IM FADENKREUZ

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Aus der Reihe: Blackshaw #2
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Kapitel 4

Ben Blackshaws Taxifahrt von New York City zur McGuire-Air-Force-Base verschlang beinahe zwei Stunden. Der Fahrer, Malik Qadeem, laut seinem Ausweis, war zu Anfang seiner Schicht glücklicherweise nicht sehr gesprächig, abgesehen davon, dass er wissen wollte, ob Ben bei dem ungewöhnlich hohen Fahrpreis genug Geld dabei hatte. Ben war früh dran, als das Taxi an das explosionsgeschützte Wachhäuschen heranfuhr. Er hielt ein Bündel Geldscheine bereit.



Der bewaffnete Wachposten wurde von einem Captain Michaels flankiert, weiß, Anfang dreißig, sportlich. Ben erkannte schnell, dass sein Rang für den Wachdienst zu hoch war. Ben kurbelte sein Fenster herunter, nicht sicher, wie er sein Erscheinen auf der Basis erklären würde, doch wie sich herausstellte, musste er das nicht.



Nach einem kurzen Blick auf ein Foto in seiner Hand sagte Captain Michaels:»Bitte steigen Sie aus dem Fahrzeug, Sir.«



Ben gehorchte und nahm seinen Fluchtrucksack mit. Er enthielt alles Notwendige für eine kurze Reise: Bargeld, Wechselsocken, eine zweite Identität und eine Zahnbürste. Er lag immer gepackt und bereit neben seiner Tür. Captain Michaels Tonfall gab ihm das Gefühl, als ob er beim Zuschnellfahren erwischt worden wäre, aber wegen etwas viel Schlimmerem unter Verdacht stand. Der Offizier verließ das Wachhäuschen und beugte sich zu Qadeem hinunter. Ohne einen Blick auf das Taxameter zu werfen, das sich im dreistelligen Bereich befand, reichte er einige Geldscheine herüber, die Qadeem die Augen herausspringen ließen.



Als er wieder sprechen konnte, sagte Qadeem:»Und die Maut?«



Captain Michaels reagierte nicht darauf.»Setzen Sie zurück, drehen Sie um und fahren Sie nach Hause. Verstanden, Sir? Was ich Ihnen gerade gegeben habe, sollte Ihre ganze Woche abdecken.«



Qadeem zuckte ›

den Versuch wert‹

 mit den Schultern und tat, wie ihm geheißen. Michaels wies mit einer Handbewegung vom Wachhäuschen weg.»Hier entlang, Sir. «Er führte Ben an einem Tor vorbei zu einem Humvee, der die graugrüne Highet-Kräcker-Digital-Tarnung trug, die ein paar Jahre zuvor so beliebt gewesen war. Der Captain hielt Ben die Tür auf, sah ihm aber nicht in die Augen.



Obwohl Michaels einen Umweg durch die weniger belebten Straßen der Basis fuhr, fühlte sich Ben entblößt. Er riskierte alles, indem er Fuß auf diese Basis setzte, und konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob seine Identität allgemein bekannt war.



«Hat man Ihnen meinen Namen gesagt, Captain?«, fragte er.



Michaels hielt seine Augen stur geradeaus gerichtet.»Nein. Strikt nach Need-to-know-Prinzip.«



«Das heißt

Mister

 Need-to-know für Sie.«



«Ja, Sir. Ich bringe Sie dorthin, wo Sie sein sollen. Das ist alles.«



Ben sagte nichts mehr. Die Basis füllte sich inzwischen langsam mit zivilen Angestellten, und wie es üblich war, widmete niemand dem Gefährt einen zweiten Blick oder gar einen ersten. Dies ähnelte der Anonymität, die er in Manhattan kultiviert hatte, aber irgendwann in absehbarer Zeit würde Ben eine Person treffen, die ihn sehr gut kannte. Jemand mit einem schwierigen Problem, bei dessen Lösung Ben behilflich sein sollte.



Die Hangars kamen in Sicht. Michaels hielt vor dem letzten an, stieg aus, lief vorne um den Wagen herum und öffnete Bens Tür. Ohne etwas zu sagen, reichte er Ben das Foto, das er zur Bestätigung seiner Identität benutzt hatte, und zeigte auf eine modulare Sicherheitsschleuse, bevor er in den Rest seines Tages fuhr.



Ben ging zur Sicherheitsschleuse, die von außen wie ein übergroßer Frachtcontainer aussah, etwa vier Meter breit und zwölf Meter lang, längsseits der Wand des Hangars ausgerichtet. Vermutlich eine explosionsgeschützte Ausgabe von Lion Industrial Buildings. Was zur Hölle erwartete ihn da drinnen? Die erste Welle der Angst, die er beim Anblick der Buchstaben an seiner Wand gespürt hatte, kehrte zurück.



Ein weiterer Wachposten musterte Ben von oben bis unten durch ein kleines, dickes Fenster am Ende des Gebäudes. Ben konnte sehen, wie er auf etwas hinuntersah, vermutlich ein weiteres Foto. Ohne nach einem Ausweis zu fragen, eine Anomalie in der Welt nach dem elften September, aktivierte der Wachmann die schwere Tür. Sie öffnete sich, angeschoben von einem elektrischen Motor, der stark genug war, um einen Mann zu zermalmen, wenn man sich nicht beeilte. Ben trat in einen drei mal drei Meter großen Raum. Er hatte immer noch keine Ahnung, mit wem oder was er es zu tun hatte, aber der Mangel an Abzeichen schrie

Firma

, die andere Regierungsbehörde, häufige Umschreibung der CIA, dem Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten. NSA war auch eine Möglichkeit.



Als die erste Tür hinter Ben zurollte, wurde die nächste aufgekurbelt. Er lief bis zum Ende des Schleusenraumes und bog nach rechts in einen weißen Flur, dessen Linoleumboden ein Muster aufwies, das Dreck und Blut verschleiern würde, falls das nötig wurde. Es gab nur eine fensterlose Tür am gegenüberliegenden Ende dieses Flurs, der innerhalb des Hangars lag. Die zweite Schleusentür schloss sich hinter ihm. Er wartete dort weniger als eine Minute.



Ein Mann Mitte zwanzig streckte seinen Kopf aus der Tür und sagte:»Äh, hi. «Ben war offensichtlich nicht, was er erwartet hatte; ein müder Mann, wie aus einem Müllcontainer gekleidet, der aussah, als wäre er nur einen halben Gehaltsscheck davon entfernt, im Winter auf Dampfabzügen zu nächtigen.



Ben sagte nichts. Der Junge war in ein weißes Hemd gekleidet, eine Panzeruhr im Stile des Zweiten Weltkriegs schaute unter seinem umgekrempelten Ärmel hervor. Kakihosen lagen auf bequem aussehenden, braunen Halbschuhen mit Kreppsohlen auf. Ein ziviles Äußeres, aber etwas an ihm flüsterte immer noch

Geheimdienst

 und weit außerhalb jeglicher militärischer Hierarchie. Diese Jungs hatten ein impressionistisches Regelwerk, sehr dünn, selten geöffnet und ständig dabei, spontan umgeschrieben zu werden. Sie konnten so ziemlich jedem alles antun, was sie wollten. Kein gutes Zeichen. Ben hatte gehofft, dass die Air-Force-Base nur ein Ort war, um einen alten Freund zu treffen, aber dieses Treffen trug das Wasserzeichen der unregierbarsten Teile der Regierung.



Ben wartete, bis der Agent seine Gedanken beisammen hatte, was etwa zehn Sekunden dauerte.



Der Typ sagte wieder:»Hi«, und fuhr fort mit:»Treten Sie ein. Ich bin Tom.«



Ben folgte Tom durch die Tür in einen anderen Flur, der genauso war wie der vorherige, nur viel länger. Womöglich erstreckte er sich über die volle Länge des Hangars.



Tom blieb stehen.»Handy?«



Ben schüttelte den Kopf.



«Schusswaffe? Messer?«



Ben zuckte mit den Schultern.



Tom verdaute das für einen Moment und sagte:»Okay, nun, Sir, es scheint, als trügen Sie ein paar ziemlich schwere Dinge in Ihren Jackentaschen. Und etwas an Ihrer rechten Wade.«



Ben sagte:»Kleingeld. Persönlicher Besitz.«



Tom war sich nicht sicher, wie er das handhaben sollte.»Ich meine nur, die sehen sehr dick aus, wissen Sie? Nichts für ungut, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre Taschen zu leeren?«



«Das würde mir allerdings etwas ausmachen.

Tom



Ben wurde klar, dass er irgendwo in der Sicherheitsschleuse oder im ersten Flur einem Körperscan unterzogen worden war. Dieser hatte die vier kleinen, handgeschnittenen Goldstücke, die er zusätzlich zu seinem Bargeld mitgebracht hatte, entdeckt. Universalwährung. Nur für den Fall. Und der Scan hatte sein Messer enthüllt.



Tom grübelte einen Moment nach. Offenbar entschied er, dass es weit über seiner Gehaltsstufe lag, sich mit einem Typen wie Ben anzulegen.



«Okay. Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier zu warten?«Tom öffnete eine Tür auf der linken Seite des Flurs. Der Raum hinter der Tür war mit Teppich in einer anstaltsmäßigen Schattierung von Beruhigungs-Grün ausgelegt. Darin standen vier braune Plüschsessel an einer Wand und ein Tisch bedeckt mit in Plastik eingepackten Sandwiches, Limos und Mineralwasserflaschen auf Eis nahm die andere Wand ein. Und ein Fernseher.»Bedienen Sie sich.«



Ben trat ein. Tom blieb im Flur und schloss die Tür hinter Ben. Obwohl es kein sichtbares Schloss an der Tür gab, war gleich ein schweres, mechanisches Scheppern zu hören. Ben versuchte, die Tür zu öffnen. Der Knauf drehte sich, aber die Tür rührte sich kein Stück. Ben war gefangen. Er spürte einen Anflug von Angst in seiner Brust, als Adrenalin seinen Herzschlag beschleunigte. Er kam sich äußerst blöd vor. Von der vertrauten Umgebung der Basis in ein wohlgefälliges Sicherheitsgefühl gelullt hatte Ben seine Deckung vernachlässigt. Er befand sich auf amerikanischem Boden. Angehörige des Militärs würden diese Art von Scheiße nicht aneinander verüben. Dann fiel ihm ein, dass Tom keinem regulären Zweig des Militärdienstes angehörte.



Ein Telefon ohne Tasten zwitscherte auf einem Beistelltisch zwischen den Sesseln. Ben nahm den Hörer ab, sagte aber nichts. Tom begann zu reden.»Sorry, ich will hier nicht den Hornochsen markieren. Es ist nicht so, dass wir Ihnen nicht trauen, aber wir kennen Sie nicht. Sie verstehen das. Sie sind eine unbekannte Größe, das ist alles. Ich meine, Sie sind sicherlich ein toller Kerl, aber die Sicherheitsvorkehrungen hier drinnen gehen uns allen auf den Keks. Wir können ja nicht jeden herumschnüffeln lassen. Halten Sie durch und wir melden uns, wenn alles bereit ist. Oh, und die Sandwiches werden hier auf der Basis gemacht. Sogar das Brot. Wirklich hervorragend. Versuchen Sie das Roastbeef. Okay? Okay, großartig. «Dann brach die Verbindung ab. Ben legte den Hörer wieder auf die Gabel.



Toms Anruf hatte Ben keinen Grund gegeben, sich zu entspannen. Er erkundete den Raum. Absolut dicht. Keine Fenster. Kein Luftschacht, durch den etwas Größeres als eine nasse Bisamratte passen würde. Dasselbe im Badezimmer, das hinter einer kleinen Tür lag. Die Rohrleitungen unter dem Unterschrank des Waschbeckens waren in die Wand gemauert. Keine Revisionsklappe, wie man sie in Wohnhäusern fand. Kein Ausweg in der Richtung.

 



Ben schaltete den Fernseher ein und bekam seinen ersten Blick auf die Welt, die er seit Monaten nicht gesehen hatte. Er aß ein Roastbeef-Sandwich. Nicht schlecht. Nichts, was er für sein letztes Mahl ordern würde, aber es würde seinen Körper nähren und seinen Verstand scharf halten, bis Tom und Konsorten ihren gemeinsamen Scheiß auf die Reihe kriegten.



Plötzlich seiner Freiheit beraubt und damit auch des Frondienstes seiner Arbeit begann Ben, seinen Gedanken an Smith Island nachzuhängen. Er hätte niemals gehen sollen. Er hätte einen Weg finden können, das Gold näher an seiner Heimat zu verarbeiten. Nach New York City zu fliehen, erschien im Nachhinein als drastischer Schritt, aber wo hätte er sich sonst verstecken sollen? Er hatte im Ersten Golfkrieg gedient. Er war ein Lokalheld, ganz zu schweigen von seiner Reputation als geschätzter Künstler. Es gab böse Menschen, die wegen des Verlusts des Goldes sauer waren. Sie wollten es zurück. Ben musste das Handtuch schmeißen. Der Preis stellte sich bereits jetzt als fürchterlich heraus, sogar noch vor der Nachricht des heutigen Morgens.



Kapitel 5

Das Wartezimmer war großzügig mit Essen ausgestattet, also war Ben nicht überrascht, dass Stunden anstatt von Minuten ohne jeglichen Kontakt zu Tom oder sonst irgendwem vorübergingen. Er hatte reichlich Zeit zu überlegen, was hier vor sich ging. Die Nachricht heute Morgen war ein für das Militär typischer Fall von Beeilen und Abwarten. Tom hatte gesagt, dass es Dinge gab, die man für ihn vorbereiten wollte. Tom war zaghaft, beinahe verunsichert gewesen. Ben hielt ihn für einen schlechten Lügner, falls er dazu aufgefordert werden sollte. Egal. Das Essen war nicht mit Drogen versetzt. An den Verschlüssen der Wasserflaschen war nicht herummanipuliert worden. Und sie waren von einer Marke, die ihm bekannt war. Alles prima. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht für Folter oder Tod vorgesehen war. Aber wofür dann?



Die einzigen für ihn verfügbaren Informationen kamen aus dem Fernseher und er wäre durchaus auf dem aktuellen Stand gewesen, wenn er ein eigenes Gerät oder ein Radio besessen oder hin und wieder eine Zeitung gekauft hätte. Aber die Arbeit ließ ihm nicht die nötige Zeit, um sich über globale Ereignisse in auch nur annähernd regelmäßigen Abständen zu informieren.



Nachrichten hatten Bens Leben nie tangiert. Sogar, als er in der Navy diente, hatten nur seine Befehle gezählt. Es gab keine Kriege. Da waren nur Ecken und Kanten von Kriegen, für deren strafrechtliche Verfolgung er persönlich verantwortlich war.



Ben wusste, dass viele sagen würden, dass große und kleine Ereignisse auf der Welt sie auf einer persönlichen Ebene berührten, aber ihm kam es so vor, als wären sie gelangweilt oder würden sich etwas vormachen mit diesem fehlgeleiteten Sinn für Selbstherrlichkeit, den heutzutage jeder haben sollte. Oder sie waren von einem drückenden Verlangen nach Selbstbestätigung befallen.



Die Nachrichten berührten auch sie niemals wirklich, es sei denn ein Unglücksfall irgendeiner Art brachte ihnen das Scheinwerferlicht für ihre persönlichen fünfzehn Minuten des Warhol-Ruhms ein. Damit waren sie dann zufriedengestellt. Für Ben waren die Nachrichten dieser Tage nur ein weiteres Genre der Unterhaltung, zurechtgeschnitten aus Tratsch, Hörensagen und Blut, gesammelt von Journalisten und von Redakteuren und Produzenten zum Verkauf abgepackt. Ben fand, die einzige Wahrheit von Wert war, was vor ihm lag; seine Arbeit, seine wenigen guten Freunde und sein Zuhause. Momentan hatte er keinen Kontakt zu diesen drei Pfeilern seines Lebens. Er war allein, weit weg von Smith Island und nicht am Arbeiten, obwohl man einwenden könnte, dass Warten für manche eine Art von Arbeit war. Also aß er ein Sandwich und sah fern.



Ben hatte seine Vermutung, welchen Fehler er in den letzten Monaten begangen hatte. Er hatte spartanisch gelebt, den Keller so nackt wie möglich gehalten, um sich härter zur Arbeit anzuspornen. Es gab keinerlei Annehmlichkeiten. Er hatte sich bewusst dafür entschieden, es sich nicht bequem zu machen. Je eher das Gold zu Geld gemacht war, umso früher würde er nach Hause entlassen. Wenn er den Keller weniger trostlos gestaltet hätte, wäre er sich vielleicht weniger elend vorgekommen und wäre weniger dazu bereit gewesen, sich auf diese wahnwitzige Mission einzulassen. Seine Frau LuAnna hätte den Keller in einen Ort der Schönheit verwandeln können, aber sie war mit ihm gestorben. Sie war nicht in New York, konnte nicht helfen.



Ben hätte einen CD-Player kaufen können, um sich die heißen, elenden Stunden damit zu vertreiben, Chester River Runoff zu hören, seine Lieblings-Newgrass-Band. Er ahnte, dass sein Exil und seine Gefangenschaft in New York nicht nur eine taktische Notwendigkeit war. Es war eine Form der Selbstbestrafung. Wie lautete die Anklage? Ben wusste nicht, aufgrund welcher Beweise er verurteilt worden war. Als Ankläger, Richter und Jury hätte er das alles verstehen sollen. Und doch war er hier, seit Stunden auf einer Mission, über die er nichts wusste. Hatte er sich selbst zu Tode verurteilt? Er hatte keine Ahnung.



Jeder Bissen des Sandwiches schmeckte so ziemlich genauso wie der vorherige und jeder Sender leierte leicht variierende Reportagen über den Mord an einer Sängerin in Los Angeles herunter. Obwohl er von Luz gehört hatte, kannte er ihre Musik nicht. Die Songschnipsel in den kurzen Konzertrückblicken waren recht eingängig. Ihre Moves in den Videos waren sexy. Ihre Bemerkungen in den Interviews quollen über vor Lobgesängen auf ihre Fans.



Laut O-Ton hysterischer Mädchen auf der Straße war eine Heilige in ihrer Blüte zu Fall gebracht worden. Es war nicht so, dass diese tränenreichen Menschen die Sängerin persönlich gekannt hätten, aber sie glaubten, dass es so war, denn ihre Gefühle waren stark und schienen dadurch real. Gefühle waren keine Fakten, dachte Ben, egal wie intensiv. Es war nicht so, dass es heute Abend einen leeren Platz an ihren Esstischen gäbe, jetzt, wo die Sängerin gestorben war. Ihre Alben waren immer noch erhältlich, oder nicht? Und es würde vermutlich für eine Weile noch neue Musik herauskommen, indem unveröffentlichte Aufnahmen für den Verkauf zusammengestellt wurden, da ihr Tod deren Wert nur gesteigert hatte. Ben nahm an, dass die Konzertgänger am härtesten betroffen waren, aber auch nicht wirklich. Es würde keine Livekonzerte mehr geben, richtig, aber man versuche mal, einen Fan dazu zu bringen, zuzugeben, dass seine Aufmerksamkeit bei diesen Veranstaltungen meistens tatsächlich auf den Großbildschirmen lag und nicht auf der erbsengroßen Figur auf der Bühne, Hunderte von Metern unterhalb seines billigen Platzes im Rang.



Die Berichterstattung war monoton, hypnotisch, mit den gleichen Konzertausschnitten, die unaufhörlich wiederholt wurden, und den immer gleichen Bildern vom Tatort, wo Rettungspersonal versuchte, diejenigen, die an Leib oder Seele verletzt worden waren, zu behandeln oder einfach nur zu beruhigen. Es war klar, dass der Mord vor aller Augen geschehen und gewalttätig war, aber jeder, der sich vor Ort und in den Nachrichtenredaktionen damit befasste, war frustriert, dass die genaue Todesursache ungeklärt blieb.



Die Sängerin schien auf dem Rücksitz ihres Wagens explodiert zu sein, gerade als sie der Premiere eines Films beiwohnen wollte, in dem sie eine wichtige Rolle spielte. Wie explodiert? Keine noch so clevere Formulierung der Reporter konnte die Informationsbeauftragten und Pressesprecher des LAPD dazu bringen, Spekulationen zu Protokoll zu geben. Sie waren Profis und konnten die kleine Sammlung von Fakten auf zehn verschiedene Arten aufsagen, ohne neuen Aufschluss zu geben. Die sprechenden Köpfe waren offensichtlich zwiegespalten, ob sie die Behörden wegen dieses Mangels an Details zur Rede stellen oder sie aufmuntern sollten, um ihre Story auszudehnen. Die Reporter wollten keine Zuschauer an Langeweile verlieren, aber sie wollten auch den vollen Schockeffekt der Story nicht vor ihrem natürlichen Ende auf den Tisch legen. Die meisten der Journalisten vor der Kamera gaben sich damit zufrieden, die nächste Pressekonferenz aufzubauschen, womit sie die Last, die Geschichte fortzuführen, gerne den Behörden auferlegten.



Das Telefon auf dem Tisch zwitscherte erneut. Ben nahm ab. Tom sagte:»Hey, ich bin's. Wir sind nahe dran. Also machen Sie sich bereit, sich bereitzumachen.«



Ben schloss seine Augen und massierte seine Nasenwurzel. Tom fragte:»Haben Sie Kopfschmerzen? Da sind Aspirin und Ibuprofen im Badezimmer.«



Natürlich gab es eine versteckte Kamera im Raum. Ben hätte damit rechnen sollen und ging schnell die vergangenen Stunden durch, ob er seinen Aufpasser mit irgendwelchem eigenartigen Verhalten amüsiert hatte. In letzter Zeit, nach Monaten der Isolation, hatte er festgestellt, dass er zu Selbstgesprächen neigte. Es gab nichts, was er deswegen unternehmen konnte.



Ben sagte:»Nein, keine Kopfschmerzen. Von wie lange reden wir hier?«



«Tut mir leid, ich kann's nicht genau sagen. Aber es wird langsam dunkel, also darf ich wohl vorschlagen, ohne speziellen Grund natürlich, dass Sie sich von den Wasserflaschen fernhalten und unbedingt das Badezimmer benutzen. «Die Verbindung wurde beendet.



Ohne speziellen Grund folgte Ben Toms Anweisungen. Danach sammelte er das Ibuprofen und das Aspirin ein, nur für alle Fälle. Anstelle von Plastikdöschen gab es zwei Blisterstreifen von jedem im Medizinschränkchen des Badezimmers, was gut war, weil sie so nicht wie Maracas in seinen Taschen rasseln würden. Er steckte außerdem ein Sandwich in jede Jackentasche, gemeinsam mit zwei Packungen Erdnuss-M&Ms. Er würde bald irgendwo hingehen.



Zwei Stunden später war Ben kein bisschen schlauer, was den Mord an der Sängerin anging. Vielleicht hatte es neue Entwicklungen gegeben, aber er hatte den Fernseher abgeschaltet, teilweise aus Frustration über den Mangel an Bewegung in der Story, aber hauptsächlich um ein Nickerchen in einem der Sessel zu machen.



Er wurde vom schweren Schnappen der internen Türschlösser aus seinem Traum über ein Crab-Cake-Gelage geholt.



Tom steckte seinen Kopf durch die Tür.»Oh, hi«, sagte er, als wäre er aufrichtig überrascht, Ben dort immer noch vorzufinden.»Wir wären dann bereit für Sie. Sind Sie, Sie wissen schon… ein letztes Mal?«



Ben sagte:»Keine Kamera in der Latrine? Eine Minute. «Kurz darauf folgte Ben Tom aus dem Wartezimmer.



Nach einem umständlichen Weg durch ein Labyrinth aus Fluren und zwei weiteren Sicherheitsschleusen blieb Tom vor einer Metalltür stehen. Er wandte sich Ben zu und sagte:»Was würde ich geben, um zu tun, was Sie gleich tun werden. Aber Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen. Falls Sie das tun, wäre das ein Verstoß gegen die nationale Sicherheit und Sie werden …«



«Ich werde gar nichts«, unterbrach Ben.»Du hast keine Ahnung, wer ich bin, und du wirst mich nie wiedersehen. Und falls du jemals jemandem meine Beschreibung gibst, ist das ein Verstoß gegen meine persönliche Sicherheit und ich weiß, wo du arbeitest, ich kenne deinen Namen und ein Hangar ist kein guter Platz, um sich zu verstecken. Verstanden?«



Der Junge wurde blass, fing sich aber wie ein Idiot.»Ach ja? Tom ist gar nicht mein richtiger Name.«



«Ach, sag bloß.«



Der Junge fischte einen Ausweis, der an einem Schlüsselband um seinen Hals hing, aus seinem Kragen und zog ihn durch das Schloss neben der Tür. Als die Karte den magnetischen Kartenleser verließ, passierten zwei Dinge. Das Türschloss schnappte auf und Ben schnappte sich die Karte in Toms Hand, wobei er hart am Schlüsselband zerrte und am Hals seines Trägers noch dazu.



Ben las die Karte laut und deutlich vor.»Tach auch, Winstedt, Samuel J.«



Winstedt alias Tom würgte ein leises» Scheiße «hervor.



«Also, Sam, verstehen wir uns, du und ich?«, fragte Ben.



«Ich schätze schon.«



Ben versuchte, ernst zu klingen, klang am Ende aber nur genervt.»Ernsthaft, Junge, kennst du meinen Namen oder weißt du, wie ich aussehe?«



«Ich habe keine Ahnung, ich schwöre.«



«Guter Junge. Gehen wir. «Ben ließ die Karte los.



Winstedt richtete sich auf und rieb seinen Nacken, wo das Schlüsselband einen roten Streifen hinterlassen hatte. Entmutigt öffnete er die Tür und Ben folgte ihm in die gewaltige Flugzeughalle.



Die Halle wurde von Deckenlampen in einem Maße beleuchtet, das Tageslicht übertraf, und deren Leuchtkraft eher eines OP-Saals angemessen war. Zu jeder Stunde konnte hier Wartung an militärischen High-Tech-Fluggeräten mit chirurgischer Präzision durchgeführt werden. Ben fiel auf, dass die Werkzeuge alle verstaut waren. Es lagen keine LRUs, modulare Flugzeugelektronik, herum. Alles sauber, ordentlich und einsatzfähig. Niemand hier außer Winstedt und ihm selbst und ihre Schritte hallten unter dem leichten Surren der Lampen.

 



Es gab nur ein einziges Flugzeug im gesamten Hangar. Ein Northrop Grumman RQ-4 Global Hawk UAV. Ein unbemanntes Luftfahrzeug. Die meisten Menschen nannten sie Drohnen oder, fälschlicherweise, Predators, was die bewaffnete Variante war.



Nun war Ben an der Reihe,»Scheiße «zu murmeln. Der Anblick des Flugzeugs ließ ihn erschauern und überspülte ihn mit unschönen Erinnerungen.



Sam Winstedt verstand ihn falsch und sagte:»Ich weiß. Großartig, oder nicht?«



Der Global Hawk war ein hochfliegendes Langstrecken-Aufklärungsflugzeug mit langen, schmalen Verbundtragflächen, geformt wie die einer alten U-2 und mit einer Spannweite von fünfunddreißig Metern. Ben wusste, ein Rolls-Royce Mantelstromtriebwerk mit einem Schub von zweiunddreißig Kilonewton konnte das Fluggerät auf eine Reisegeschwindigkeit von dreihundertfünfzig Knoten bringen, bei einer Dienstgipfelhöhe von fünfundsechzigtausend Fuß. Beeindruckende Daten, wenn der Vogel richtig funktionierte.



Winstedt lächelte Ben an.»Wissen Sie, was das ist? Schon mal eine gesehen?«



«Ich hab gesehen, wie ein paar davon ohne beschissenen Grund aus dem Himmel gefallen sind. Musste für die Wracks hinter feindlichen Linien in der Wüste den Babysitter spielen, bis die Transport-Helis und deine Spitzelbrüder kamen, um sie zu bergen. War das ein Spaß.«



Winstedt verteidigte das Flugzeug, als wäre es seine Liebste.»Die waren aus der ersten Produktionsreihe! Das waren praktisch Prototypen, Gott noch mal. Die hatten da draußen nichts zu suchen, bevor sie vollständig getestet und ausgewertet waren, aber sie wurden nun mal dringend gebraucht.«



Ben fragte:»Winnie, warum bin ich hier?«



«Hab ich schon gesagt, ich habe keine Ahnung, warum oder sogar wer Sie sind. Aber wir haben den ganzen Tag damit verbracht, große Teile der integrierten Sensoreinheit, des Überwachungspakets, auszubauen, weil jemand mit einer Menge Einfluss das befohlen hat. Für Sie.«



Ben zögerte zu fragen:»Was habt ihr dafür eingebaut?«



«Das PTM.«



«Deutsch, Winnie.«



«Personal-Transport-Modul.«



«Personaltransport. In dem Ding? Ich?«



Winstedt geriet ins Schwärmen und begann, schneller auf das Flugzeug zuzulaufen.»Ich habe drin gesessen und es ist wirklich bequem. Der Sitz ist von Oregon Aero. So weich, wie's nur geht. Es gibt ein Leselicht und ein SiriusXM-Radio sowie ein volles Komm-Paket nach Militärstandard. Airconditioning und Heizung. Das lenkbare Gesamtrettungssystem stößt einen großen Fallschirm in zwei Sekunden aus im unwahrscheinlichen Fall, dass etwas schiefläuft, zum Beispiel, wenn Sie sich eine Flugabwehrrakete einfangen. Ich meine, wenn Sie irgendwo hinwollen und es keiner merken soll, dann ist das genau das Richtige. Schlägt eine C-130 um Längen. Aber keine Toilette in der Generation. Hat nicht reingepasst. Daher bekommen sie eine GEMA. Gefäß zur Evakuierung menschlicher Abfälle. Auch bekannt als Pinkelflasche. Der Deckel ist manchmal nicht dicht, also bitte nicht herumschlenkern, wenn sie voll ist.«



Ben kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie den Hangar durchquert hatten, und das Flugzeug wurde immer größer. Sicherlich war dies das größte UAV, dass er je in einem Stück gesehen hatte. Die Gehäuseklappe am Bug stand offen und enthüllte eine signalgrüne Kapsel von der Größe eines Smarts. Die Kapsel besaß eine Einstiegsluke wie eine kleine Autotür und ein Bullauge. Er stieg bestimmt nicht in dieses Ding.



Ben fragte:»Wo genau soll es eigentlich hingehen?«



«Das ist Need-to-know«, antwortete Winstedt.»Kenntnis nur bei Bedarf. Sie fliegt autonom. Ich habe mich persönlich davon überzeugt, dass der codierte Flugplan per Satellitenverbindung hochgeladen wurde, kurz bevor ich kam, um Sie zu holen, aber ich bin nicht befugt, ihn zu entschlüsseln. Unser Operator wird den Start per Fernsteuerung handhaben und die Landung wird von jemand anderem irgendwo anders durchgeführt. Pensacola vielleicht, aber das ist nur geraten. Ihr Signal wird verfolgt werden, denke ich mir, aber alles dazwischen läuft automatisch ab, die Wegpunkte, die Höhenlevel, die Grundgeschwindigkeit, all das. Sie werden da oben bei den Engeln schweben, frei wie ein Vogel. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis und jetzt kommt's dick. Ben, in Zeiten nationaler Notstände ist dies Air Force Two. Es ist eigentlich das Reservefahrzeug des Vize-Präsidenten.«



«Und kein Lokus? Na, das passt. Kann euer Operator was?«



Winstedts Schamesröte war im grellen Licht deutlich zu sehen.»Sie ist die Beste, die es gibt. Tatsächlich