Menschen, die Geschichte machten

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Aus der Reihe: marixwissen
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Menschen, die Geschichte machten
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Dr. Michael Neumann, geb. 1951 in München, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er hat Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Münster studiert und zahlreiche Artikel, Bücher, Rezensionen und Aufsätze zu literaturwissenschaftlichen Themen veröffentlicht.

Zum Buch
MYTHEN EUROPAS:
DIE SCHLÜSSELFIGUREN DER ANTIKE

Ob Gilgamesch, Caesar oder Kleopatra – aus der Antike sind zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen, deren Wirkung und Ausstrahlungskraft überzeitlich und überregional sind. Noch heute sind sie im kollektiven Gedächtnis der Menschen präsent und gelten als Schlüsselfiguren. Welche Bedingungen bestimmen ihre Faszination und ermöglichen die Entstehung von Mythen um diese Gestalten? Dieser Frage geht das Buch anhand ausgewählter Persönlichkeiten aus der Antike nach. Unter anderem: Nero, Constantin der Große, Homer, Kleopatra, Gilgamesch.

Menschen, die Geschichte machten

Michael Neumann (Hrsg.)

Menschen, die
Geschichte machten

Die Antike


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Alle Rechte vorbehalten

Genehmigte Lizenzausgabe

für marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013

© by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2004

Lektorat: Hans Joachim Kuhn, Schenklengsfeld

Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag

nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin/Erich Lessing

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0383-0

www.marixverlag.de

INHALT

Einleitung

von Michael Neumann

Gilgamesch, König von Uruk

„Der, der alles sah“

von Stefan M. Maul

Homer

Die Erfindung des Autors

von Barbara Graziosi

Alexander der Große

Mythos macht Geschichte

von Hans-Joachim Gehrke

Der Raub der Sabinerinnen

Gewaltsame Assimilation

von Susanne Gödde

Caesar

Der „erste unter den Menschen“

von Hans Jürgen Tschiedel

Kleopatra

Genese einer Schönheit

von Manfred Clauss

Nero

Der Herrscher als Künstler

von Jürgen Malitz

Constantin der Große

Visionär, Opportunist oder Pragmatiker?

von Pedro Barceló

Antonius der Einsiedler

Mythos Mönchtum

von Andreas Merkt

Der Rationalitätsanspruch der Augustinischen Christologie

Philosophische Bemerkungen zu Augustins Bekenntnissen

von Norbert Fischer

Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Editorische Vorbemerkung

Die mittlerweile rund 80 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte machten – Die Antike vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe „Mythen“, „Europa“ und „Schlüsselfiguren“ sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.

EINLEITUNG

Europa besteht nicht nur aus den Königen und Feldherrn, den Reichsgründungen und Eroberungszügen, den Siegen und Niederlagen, von denen die alte Geschichtsschreibung erzählt; nicht nur aus den Strukturen und Systemen, welche die neuere Geschichtswissenschaft modelliert; nicht nur aus den Dichtern und Denkern oder den abendländischen, westlichen Werten, die Redner bei feierlichem Anlass beschwören; nicht nur aus Brüsseler Finanzausgleich, Normenvereinheitlichung und Vorschriftenflut, auf die sich an Stammtischen und in Leitartikeln trefflich schimpfen lässt. Europa ist zunächst und zuerst ein geographischer Raum, in dem über Jahrtausende Menschen gelebt haben und vielfältig, in Austausch wie in Kampf, miteinander umgegangen sind; in dem die verschiedensten politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen Mächte nebeneinander existiert, einander überlagert, bekriegt und abgelöst, in jedem Fall aber: aufeinander gewirkt haben. So wurde daraus der geistige, imaginative und emotionale Raum einer viel strängigen und doch gemeinsamen Geschichte. Diese Geschichte lässt sich nicht nur beschreiben als Folge von Ereignissen oder als Wandel von Strukturen, sondern auch als ein seit vielen Jahrhunderten anwachsendes und sich umgestaltendes Reservoir von Erfahrungen. Menschliche Erfahrung wird auf zahllosen Wegen tradiert: von Essgewohnheiten und Höflichkeitsformen über Handwerkstraditionen und technisches Wissen bis zu Lebensformen, Rechtsordnungen und philosophischen Systemen, Werken der Kunst sowie Verheißungen und Normen der Religion. Tradition umfasst den ganzen großen Bereich der Kultur.

SCHLÜSSELFIGUREN DER IMAGINATION

Eine besondere Kraft wirkt in diesem Bereich aus der Artikulation von Erfahrung in Figuren und Geschichten. Indem die Menschen einander erzählten, was ihnen widerfuhr, wurde es überschaubar und so konnten sie es begreifen. Indem sie Kindern und Enkeln davon berichteten oder es niederschrieben, gaben sie nicht nur ihre Erfahrungen weiter, sondern auch ihre Arbeit an diesen Erfahrungen. Und indem die Nachgeborenen diesen Geschichten zuhörten, indem sie sie weitererzählten und in neue Bücher gossen, eigneten sie sich diesen Schatz geformter Erfahrung an und veränderten ihn zu eigener Weltkenntnis. Denn es zeichnet den Menschen vor den Tieren aus, dass er über ungleich mehr Erfahrungen verfügt als er selbst je machen könnte.

Figuren und Geschichten aber reichen die Erfahrungen früherer Generationen nicht einfach weiter, sondern unterwerfen sie der narrativen Arbeit. Bei jedem Erzählen und jeder Lektüre wird die Geschichte neu zur Diskussion gestellt: zu neuer Deutung, neuer Bewertung und verändertem Weitererzählen. Zudem tradiert das Erzählen ja nicht nur Vergangenes, es entwirft auch Zukünftiges und erprobt, was noch unbekannt ist, aber möglich werden könnte. Damit gerät die erinnerte Erfahrung unter die Macht schöpferischer Phantasie. Diese kann durchspielen, welche Möglichkeiten und Gefahren die Tradition im Angesicht gegenwärtiger Nöte und Herausforderungen bereithalten mag. Wenn etwa die Tragödien der Aischylos, Sophokles und Euripides bei den alljährlichen Dionysosfesten vor großer Volksversammlung aufgeführt wurden, dann vergegenwärtigten sie den Athenern nicht nur altbekannte Mythen. Sie boten ihnen auch ein unvergleichliches Medium, um sich im Stoff des allseits Bekannten die Probleme vor Augen zu fuhren, welche ihnen der rasche politische und soziale Wandel während ihres „klassischen“ Jahrhunderts zumutete.1 Die Übertragung in die altvertrauten mythischen Konturen verfremdete die aktuelle Problemlage. Das konnte dazu verhelfen, gegenüber dem rasch und mächtig Andrängenden Abstand und geistige Klarheit zu gewinnen. Manchmal presste es das Unbekannte freilich auch nur in alt vertrauten Stereotypen von fragwürdiger Passform. Allemal bezogen die Gestalten und Geschichten des Mythos jedoch das dringlich Neue zurück auf die religiösen und ethischen Fundamente des Gemeinwesens. Sie prüften das Tradierte auf seine Fähigkeit zu gegenwärtiger Aktualisierung, aber sie konfrontierten auch das Aktuelle mit dem Maß der Tradition. Im Umschreiben bekannter Stoffe erkundete die Freiheit der Dichter neue Möglichkeiten, trieb deren Konsequenzen heraus und legte sie dem öffentlichen Urteil vor.

 

Die Verarbeitung von Erfahrung durch Figuren und Geschichten besitzt eine weitere Eigenheit: sie spricht nicht nur zur abwägenden Vernunft und zu der das Mögliche auslotenden Imagination der Menschen, sondern auch zu ihren Emotionen. Wer eine Geschichte, wer die Schicksale der Hauptfiguren mitvollzieht, bleibt nicht unbeteiligt. Er wird hineingezogen, wird mitgerissen zu Lust und Schmerz, Neugier und Schrecken, Sehnsucht und Angst, Stolz und Wut, Mitgefühl und Abwehr und anderem mehr. Auch solche Emotionen sind letztlich verarbeitete Erfahrung – allerdings von einer sehr viel älteren und anderen Art als die kulturelle Tradition. Sie haben sich in einer Jahrmillionen währenden Evolution herausgebildet, an der die Menschheit nur in einem späten, kurzen Zeitstück teilnahm. Sie verarbeiten Erfahrung, insofern sie bestimmte elementare Chancen und Gefahren der Umwelt „wiedererkennen“ und das Tier oder den Menschen auf schnellstem Wege in eine Verhaltensbereitschaft versetzen, die sich im Verlaufe der Evolution bewährt hat. Wer in eine ängstigende Situation gerät, ist unwillkürlich „auf dem Sprung“; wer Neugier fühlt, wird näher gezogen; wer in Zorn gerät, stellt sich auf Angriff ein.

Die moderne Gehirnforschung lokalisiert die Emotionen in gattungsgeschichtlich besonders alten Teilen des Gehirns. Dazu stimmt eine gewisse Tendenz der Emotionen, „unwillkürliche“ Reaktionen zu veranlassen und also den „Umweg“ über die rationale, differenzierende Arbeit des Großhirns abzukürzen. Die Juristen sprechen dann von Handlungen „im Affekt“. Andrerseits haben auch die Emotionen die Evolution zum Säugetier, zum Primaten und schließlich zum Menschen mitvollzogen. In dem System ‚Gehirn‘ kooperieren alle Teile miteinander, ungeachtet ihres unterschiedlichen gattungsgeschichtlichen „Alters“. In solch einem System bleibt kein Teil unbetroffen, wenn andere Teile sich verändern. Die Emotionen des Menschen, wie weit auch immer ihre Wurzeln in vormenschliche Dispositionen zurückreichen, sind doch immer Emotionen des Menschen. Und diese Spezifizierung reicht noch weiter. Der Mensch ist, wie bereits erwähnt, von Natur aus ein Kultur-Wesen: er verfügt kraft Bewusstsein und Gewohnheit über mehr Erfahrungen, als er selbst gemacht hat. Zwar zählt die Ausstattung mit einem bestimmten Kreis elementarer Emotionen zweifellos zu den anthropologischen Universalien: alle Menschen haben sie gemeinsam. Aber die individuelle Ausbildung, die konkrete Auslösung und Auswirkung einzelner Emotionen wird doch stark von kulturellen und historischen Umständen geformt. Manches, was einem heutigen Bürger Westeuropas die Zornesröte ins Gesicht treibt, hätte einem deutschen Bauern des 13. Jahrhunderts den Gleichmut ebenso wenig gestört wie einem chinesischen Handwerker der Gegenwart. Manches, was einen Japaner mit tödlicher Scham erfüllte, ist einem Nordamerikaner kaum ein Achselzucken wert. Dies ist ein zentrales Thema der Historischen Anthropologie.

Der Umgang mit Figuren und Geschichten erfasst in besonderem Maße den ganzen Menschen: seine Erinnerung und seine Phantasie, seine Rationalität und seine Emotionalität, sein Bewusstsein und sein Unbewusstes. Die Beschäftigung mit Schlüsselfiguren der Imagination verspricht, Wege zu diesem ganzen Spektrum menschlicher Erfahrung zu öffnen. Eine Figur wird zur Schlüsselfigur der Imagination, indem sie Verstand, Phantasie und Emotion sehr vieler Menschen einer bestimmten Region oder sogar einer ganzen Epoche in Bewegung setzt. Von Bedeutung ist für dieses Konzept also nicht der Einfluss, den eine historische Gestalt durch ihr Handeln in der politischen oder sozialen Geschichte erzielt, sondern ihre Ausstrahlung im Raum des Imaginären. Wohl sind gewaltige historische Wirkungen ausgegangen von Benedikt von Nursia, der dem europäischen Ordensleben seine Form geschaffen hat, von Kaiser Justinian, der im ‚Corpus Iuris civilis‘ das römische Recht kodifizieren ließ, von Johann Gutenberg, der den Buchdruck mit beweglichen Lettern einführte, – aber keiner von ihnen hat eine größere Rolle im Raum der kollektiven Imagination gespielt. Umgekehrt können in diesem Raum sogar offenkundig fiktive Figuren eine große Eindruckskraft entfalten. Kraft ihrer Macht über die kollektive Imagination beeinflussen sie dann auch die politische und soziale Geschichte. Dichter wie Rudolf Borchardt oder Reinhold Schneider haben ohnehin immer gewusst, dass „die Schatten und großen Bilder in der Geschichte oft weit mächtiger wirken als die Menschen aus Fleisch und Blut“.2 Die neuere Forschung entdeckt sie als einen wesentlichen Teil jener „symbolischen Praxis“, die Ethnologen wie Clifford Geertz, Historiker wie Lynn Hunt und Literaturwissenschaftler wie Stephen Greenblatt beschäftigt.

Der Kreis ist also weit zu ziehen. Neben fraglos historischen Figuren, die – wie Karl der Große, Franz von Assisi oder Jeanne d’Arc – die kollektive Imagination erobert haben, und Gestalten von so zweifelhafter historischer Faktizität wie König Artus umfasst er auch poetische Neuschöpfungen wie Faust, Don Juan, Robinson Crusoe oder Dr. Jekyll & Mr. Hyde. Dazu tritt die neue Aneignung älterer mythopoetischer Figuren, wie sie um 1800 Prometheus, um 1900 Salome oder im 20. Jahrhundert Ödipus widerfahren ist, und der auffällige Wechsel in der imaginativen Erscheinung: bis ins 12. Jahrhundert wurde Christus bildlich vor allem als Richter und König vorgestellt; danach trat die Darstellung als Leidensmann am Kreuz in den Vordergrund.

Dass Schlüsselfiguren zu einer bestimmten Zeit die Imagination einer sehr großen Zahl von Individuen intensiv beschäftigt, ja – im Sinne Aby Warburgs – besessen haben, zeigt, dass sie in besonderem Maße Hoffnungen, Wünsche, Ängste oder Konflikte dieser Menschen bündeln. Daher will die Vortragsreihe MYTHEN EUROPAS an ihnen das Wechselspiel der Kräfte herausarbeiten, das im Raum der Imagination am Werke ist: Welche Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Konflikte haben Menschen in eine bestimmte Figur projiziert und an ihrer Geschichte durchgearbeitet? Warum gewinnt gerade diese Figur zu dieser Zeit solch dringliche Aktualität? Welche Strategien der Idealisierung, Identifikation, Projektion, Kompensation, Abwehr provozierte, befriedigte oder kanalisierte sie in den Menschen?

UMFELD DER FORSCHUNG

Die Fragestellung bewegt sich im Rahmen des Forschungsinteresses, welches die kulturelle Erinnerung zunächst im ersten Drittel und dann wieder in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf sich gezogen hat. Seit etwa 1900 suchten vereinzelte Historiker in Frankreich wie in Deutschland die Geschichtswissenschaft durch Sozial- und Kollektivpsychologie zu erweitern. Andere postulierten, oft mit Rückgriff auf Nietzsche, einen unhintergehbaren Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Poesie.3 Geschichte wurde darüber zu einer veränderlichen Größe, und das Maß ihrer Veränderung war jeweils in der Gegenwart zu finden: „Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!“ Nietzsche4 spricht hier zwar von den „großen“, also den geschichtsprägenden Individuen, die nicht nur Mit- und Nachwelt in eine neue Richtung zwingen, sondern auch auf ihre Vorwelt neues Licht werfen. Aber mancher Historiker hat rasch begriffen, dass ihm selbst eine vergleichbare Macht über die Vergangenheit zukommt. Einflussreich waren hier etwa die zum Jahrhundertbeginn vielgelesenen Schriften des Philosophen Benedetto Croce. Natürlich gab es Nietzsche-Leser auch unter den Kunst- und Literarhistorikern. „Es ist notwendig, das Gedankenwerk einer einheitlichen Historie zu zerstören, jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl.“ So bestimmte 1910 Carl Einstein – avantgardistischer Poet und Pionier einer modernen Kunstgeschichte – den aktuellen Stand der Kunsthistorie.5

In den zwanziger Jahren begann der Psychologe Frederic Bartlett daran zu zweifeln, dass die Erinnerung ihre Gegenstände so aus dem Gedächtnis greifen könne, wie man des Abends einen guten Wein aus dem Keller holt. Seine Experimente ließen eher auf eine aktiv rekonstruierende Tätigkeit schließen: im aktuellen Vorgang des Erinnerns werden Erinnerungsreste neu zusammengesetzt und dabei unvermerkt dem gegenwärtigen Stand von Wissen, Ansichten und Bedürfnissen angepasst. Ebenfalls auf die Regentschaft der Gegenwart über die Vergangenheit stieß der Soziologe Maurice Halbwachs: in ungeahntem Ausmaß hängt jede individuelle „Rekonstruktion der Vergangenheit“ von dem kollektiven Gedächtnis ab, dem das erinnernde Individuum gerade angehört. Der Kunsthistoriker Aby Warburg entwarf die Geschichte der kulturellen Erinnerungen als ein gefahrenreiches Drama: von Epoche zu Epoche erneuert sich der Kampf zwischen magischem Bann und rationaler Distanz, zwischen Selbstverlust und Stabilisierung des Selbst.

Bartlett, Halbwachs und Warburg fanden nur zögernd Gehör. Und der tastende Entwurf, zu dem Friedrich Heer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel einer Europäischen Geistesgeschichte Religions-, Philosophie-, Kunst-, Psycho- und Sozialgeschichte in eins zu arbeiten versuchte, blieb als ein umschwiegener Monolith am Wege liegen. Am Ausgang des Jahrhunderts aber wurden die Anstöße der zwanziger Jahre wieder aufgegriffen. Paul Ricoeur legte auf dem Grund aller Geschichtsschreibung ihre narrativ erzeugte Einheit frei. Jan Assmann unterteilte Maurice Halbwachs’ kollektives Gedächtnis in die „kommunikative“ und die „kulturelle Erinnerung“. Die kommunikative Erinnerung lebt aus dem persönlichen, mündlichen Umgang der Menschen. Die kulturelle Erinnerung vermittelt sich über Riten, Symbole, Bilder und Texte; auf ihr gründen Religion, Recht und jede politische Organisation. Der Gestaltwandel der Erinnerung, den die Erfindung der Schrift mit sich bringt, eröffnete neue Möglichkeiten in all diesen Bereichen – die Erforschung der kulturellen Erinnerung gerät so in Kontakt mit den neuen, rasch ausgreifenden Medienwissenschaften. Besondere Aufmerksamkeit hat die Wirkung von Bildern und Figuren in den letzten Jahren daher vor allem dort gefunden, wo sie sich mit dem Aufkommen neuartiger Medien verband. Ein Beispiel bieten die in der Reformationszeit geradezu inflatorisch genutzten Flugblätter. Sie waren durch die Erfindung des Buchdrucks rasch und billig herzustellen. Ihre weithin propagandistische Absicht ließ die Künstler auf eine möglichst effektvolle und affekterzeugende Gestaltung achten. Ihr massenhafter Vertrieb machte es möglich, wirkungssteigernde Techniken durch Erprobung zu erkennen und fortzuentwickeln. Die Ergebnisse hat Aby Warburg – analog zu „Schlagworten“ – als „Schlagbilder“ bezeichnet.6 Solche Techniken gehören überwiegend in den Bereich der Bildrhetorik, doch entfalteten auch bestimmte figurale Motive eine starke Durchschlagskraft; so etwa die Denunziation der katholischen Kirche als „Hure Babylons“, die nicht nur in Luthers Schriften, sondern auch in der Ikonographie der Flugblätter eine beherrschende Position erlangte. Epochenübergreifend hat sich dann der Teufel als die beliebteste Hauptfigur in der propagandistischen und satirischen Graphik durchgesetzt. Obwohl er dabei weit in Gefilde vordrang, deren Bewohner den Teufelsglauben entschieden von sich gewiesen hätten, will der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich darin keine rein metaphorische Verwendung sehen:7 „Je mehr wir von Gefühlen gepackt sind, desto größer ist die Versuchung, in irrationale Anschauungen zurückzufallen, die einen Teil unseres Kulturerbes ausmachen.“

Der Siegeszug eines neuen Mediums hängt freilich nicht nur von den technischen Möglichkeiten ab, sondern auch von den aktuellen Bedürfnissen. In der Reformationszeit schuf der Meinungskrieg der Konfessionen ein solches Bedürfnis. Während der Französischen Revolution löste dann die Radierung den Kupferstich als das beliebteste Medium ab: da sie ungleich rascher verfertigt wurde, konnte sie prompter auf die öffentliche Diskussion einwirken. Zwar war die Radiertechnik schon im 16. Jahrhundert erfunden worden, aber erst das revolutionäre Bedürfnis nach Aktualität brachte ihre technische Überlegenheit zum Tragen. Die Auswertung dieser weitverbreiteten wirkungsstarken Bilder, Figuren und Szenen für die Erforschung der Französischen Revolution wie der Entstehung des Nationalbewusstseins und des Nationalgefühls8 geht wohl nicht zufällig mit dem Aufblühen der Medienwissenschaften Hand in Hand.

 

Einen anderen Zugang zum kulturellen Gedächtnis eröffnete Pierre Nora mit seinem Konzept der „Lieux de memoire“, der „Erinnerungsorte“. Den Begriff entlehnte er einer Technik, mit der die antike Rhetorik das Auswendiglernen einer Rede erleichterte: Der memorierende Redner geht im Geiste durch einen ihm wohl bekannten Raum und „befestigt“ jede Etappe seines Textes an einer bestimmten Stelle; während er die Rede dann hält, schreitet er insgeheim diese „Erinnerungsorte“ wieder ab. Entsprechend sammelt Nora Gegenstände des französischen Kollektivgedächtnisses, an welche die nationale Erinnerung immer wieder zurückkehrt oder französisches Selbstgefühl sich unwillkürlich bindet – von der Krönungskathedrale in Reims bis zur Gestalt Napoleons, von der Encyclopedie der Aufklärer bis zum Pariser Café –, und fügt sie so zum „Haus“ der französischen Erinnerung zusammen. Etienne Francois und Hagen Schulze haben dieses Konzept soeben auch an der deutschen Geschichte erprobt. Wird von „Orten“ dabei in übertragenem Sinne gesprochen, so hatte Maurice Halbwachs sich bereits 1941 realen Orten zugewandt: den heiligen Stätten Palästinas. An diesen scheinbar uralt-dauerhaften Orten entdeckt der Historiker über die Jahrhunderte einen Wandel der Bedeutungen, aus dem er Wandlungen im kollektiven Gedächtnis der christlichen Pilger ablesen kann. Auch sonst provoziert der konkrete Raum in besonderem Maße die Anlagerung kollektiver Erinnerungen: Im Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen, Nationen und Epochen zeigte Simon Schama, wie Grundelemente der Landschaft für die kollektive Erinnerung beansprucht werden.

All diese Untersuchungen kommen darin überein, dass in jeder Erinnerung konstruktive Kräfte am Werk sind, welche Direktiven und Antrieb von der Gegenwart der erinnernden Individuen und Kollektive empfangen. Die Erinnerung holt ihre Gegenstände nicht unverändert aus Speichern oder Kellern, sondern geht – teils unbewusst, teils bewusst – durchaus schöpferisch mit den ihr verbliebenen Gedächtnisspuren um. Nun war das den Historikern zwar auch früher schon bekannt, hatten sie doch von jeher ihre Mühe und Plage mit all den Verderbnissen, die eine „kreative“ Erinnerung in ihren kostbaren Quellen angerichtet hatte. Ihre Haltung war aber grundsätzlich kritisch: Wer herausfinden wollte, „wie es eigentlich gewesen“ ist, der musste seine Quellen so weit als irgend möglich von diesen Verderbnissen reinigen. Allenfalls sah er noch nach den Interessen, die sich an bewussten Manipulationen ablesen ließen: „cui bono?“, „wem nützt es?“ ist der Geschichtswissenschaft von alters her eine geläufige Frage.

Diese kritische Grundhaltung wurde weiter verschärft von den drei großen „Meistern des Zweifels“:9 Marx betrachtet die ganze Sphäre des Geistigen, einschließlich von Kultur und Religion, als einen bloßen „Überbau“, der strikt determiniert werde vom „Unterbau“ der ökonomischen Produktivkräfte; Nietzsche erklärt alle bewussten Erkenntnisse und Absichten als Fiktionen des „Willens zur Macht“; Freud sucht die Oberfläche des Bewusstseins zu durchdringen, um im Unbewussten die Ursachen all jener Verdrängungen, Verzerrungen und Selbsttäuschungen zu finden, die das Bewusstsein entstellen. Der in diesen Theorien mächtig artikulierte Zweifel an der Fähigkeit des Menschen zu klarer Erkenntnis und freier Entscheidung schöpfte furchtbare Bestätigung aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts inmitten Europas. So knüpften viele Wissenschaftler – nach zwei Weltkriegen, nach der Judenvernichtung der Nationalsozialisten, nach Stalins Massenmorden – bei diesen Meistern des Zweifels an, als es darum ging, zu begreifen, was niemand sich hatte vorstellen können. Entsprechend gestaltete sich die Ideologiekritik der Frankfurter Schule, die Diskursanalyse Michel Foucaults, der Dekonstruktivismus Jacques Derridas und all die Unternehmungen, die in deren Kielwasser folgten, zu einer Pathographie des menschlichen Bewusstseins.

Die neueren Forschungen zur kulturellen Erinnerung beziehen die Erinnerung an diese Katastrophen ein, nehmen sie aber meist nicht als den zwingenden Ausgangspunkt aller geschichtswissenschaftlichen Reflexion. Sie setzen an bei den grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten von Erinnerung. Der Mensch kann gar nicht anders, als aktiv – „konstruktiv“, auch „imaginativ“ – umzugehen mit seiner Vergangenheit wie mit seiner Gegenwart. Darin gründet seine Fähigkeit, den Andrang der Wirklichkeit nicht nur passiv zu erdulden, sondern ihm gestaltend zu begegnen. Die Drohung von Hunger, Armut, Not und Leid zwingt ihn, sich dieser Fähigkeit auch zu bedienen. Wie ihm das dann ausschlägt – in zeitweiligem Glück oder in Zerstörung und Grauen, in notdürftigem Überleben oder spürbarer Besserung der Lebensbedingungen –, das ist jeweils offen.

Das Konzept der „Schlüsselfigur“, auf dem die Vortragsreihe MYTHEN EUROPAS aufbaut, konzentriert sich im Feld der Erinnerungsforschung auf die Entstehung erinnerungsprägender Gestalten: Welche Gegenwart hat die Menschen disponiert für eine Schlüsselfigur? Zum „Schloss“ welcher Wünsche und Bedürfnisse bietet sie den „Schlüssel“? Auf welche Sehnsüchte und Ängste gibt sie eine Antwort? Da Schlüsselfiguren, wie oben skizziert, die verschiedensten kognitiven und psychischen Anliegen bündeln, könnten sie auch Zugänge für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen eröffnen, die anderwärts nur unter Schwierigkeiten zu Material und Quellen kommen. Die Geschichte der Emotionen findet hier Ansatzpunkte; ebenso die Psychohistorie mit ihrer schwierigen Suche nach den unsteten Grenzen zwischen ‚bewusst‘ und ‚unbewusst‘ oder mit ihrer Analyse epochal typischer Verdrängungen. Figuren besitzen meist eine kaum zu beherrschende Mehrdeutigkeit. Sie wirken auf den Betrachter über mehr Kanäle, als die bewusste Vernunft übersehen kann. Und die strategische Absicht, die sie in Dienst zu nehmen versucht, wird oft genug durch höchst unerwartete Deutungspotentiale überrascht. Während die Geschichtsbücher meist von den Siegern geschrieben werden, kann in die Schlüsselfiguren auch eingehen, was die Unterlegenen umtreibt. Während unsere Geschichtsquellen meist das Weltbild der Elite dokumentieren, können Schlüsselfiguren auch Welterfahrung der ungebildeten Bevölkerungsschichten aufnehmen.

Schlüsselfiguren sind Gebilde der kollektiven Imagination. Aber sie werden das nur, indem sie zahlreiche Individuen bewegen. So weist dieses Konzept auch einen Zugang zu den einzelnen, konkreten Menschen. In ihnen überschneiden sich die Linien der verschiedenen Strukturen. In ihnen überlagern sich die Rückkopplungsschleifen der verschiedenen Systeme. An sie richten die „Rahmen“ verschiedener Lebenskreise unterschiedliche und oft genug auch gegensätzliche Anforderungen. So abhängig und ausgeliefert sich der konkrete Einzelne auch immer fühlen mag gegenüber dem „großen Ganzen“ und seinen Widersprüchen: nur in ihm fallen die tausend einzelnen Entscheidungen – meist alltäglich, manchmal außergewöhnlich, allemal von höchst unterschiedlicher und unabsehbarer Reichweite –, deren Impulse die Geschichte bewegen. Historiker wie Georges Duby und Arno Borst10 haben immer wieder daran erinnert, dass hier der Ausgangspunkt aller Geschichtsforschung liegt.

Was der Historiker als komplexen Wechselzusammenhang verschiedener Strukturen, Systeme und Prozesse rekonstruiert, bezieht vieles ein, das den Zeitgenossen unsichtbar blieb – den Akteuren wie den Opfern. Der erlebende, erleidende und gestaltende Mensch nimmt das, was ihm widerfährt, in Mustern des Narrativen oder Dramatischen wahr: als Geschichten von Leid und Glück, Angst und Hoffnung, Konflikt, Bedrückung und Bewahrung, als ein Drama widerstreitender Gewalten und Personen, in dem jede Figur ihre Ziele verfolgt, ohne das Ganze zu überblicken. Für Aby Warburg haben sich die Linien des Dramas konzentriert zu einem immerwährenden Kampf zwischen der Versuchung zu magischem Rückschlag und Selbstverlust auf der einen und der Selbstbehauptung durch rationale Distanzierung auf der anderen Seite. Das Pathos, mit dem er an dieses Drama immer wieder erinnerte, war genährt von eigenem Erleben: seinem geistigen Zusammenbruch und seinem siegreichen Kampf über die Erkrankung. Den Zugriff der Kunstgeschichte weitete er aus auf Gegenstände des religiösen Umgangs und Werke der „Volks“- und Gebrauchskunst. Sie alle entzifferte er als Symptome des welthistorischen Dramas; in den Werken der großen Kunst sah er aktive Kombattanten. Eine ähnliche Konfliktlinie liegt der populär gehaltenen, aber gleichwohl bemerkenswerten Skizze einer Kunstgeschichte Europas zugrunde, die Kenneth Clark 1969, unter dem noch spürbaren Schock der 30er und 40er Jahre, als Zivilisationsgeschichte schrieb; ihr erstes Kapitel heißt ‚The Skin of our Teeth‘,11 „mit knapper Not davongekommen“. Das Wahrnehmungsmuster des Dramas ist über die Leitmetapher vom „Theatrum Mundi“ bis zurück in die griechische Antike bezeugt. In den neueren Wissenschaften vom Menschen taucht es an den verschiedensten Stellen wieder auf, von Erving Goffmans Soziologie der Rolle über Hans Urs von Balthasars Theodramatik bis zur Ethnologie Victor Turners. Die Voraussetzungen, die ein Drama bedingen, und die Mächte, die es durchherrschen, können die verschiedensten Formen annehmen, im sichtbaren Zentrum stehen doch immer reflektierende und handelnde Figuren. Von daher fällt noch einmal Licht auf die Schlüsselfiguren einer Epoche: Als Figuren helfen sie dem Menschen, seine eigene Existenz als die einer Figur im Drama der Gegenwart zu begreifen; und umgekehrt tritt ihm in ihnen als Schlüsselfiguren zeitgenössisch Dringliches in der Gestalt fassbarer dramatischer Figuren entgegen.