermanns ruca, die wahre Liebe.

Sie steuerte auf das Kino zu in einem leuchtend neongrünen Lowrider, einst ein '58er Ford Fairlane Skyliner mit abnehmbarem Verdeck. Sie führte eine Prozession weiterer auffällig umgestalteter Wagen an, die hüpften und hopsten und tanzten, die Kofferräume voll mit 72-Volt-Batterien für die hydraulischen Heber an jedem einzelnen Rad. Aus dem Auto hinter Luz dröhnte das Titellied des Films, das sie selbst geschrieben hatte. Die Fenster der naheliegenden Gebäude pulsierten und bogen sich im Takt mit der Bassline und drohten, breite Fensterscheiben wie Guillotinen in die Straßen zu entsenden.

La Luz' Parade aus Lowridern hatte bereits mehrere Runden in den Straßen außerhalb der Polizeikette absolviert, allein zur Freude der fröhlichen Menge des Volkes, von denen manche ihre eigenen Gründe dafür hatten, mit der Polizeiaufwartung in der Nähe des Kinos nicht auf Tuchfühlung zu gehen. Crips und Bloods sowie die Black P-Stones, Los Zetas und Mara Salvatruchas, die MS-13, waren in ihren Farben präsent, aber der Waffenstillstand, den Luz unter ihnen für den Anlass ausgehandelt hatte, schien zu halten. Sie wurde auch im wahren Leben langsam zu ihrer Filmfigur; die große Vereinigerin. Ihre Revolution war bereits im Gange.

Endlich war es so weit. Die neun Parade-Lowrider stahlen sich davon, um sich auf der Sycamore Avenue außerhalb der Polizeikette aufzustellen, wo sie nach der Vorstellung wieder zu ihnen stoßen wollte. Es waren einige After-Partys angesetzt und sie hatte vor, bei jeder dieser Partys mit ihrem vollen Konvoi anzurücken. Luz' Skyliner hielt weiter auf das Kino zu, aber natürlich war er nicht allein.

Eine Schar überprüfter Paparazzi-Cabrios und Motorräder rückte nach, um die Lücke zu füllen, die von den neun Lowriders hinterlassen worden war. Blitzgeräte von unzähligen Kameras machten aus der Nacht helllichten Tag. La Luz' Auto hüpfte nun nicht mehr, damit sie vor dem Kino auf der Kofferraumklappe sitzend vorfahren konnte, die Beine drapiert über der Rücksitzrückenlehne, ohne wie ein Rodeoreiter abgeworfen zu werden. Sie war wie ein wunderschönes Wildtier, das den Jägern von lauten Treibern in die Fänge getrieben wurde.

Luz' Auto kam vor dem Kino zu stehen. Ihre Fans kreischten. TV-Sprecher in Abendkleidern und Smokings checkten ihre Positionen und warfen flüchtige Blicke auf ihre Kamerateams. Bereit.

Die ohrenbetäubende Explosion kam mit einer solchen Sprengkraft daher, dass die Druckwelle jedem im Umkreis von zweihundert Metern in die Brust fuhr. Luz' Oberkörper zerteilte sich in grobe Stücke und die Bröckchen flogen in hohem Bogen davon. Ihre Hüfte und Beine blieben im Rücksitz des Wagens. Begeisterte Fans, überglücklich, für die Chance auf ein Autogramm ausgesucht worden zu sein, wurden auf dem Asphalt in blutigen Fetzen aus Fleisch niedergemäht. Das Licht erlosch für immer, aber erst nach einem nassen Blitz aus Rot.

Kapitel 2

Tote Männer sollen in Frieden ruhen. Sie erzählen keine Geschichten. Sie geraten bald in Vergessenheit, trotz der tiefen Furchen in ihren Grabsteinen. Ben Blackshaw, seit den letzten vier Monaten der Welt entschwunden, war eigenartig nervös. Das sollte nicht so sein. Er sollte so etwas wie diese Unruhe, die über seine Haut kroch und ihm die Nackenhaare aufstellte, nicht spüren. Aber die Schrift war nun mal an der Wand und er erkannte die Handschrift wieder.

Der Winter im Greenwich Village war hart und kalt gewesen. Weihnachten und Neujahr waren an Ben vorübergegangen, mit wenig mehr als einem leeren Verlangen nach Menschen und Orten, die entweder zu weit entfernt lagen oder von denen er durch Tod und Zeit getrennt war. Sein Heimweh grenzte an Depression. Er hätte sich noch schlechter gefühlt, wenn die Arbeit nicht seine Tage und große Teile seiner Nächte beansprucht hätte. Er konnte nicht schlafen, war stets erschöpft. Er war nicht aus New York. Das Schnitzen neuer Vorlagen für die Wachsformen, die für seine ungewöhnlichen Aufträge nötig waren, genügte nicht, um ihn von dem Gefühl abzulenken, ein Fremder weit hinter den feindlichen Linien einer fremden Stadt zu sein. Ben war von Smith Island in der Chesapeake Bay und doch war Manhattan anders als jede Insel, die er je gekannt hatte. Es war überhaupt nicht wie zuhause.

Die Frühlingskälte hielt sich mit eisigen Krallen in den Schatten zwischen den alten Fabrikgebäuden fest. Die meisten Gebäude in der Gegend waren schon vor langer Zeit zu luftigen oder zugigen Räumlichkeiten umgebaut worden, je nachdem, ob man Makler oder Mieter war. Nun waren sie hochwertiger Wohnraum oder trendige, minimalistische Großraumbüros mit ums Überleben kämpfenden Einzelhandelsgeschäften auf der Fußgängerebene. Es war so früh am Tag, dass nichts geöffnet hatte.

Ben schleppte sich durch Vierundzwanzig-Stunden-Tage in einem unausgebauten Keller eines heruntergekommenen Gebäudekomplexes, der von den hungrigen Bauunternehmen geschmäht wurde, wegen einer belastenden Menge an ungeklärten Besitzansprüchen, gepfefferten Steuerrückständen, die niemand zahlen wollte, Gerichtsverfahren, Bauvorschriftsverstößen und Problemen mit der Bauordnungsbestimmung. Ein gesamtes fünfstöckiges Gebäude, dass unter Papierkram begraben war. Wäre er am Leben, hätte man Ben einen Besetzer genannt. Heute war er ein Geist.

Das hätte er zumindest sein sollen. Nun, im Gegensatz zu den vielen Toten, für die er selbst verantwortlich war oder deren Ableben er während des ersten Golfkrieges und auf anderen Einsätzen beobachtet hatte, anders als der Tote, der er eigentlich sein sollte, verspürte er Furcht. Das fasste es ganz gut zusammen. Ein flaues Gefühl im Bauch. Er hatte Angst.

Er war von seinen unruhigen Träumen vom Sonnenaufgang über der Chesapeake in dem kalten Kerker erwacht. Wie üblich war er an diesem Morgen aus dem versteckten Hintereingang seines Gebäudes gekrochen und vorsichtig sieben Blocks zu einem Imbissladen gegangen, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Er variierte seine Route täglich, wobei er manchmal ziemliche Umwege für einen schlechten Kaffee auf sich nahm, der auch durch Milch und Zucker nicht besser wurde.

Wenn das Heimweh besonders stark war, übertrug er die mäandernden Wasserwege und Ströme des Smith Island Archipels auf das winklige Straßenraster. Ein Bummel zum Drum Point Market zuhause auf Smith führte ihn stadtauswärts und auf die Westseite. Ein imaginärer Besuch im Haus seines guten Freundes Knocker Ellis bedeutete einen Marsch stadteinwärts und dann nach Osten. Er brach seine Fantasiepfade immer ab, bevor er seine eingebildeten Ziele erreichte. Es war sogar zu schmerzhaft für ihn, sich vorzustellen, wie seine Braut LuAnna seine Hand auf diesen Streifzügen hielt. Es würde keine wundersame Heimkehr in der verwitterten Smith Island Saltbox geben, die er sein Zuhause nannte. Kein Geplänkel mit seiner Frau. Keine Witze oder Sticheleien, die man mit Freunden teilte. Er landete immer in dem koreanischen Vierundzwanzig-Stunden-Imbiss, wo niemand jemals auf die Idee käme, Käse in den Kaffee zu tun, wie es auf Smith Island Brauch war.

Ben brauchte das Koffein nicht. Er wollte verzweifelt an die frische Luft, sofern sie in New York zu finden war. Kaffee zu holen, war lediglich eine Mission. Der Imbiss, ein Ziel. Sein Jäger-Verstand, von den Jahren im Militärdienst geschärft, funktionierte besser, wenn es einen Plan gab. Die Akkordarbeit seiner derzeitigen Beschäftigung, so lukrativ sie auch war, betäubte seine Seele. Erschöpfung erledigte den Rest und alles zusammen machte ihn anfällig für ein Heimweh, wie er es nie gespürt hatte, als er im Golf gedient hatte; das war eine unverzeihliche Gefühlsduselei, die ihn dazu veranlassen konnte, unachtsam zu werden und am Ende dem Tod sehr viel näher zu kommen, als er bereits war.

 

Jemand wusste, dass er in der Stadt war, aber Bens anonyme Arbeitskluft hatte ihn nicht verraten. Der Stoff war dunkel, von seinem Schöpfer gefärbt, um den Schmutz und die Schmiere von harter, niederer Arbeit über viele Tage zwischen den wenigen Waschgängen zu verstecken. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hinauf. Die Jacke war aus billigem Nylon, ein verhaltenes Dunkelblau. Es war eine unförmige, wattierte Kopie aus Übersee und wurde in den Billigläden Manhattans an Arbeiter verkauft, die gerade so über die Runden kamen. Er hatte die paar Löcher, die durch die enorme Hitze bei seiner Arbeit entstanden waren, mit schwarzem Duct Tape zugeklebt. Ben zog seine Rollmütze tiefer über seine Ohren. Das Walle-Polyester-Gemisch war ebenfalls dunkel. Nichts Besonderes. Keine Logos.

Von Kopf bis Fuß war Ben ein unbeschriebenes Blatt. Ein Geheimnis. Er passte sich seiner Umgebung an. Er war nicht mehr von dieser Welt, und nun versuchte jemand, ihn zurückzuholen.

Auf dem umständlichen Rückweg nahm er etwa jeden halben Block einen Schluck Kaffee. Wenn er seinen Kopf leicht zurückneigte, um zu trinken, ließ er seine Augen über den Gehweg vor ihm, die andere Straßenseite und die darüberliegenden Fenster schweifen. Ohne nachzudenken, filterte er die sanften Schritte seiner eigenen Gummisohlen aus; rechnete stets mit Geräuschen hinter sich. Alles, was auch nur annähernd wie verstohlene Schritte auf sechs Uhr klang, wie es im Militär hieß, oder direkt hinter ihm, ließ ihn lässig über seine Schulter blicken. In der ersten Woche in der Stadt hatte er befürchtet, diese Vorsicht würde ihn verdächtig wirken lassen und daher Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Doch er lernte schnell, dass dies der Big Apple war und dass hier jeder Augen im Hinterkopf hatte.

Dennoch, zu dieser Stunde waren nur wenige auf den Straßen unterwegs und sie hatten größere Probleme als irgendeinen Typen, der mit einem lausigen Käffchen herumlief. Straßenräuber waren im Bett, nachdem sie bis spät in die Nacht denjenigen aufgelauert hatten, die völlig betrunken oder auf Drogen waren. Sie zehrten von den Party-Kids, die einen schnellen und stillen Angriff wegen der lauten Musik in ihren Kopfhörern nicht bemerkten, und von denen, die schon ein hohes Alter erreicht hatten und nun wehrlos waren. Bens Schritte wiesen gerade genug Bestimmtheit auf, dass er kombiniert mit seiner einschüchternden Größe und seinen schäbigen Klamotten den Eindruck erweckte, den Ärger nicht wert zu sein. Damit blieben nur Polizisten und verzweifelte Junkies, die ihn schikanieren konnten, und wären solche in Sicht, würden sie sich nur gegenseitig Beachtung schenken und nicht einem Niemand wie Ben.

Er hielt am Eingang der Gasse an, die zu seiner Tür führte, nippte an seinem Kaffee, sah sich um und starrte in die noch immer sonnenlose Leere. Er ließ seine Augen alle paar Sekunden ruhen, als er nicht nur auf, sondern durch die Fenster parkender Autos schaute, auf der Suche nach Anzeichen, dass ihn jemand von der anderen Seite aus beobachtete. Die Straße war leer. Sein Herz wurde schwer wie das eines Sträflings, der den Gefängnishof verlassen musste, um seine Einzelhaft anzutreten.

Der elektrische Schmelzofen, den er angestellt hatte, bevor er gegangen war, musste inzwischen ziemlich heiß sein und zog genug Ampere, dass sich die Scheibe im uralten Stromzähler wie ein Frisbee drehte. Ben konnte gleich damit beginnen, das Gold für den ersten Guss zu schmelzen. Die Elektrizität, die seine Arbeit verschlang, war nur ein weiteres Opfer der bürokratischen Verwirrung, die sein armes, kleines Gebäude umgab. Als er sich hier einnistete, hatte er die Hauptleitung angezapft, ohne großartig Gefahr zu laufen, dass jemand den hohen Verbrauch meldete. Bisher hatte es sowieso noch niemand bemerkt. Falls es so weit kommen sollte, gab es keinen eindeutigen Eigentümer, dem man die Rechnung präsentieren konnte. Die wenigsten Phantome besaßen Geld. Es wären vielleicht größere Anstrengungen unternommen worden, das Geld für Nebenkosten einzutreiben, wenn der Stromversorger gewusst hätte, dass Ben Multimillionär war.

Noch einmal scannte Ben die abgedunkelten Gebäude um sich herum von den Kellerfenstern bis zu den Dachflächen. Überzeugt, dass ihn niemand mit übermäßiger Neugier beobachtete, deponierte er den blauen Styroporbecher in einem schlecht verschlossenen Müllcontainer des benachbarten Gebäudes. Zeit, zu arbeiten. Er drehte sich um und betrat die Gasse, vorbei an kleinen, schmutzigen Schneehaufen, die seit dem letzten Schneesturm in der Dunkelheit zwischen kaputten, verrottenden Holzpaletten überlebt hatten.

Er erreichte die alte Stahltür und stoppte, sein Körper angespannt, sein Verstand auf der Hut vor Gefahr. Es gab keine Klinke an dieser Tür, aber das war nicht das Problem. Gleich nach seiner Ankunft vor ein paar Monaten hatte er ein fünf Zentimeter großes Loch in das Türblatt auf der von den Angeln abgewandten Seite gebrannt. Dann hatte er eine Kette durch das Loch in der Tür und um den Stahlrahmen gefädelt, wo das Mauerwerk abgebröckelt war. Die unauffällige Sicherheitsmaßnahme war noch genauso intakt, wie er sie hinterlassen hatte. Die Mauer war das Problem. Jemand hatte dort eine Nachricht hinterlassen.

Die schwarze Sprühfarbe war auf der rußigen Gebäudefassade kaum zu erkennen. Die Symbole, etwa eine Handbreit hoch, waren an sich harmlos, aber sie zerschmetterten seine Welt mit mehr Gewalt als eine gut gezielte Kugel. BB2AMKIABNRMCG1300ZRIPAU. Er war sich sicher, dass die Wand nackt gewesen war, als er losging, um sich einen Kaffee zu besorgen. Das Kommuniqué war für ihn gedacht. Irgendjemand ignorierte die Tatsache, dass Tote nicht lesen können.

Mit dem stabilen Schlüssel aus seiner Hosentasche öffnete Ben das Vorhängeschloss und ging hinein. Er machte die Kette wieder fest und schloss sich im Keller ein. Der Schmelzofen heizte den zugigen Ort auf. Aus Gewohnheit schob er eine alte Decke mit dem Fuß gegen die Türschwelle, um kalte Luftzüge auszusperren. Er saß im Dunkeln auf einem einzelnen Metallklappstuhl, den er im Sperrmüll am Straßenrand aufgegabelt hatte, und dachte nach.

Die ersten fünf Zeichen adressierten die Nachricht an ihn persönlich. Es gab keinen Zweifel, dass er der Empfänger war. Obwohl er seine Hundemarken seit Jahren nicht mehr getragen hatte, kannte er sie auswendig. Wie jeder Soldat. Von oben nach unten statt von links nach rechts gelesen war das erste Zeichen jeder Zeile auf dem Metallplättchen ein B für Blackshaw, noch ein B für Benjamin, die Zwei war die erste Ziffer seiner Sozialversicherungsnummer, A stand für seine Blutgruppe und M für Methodist. Nur wenige Auserwählte verstanden diesen Code, auf den man sich vor Ewigkeiten zu gefährlicheren Zeiten geeinigt hatte.

Die Tatsache, dass der Code das Format der Army trug, war die Bestätigung, dass die Nachricht echt war.

Dieser Geheimcode war auf dem Balkan während eines gemeinsamen Sondereinsatzes mit Soldaten der zehnten Gebirgsdivision entworfen worden.

Der Rest der Nachricht erschloss sich Ben nach einer etwas genaueren Untersuchung. KIABNR stand für ›Killed In Action, Body Not Recovered‹ – Im Kampf gefallen, Leiche nicht geborgen – ein Ausdruck, der in Militärfamilien leider allzu bekannt war. Der Absender wusste, dass Ben sich versteckte, wusste wo, und wusste sogar, dass sein vorgetäuschter Tod durch Ertrinken in der Chesapeake Bay Monate zuvor keinen Leichnam hinterlassen hatte. MCG1300Z war der Aufruf zum Handeln, den er nicht ignorieren konnte. Er wurde von jemandem gebraucht, dem er sich einst mit Leib und Leben verschworen hatte. Es war nicht schwer, das zu verstehen. McGuire Air Force Basis. Da musste er hin. 1300Z war eine Angabe nach Zulu- oder koordinierter Weltzeit. Gemessen nach Ortszeit musste Ben irgendwie bis neun Uhr an diesem Morgen McGuire erreichen. Er hatte immer noch keine Ahnung warum, aber das würde sich zu gegebener Zeit herausstellen.