Freud und das Vermächtnis des Moses

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Freud und das Vermächtnis des Moses
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Richard J. Bernstein, 1932 geboren, ist Professor für Philosophie und lehrte unter anderem an der Yale University und der Hebrew University. Derzeit unterrichtet er an der New School in New York. Neben Arbeiten über John Dewey und den amerikanischen Pragmatismus publizierte er Schriften zu Habermas und Hannah Arendt.

Richard J. Bernstein

Freud und das Vermächtnis
des Moses

Aus dem Englischen von Dirk Westerkamp


Titel der Originalausgabe: Freud and the Legacy of Moses

Cambridge University Press 1998

© Richard J. Bernstein 1998

Die Zitate Sigmund Freud folgen der Studienausgabe von

Sigmund Freuds Werken © S. Fischer Verlag GmbH,

Frankfurt am Main 1974.

Verlag und Übersetzer danken der Herausgeberin der Werke

Sigmund Freuds, Frau Ilse Grubrich-Simitis, für die freundliche Hilfe

beim Zustandekommen dieser Ausgabe.

© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

© der deutschen Ausgabe 2003 by Philo Verlagsgesellschaft mbH,

Berlin/Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Aus dem Englischen von Dirk Westerkamp

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung

(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf

einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und

unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg

der Datenübertragung) vorbehalten.

eISBN 978-3-86393-555-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Für Skylar, Tessa und Maya

Allem, was mit der Entstehung einer Religion, gewiß auch der jüdischen, zu tun hat, hängt etwas Großartiges an, das durch unsere bisherigen Erklärungen nicht gedeckt wird.

(Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 573.)

Wir wollten erklären, woher der eigentümliche Charakter des jüdischen Volkes rührt, der wahrscheinlich auch seine Erhaltung bis auf den heutigen Tag ermöglicht hat.

(Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 568.)

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Der ägyptische Ursprung des Monotheismus und die Ermordung Moses’

Prolog

Die Erzählhandlung

Die These: Moses war ein Ägypter

Die Ellipse: Wenn Moses ein Ägypter war…

Moses’ Monotheismus: Erste Hinweise

Historisches Zwischenspiel: Von Wien nach London

Kapitel 2

Tradition, Trauma und die Wiederkehr des Verdrängten

„Das wichtigste Stück des Ganzen“

Tradition: Das Problem der „Lücke“

Vom Totemismus zum Monotheismus

Mündliche Tradition

Freuds Lamarckismus?

Schwierigkeiten

Tradition: Das Zusammenspiel bewußter und unbewußter Erinnerungsspuren

Historische Wahrheit

Kapitel 3

Antisemitismus, Christentum und Judentum

Antisemitismus und Christentum

Der Vorwurf: „Was ist an dir noch jüdisch?“

Kapitel 4

„Dialog“ mit Yerushalmi

Anhang

Ein Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé

Amerkungen

Literaturverzeichnis

A. Werke von Sigmund Freud

B. Sekundärliteratur

Sach- und Titelregister

Personenregister

Vorwort

Der Mann Moses und die monotheistische Religion, das letzte Buch, das Freud noch selbst veröffentlicht hat, ist eine seiner umstrittensten, problematischsten wie zugleich anregendsten Arbeiten. Die Faszination für die Figur des Moses zieht sich durch Freuds gesamtes Leben. Während der letzten Jahre schien er wie gebannt von dem „großen Mann“ und seinem schwierigen Vermächtnis – ein Vermächtnis, das in der Vergangenheit gründet, die Gegenwart bestimmt und die Zukunft beeinflußt. Dennoch zögerte Freud bis zuletzt, seine Studien zu veröffentlichen. Es gab nicht wenige, die ihn baten, sie nicht zu publizieren oder doch zumindest einige ihrer provokantesten Behauptungen abzumildern. Freuds These, Moses sei ein Ägypter gewesen, der von den Israeliten in der Wüste ermordet wurde, erschien (geschrieben am Vorabend der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden) nicht nur skandalös, sondern auch ohne jede solide historische Grundlage. Man fragt sich, was Freud dazu bewogen haben mochte, ein solches Buch zu veröffentlichen. Und dennoch: dem Porträt, das Freud von Moses und seinem Monotheismus zeichnet, hängt etwas Großartiges an.

Das Buch, 1939 veröffentlicht, provozierte bald nach seinem Erscheinen polemische Reaktionen. Selbst Freuds Anhänger brachte die schon in ihrem formalen Aufbau ungelenk anmutende und verwirrende Arbeit in Verlegenheit. Und die inhaltlichen „Argumente“ erschienen so offensichtlich abwegig, daß die ersten Interpreten dazu neigten, sich auf die Suche nach Freuds verdeckten und unbewußten Motiven zu konzentrieren. Ihnen ging es um die persönlichen Konflikte, die das Buch zu enthüllen schien, nicht um die sorgfältige Analyse dessen, was es tatsächlich sagt.

Immer wieder habe ich mich in den letzten Jahren Freuds Moses-Studie zugewandt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß der Kern der Geschichte, die Freud uns erzählt, mit seinem Ringen um die Formulierung dessen zu tun hat, was er für das Wesen des (oder seines) Jüdischseins hält; es geht um die Frage nach dem Fortbestand des Judentums und den tiefen psychologischen Wurzeln des Antisemitismus. Die These, die ich in diesem Buch verteidigen möchte, lautet: Freud versucht in Der Mann Moses eine Frage zu beantworten, die er bereits in dem Vorwort zur hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu gleichsam an sich selbst gerichtet hatte. Freud charakterisiert sich dort als jemanden, der nicht nur die Religion seiner Väter aufgegeben, sondern sich aller Religion entfremdet habe. Er fragt: „Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?“, und antwortet: „Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.“ Und trotz des Eingeständnisses, diese „Hauptsache“ gegenwärtig nicht in „klare Worte fassen“ zu können, glaubt Freud, sie werde „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“.1Es ist die Antwort auf eben diese Frage, die wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion finden.

Jahrzehntelang gab es so gut wie keine wirklich ernste und sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem Werk. Diese Situation hat sich in den letzten zehn Jahren radikal geändert, das Buch eine fast explosionsartige Aufmerksamkeit erfahren. Es scheint, als setzte sich die verspätete Erkenntnis durch, Der Mann Moses gehöre zu den bedeutendsten Arbeiten Freuds. Denker ganz verschiedener Disziplinen ließen sich von Freuds dramatischer Erzählung, die von der ägyptischen Herkunft Moses’ und den Auseinandersetzungen um einen ethisch anspruchsvollen und den Charakter des Judentums formenden mosaischen Monotheismus handelt, in den Bann ziehen. Zur Hebung des begrifflichen Niveaus der Auseinandersetzung hat insbesondere Yosef Hayim Yerushalmis Buch Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum2 beigetragen. In Yerushalmis Arbeit sind die immensen Kenntnisse des exzellenten Historikers der jüdischen Tradition und Geschichte eingeflossen. Doch so sehr ich Yerushalmis Formulierungsgabe und Urteilskraft bewundere, so sehr zweifle ich, ob er Freud in seinem Buch wirklich gerecht wird. Denn ich möchte behaupten, daß Yerushalmis Hauptkritikpunkt an Freud – der Vorwurf, Freud habe sein Verständnis der jüdischen Tradition weitgehend auf das Fundament eines „diskreditierten Lamarckismus“ gestellt – uns gerade um einige der vielleicht produktivsten und fruchtbarsten Einsichten des Moses-Buchs bringt. Wichtige Anregungen hat meine Studie ferner von Jacques Derridas Dem Archiv verschrieben3 empfangen – eine Arbeit, die über weite Strecken Yerushalmis Buch kommentiert. Aus Gründen, die ich noch näher zu erläutern haben werde, stimme ich mit zahlreichen der kritischen und dekonstruktiven Bemerkungen Derridas überein. Als ich die erste Fassung dieses Buchs fertigzustellen begann, hatte ich schließlich das Glück, noch die Korrekturfahnen von Jan Assmanns Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur4 lesen zu können. Wenngleich Assmann, einer der führenden Ägyptologen, seine detaillierten Kenntnisse der ägyptischen Geschichte, Texte und Theologie zur Interpretation Freuds heranzieht, so liegt doch sein Hauptinteresse auf dem, was er „Gedächtnisgeschichte“ nennt: Assmann untersucht die Stellung des Ägypters Moses innerhalb der Geschichte des kulturellen Gedächtnisses des europäischen Monotheismus. Ich habe versucht, diese äußerst originelle Deutung von Freuds Der Mann Moses in meine Darstellung einzubeziehen. In jedem Fall aber werte ich den Umstand, daß so wichtige und aus so unterschiedlichen Disziplinen und kulturellen backgrounds kommende Denker wie Yerushalmi, Derrida und Assmann sich dem Mann Moses und die monotheistische Religion zugewandt haben, als eine weitere eindrucksvolle Bestätigung des produktiven Potentials, das in Freuds letztem Buch steckt.

 

Ich möchte im folgenden zunächst die Voraussetzungen meiner Freud-Interpretation klären. Wir sind uns, so meine ich, bis heute weder ganz darüber im klaren, was Freud sagt, noch haben wir angemessen die Fruchtbarkeit seines Nachdenkens über den Gehalt der religiösen Tradition und die unbewußten Prozesse ihrer Überlieferung gewürdigt. Ich glaube allerdings auch, daß Freud dem Gehalt des Judentums am Ende nicht gerecht geworden ist. Er neigt dazu, die schöpferische Einbildungskraft der Rituale, Zeremonien, Erzählungen, Bräuche und kulturellen Praktiken zu unterschätzen, die gerade die Mittel zur (bewußten oder unbewußten) Überlieferung dessen sind, was Freud als die große Errungenschaft des mosaischen Monotheismus herausstellt: den Fortschritt in der Geistigkeit. Ich verzichte darauf, diesen Kritikpunkt hier zu entfalten, da ich der Überzeugung bin, daß eine konstruktive Kritik nur an den stärksten und kohärentesten Formulierungen Freuds ansetzen sollte. Dies ist die begrenzte, wenn auch komplexe Aufgabe, die ich mir in diesem Buch gestellt habe.

Für ihre Lektüre des ersten Entwurfs dieser Studie habe ich zahlreichen Freunden zu danken. Ihre instruktiven und kritischen Kommentare waren mehr als hilfreich; sie haben mich dazu bewegt, den gesamten Entwurf noch einmal zu überarbeiten. Ich konnte mir nicht alle Einwände zu eigen machen, bin aber sicher, daß die perspektivenreiche Kritik viel zur Verbesserung des Textes beigetragen hat. Vor allem bin ich dankbar für die Hilfe von Kollegen ganz verschiedener Disziplinen: Carol Bernstein (Literaturwissenschaft), Edward Casey (Philosophie), Louise Kaplan (Psychoanalyse), Wayne Proudfoot (Religionswissenschaft), Joel Whitebook (Philosophie und Psychoanalyse), Nicholas Woltersdorff (Philosophie und philosophische Theologie) und Eli Zeretsky (Geschichte). Ich möchte ferner meiner Forschungsassistentin, Lynne Taddeo, für Rat und Hilfe bei der Vorbereitung meines Manuskripts für die Publikation danken.

Jan Assmann beschreibt, wie er, einmal damit begonnen, die Arbeit an seinem Freud-Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte, um sich anderen Projekten zu widmen, bevor es nicht fertiggestellt war. Der Diskurs über Moses, schreibt er, hatte ein Eigenleben gewonnen, dem man sich nicht entziehen konnte. Auch ich habe diese zwingende Kraft und produktive Unruhe gespürt. Ich bin sicher, daß Freud dies bestens verstanden hätte.

Kapitel 1
Der ägyptische Ursprung des Monotheismus und die Ermordung Moses’
Prolog

Im Dezember 1930 schreibt Freud ein kurzes, aber bemerkenswertes Vorwort für die hebräische Übersetzung von Totem und Tabu:

„Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein.

Für einen solchen Autor ist es also ein Erlebnis ganz besonderer Art, wenn sein Buch in die hebräische Sprache übertragen und Lesern in die Hand gegeben wird, denen dies historische Idiom eine lebende ‚Zunge‘ bedeutet. Ein Buch überdies, das den Ursprung von Religion und Sittlichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Einschränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft, sich mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.

Wien, im Dezember 1930.“1

Wie so viele Passagen der Prosa Freuds ist auch diese Textstelle eigentümlich schnörkellos, komplex und provokativ zugleich. Was meint Freud, wenn er sagt, er sei, ungeachtet seiner Entfremdung von der „väterlichen Religion – wie jeder andern“, dem Wesen nach Jude? Was heißt es, wenn er vermutet, daß dieses Wesentliche „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ werde? Ein Grund für die Provokation, die dieses Vorwort darstellt, dürfte in der äußerst pointierten Formulierung eines Phänomens liegen, das nicht nur Freud, sondern viele säkulare, nicht-gläubige Juden immer wieder versucht haben auszudrücken: daß sie, ungeachtet ihrer Ablehnung der „väterlichen Religion“, wesentlich Juden sind. Wie man der Religion seiner Väter vollkommen entfremdet sein und sich doch in seiner „Eigenart als jüdisch“ empfinden kann, erscheint ausgesprochen paradox. Läßt sich, so muß man fragen, die Religion des Judentums von der spezifischen Eigenart des Judeseins überhaupt trennen? Und die Verwirrung wird perfekt, wenn wir uns vor Augen halten, daß in dem Buch Totem und Tabu, dessen hebräischer Fassung dieses Vorwort vorangestellt war, die Begriffe Judentum, Jude oder Judesein nicht einmal vorkommen.

Hat Freud jemals die von ihm gestellte Frage nach dem „Wesentlichen“ des Judeseins beantwortet – oder zu beantworten versucht? Glaubte er tatsächlich, daß eine solche Antwort „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ würde? Die These, die ich in diesem Buch zur Diskussion stelle, lautet: Freud unternahm in der Tat den Versuch zur Beantwortung dieser Fragen. Und das Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist das zentrale Dokument dieses Versuchs.2 Es ist freilich ein Buch, das seine Leser provozierte und befremdete; ein Buch, das offensichtlich ungeschickt und behäbig geschrieben ist; ein Buch, an dem viele das Nachlassen der schöpferischen und schriftstellerischen Kraft des alternden Freud bemerken wollten; ein Buch, dessen historische Behauptungen reiner Phantasie entsprungen zu sein scheinen – Freuds „prächtiges Luftschloß“3; ein Buch schließlich, das viele als ein Zeugnis des angeblichen jüdischen Selbsthasses Freuds interpretiert haben. Im Licht der ersten Sätze des Buchs scheint meine These allerdings ihrerseits von der oben beschriebenen Paradoxie bestimmt zu sein: „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört.“4

Der Boden für die Beweiskraft meiner These ist bereits von einer Reihe ausgezeichneter Interpretationen bereitet worden: ich meine die Interpretationen Yosef Hayim Yerushalmis, Jan Assmanns und Jacques Derridas.5 Sie alle haben sorgfältige und gedankenreiche Deutungen des vielleicht eigenartigsten Buchs von Freud vorgelegt. Wenngleich ich hier nicht alle Perspektiven und Wege werde erörtern können, die diese Interpretationen uns eröffnet haben (und ich immer auch anzugeben versuche, wo ich den Weg dieser Interpretationen verlasse), so möchte ich doch hervorheben, wieviel ich ihnen verdanke.

Allem zuvor scheint mir noch ein Vorausblick und eine Warnung angebracht. Wenn Freud in Aussicht stellt, das Wesen des Judentums werde „später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“, und sein Vorwort mit den Worten schließt, daß „die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann“, so meint er mit dieser Wissenschaft natürlich die Psychoanalyse. Freud war der festen Überzeugung, daß man den Gehalt der Religion (und den des Judentums insbesondere) ohne die Einsichten der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse kaum zureichend würde begreifen können. Allerdings vermeidet Freud jede simple Reduzierung der Religion auf Psychoanalyse. Er hebt ausdrücklich und emphatisch hervor, daß wir im Verständnis religiöser Phänomene mit monokausalen Erklärungen und einfachen Herleitungen nicht weiterkommen. Entsprechend läßt er den vierten Aufsatz von Totem und Tabu (der Teil, in dem Freud seine Hypothese vom Ursprung des Totemismus in der „Beseitigung des Urvaters durch die Brüderschar“6 darlegt), mit den Worten beginnen:

„Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist; eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als auch die Absicht des Psychoanalytikers.“7

Die Versuchung, die Lehrbegriffe der Psychoanalyse einfach auf Freud selbst anzuwenden – insbesondere mit Blick auf seine jüdische Herkunft und die Bedeutung der Moses-Studie – ist selbstverständlich groß. Entsprechend haben manche Interpreten versucht, Freud „auf die Couch“ zu legen. Sie spekulieren über die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater Jakob vor dem Hintergrund der Freudschen Hypothese über die Israeliten und der Beziehung zu ihrer Vaterfigur Moses. Ich halte es für unerläßlich, solchen Versuchungen zu widerstehen und sich an die Argumente und Begründungszusammenhänge zu halten. Freud selber befragt fortwährend die Argumente, die er in den drei Abhandlungen seines Moses-Buchs zur Diskussion stellt. Die Frage ist nur: Wie überzeugend sind sie? Da Freuds Vermutungen zuweilen weit hergeholt oder gar miteinander unvereinbar scheinen, haben seine Interpreten allzu schnell nach einem geheimen Sinn oder aber nach äußerlichen Deutungsmustern dafür gesucht, warum Freud das schreibt, was er schreibt. Die erste Aufgabe des Interpreten besteht jedoch darin, auf den Gehalt des Gesagten genau zu achten und den zentralen Thesen und Argumenten des Textes gerecht zu werden. Ich werde aus diesem Grund Freud in extenso zitieren und den Linien seiner Argumentation genau zu folgen versuchen. Ein solches close reading macht es freilich erforderlich, zentrale Passagen aus dem Freudschen Werk noch einmal ausführlich in Erinnerung zu rufen, um ihre volle Bedeutung herausarbeiten zu können.

 

In seinem berühmten Versuch über Freud, Die Interpretation, hat Paul Ricœur seine – inzwischen gebildetes Allgemeinwissen gewordene – Unterscheidung zwischen den zwei einander entgegengesetzten Formen der Hermeneutik eingeführt. Er unterscheidet eine reduktive und entmystifizierende Hermeneutik, eine Interpretation als „Übung des Zweifels“ und eine nicht-reduktive und restaurative Hermeneutik, eine Interpretation als „Sammlung des Sinns“.8 Mit Blick auf diese beiden Arten der Interpretation hat man in der Regel (besonders im Zusammenhang von Freuds Moses) der Hermeneutik des Zweifels den Vorzug gegeben. Zwischen den beiden entgegengesetzten Weisen besteht aber eine komplexe dialektische Beziehung – ein Punkt, auf den, was leider meist übersehen wurde, Ricœur stets selbst hingewiesen hat: Beide Seiten setzen sich wechselseitig voraus. Denn der Prozeß der Entmystifizierung kommt gar nicht erst in Gang, bevor wir nicht sorgfältig den manifesten Textsinn erfaßt haben. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung für die Aufdeckung und Entmystifizierung des Textes. Es gibt in Freuds Argumentation zahlreiche Stellen, an denen eine ernste, mitunter vernichtende, Kritik einhaken muß – und ich werde nicht zögern, solche Stellen aufzuzeigen. Aber der grundlegende Standpunkt, den ich in dieser Studie einnehme, ist der hermeneutische Grundsatz, der besagt, man müsse stets den jeweils stärksten Punkt der Argumentation hervorheben. Ich tue dies nicht aus Einverständnis mit Freud oder weil ich seine Charakteristik des Wesens der jüdischen Religion im ganzen überzeugend fände, sondern weil die Kraft und die Reichweite der Freudschen Theorie über Religion, Tradition, die jüdische Religion und ihr Überleben bislang nicht ausreichend dargelegt und aufgearbeitet worden ist.