Menschen, die Geschichte machten

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Aus der Reihe: marixwissen
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Die allgemeine Haltung der modernen Forschung ist diese: Die antiken Legenden sind ein Produkt der Imagination und enthalten keine verlässlichen Angaben darüber, wie die Epen tatsächlich entstanden; deshalb sollten sie beiseitegelegt und durch moderne Theorien über die Identität Homers ersetzt werden. So argumentiert zum Beispiel explizit Joachim Latacz in seinem Buch Homer; der erste Dichter des Abendlands. Ihm zufolge verfügten die alten Griechen weder über Mittel noch Methoden, die homerischen Epen richtig zu interpretieren, und sie kamen deshalb – anders als Latacz selbst – zu falschen Schlüssen über die Identität Homers. Diese Einstellung zu den alten Legenden ist denjenigen Wolfs erstaunlich ähnlich. Die antiken Biographien werden nur erwähnt, um sie zugunsten der überlegenen Errungenschaften moderner Forschung sogleich wieder zu verwerfen.

Ich habe zwei Momentaufnahmen charakteristischer Haltungen gegenüber den antiken Homerbiographien gegeben: eine vom Ende des 18. Jahrhunderts, die andere aus dem späten 20. Jahrhundert. Zusammengenommen zeigen sie, wie die moderne Suche nach Homer die antiken Vorstellungen letztlich überdeckt hat. Die Homerviten wurden entweder als Schatzkarten bzw. Touristenführer benutzt oder gänzlich aus dem Bereich ernsthafter Forschung verbannt. Aber die Tatsache, dass die antiken Geschichten über Homer ein Produkt der Imagination sind, sollte nicht automatisch zu ihrer völligen Vernachlässigung durch die Forschung führen. Mit derselben Begründung hätten wir das Studium der gesamten griechischen Mythologie aufzugeben. Die schöne Helena beispielsweise mag nie gelebt haben, dennoch schätzen wir uns glücklich, die antiken Darstellungen dieser faszinierenden Frau untersuchen zu können. Wenn es freilich um die antiken Darstellungen Homers geht, zeigt sich die Forschung weit weniger interessiert. Und dies aufgrund der weitverbreiteten Vorannahme, dass die antiken Biographien uns verlässliche, genaue Informationen über den Dichter geben sollten. Da sie dies jedoch offensichtlich nicht tun – wer glaubt schon, dass Homer starb, weil er ein Kinderrätsel nicht lösen konnte? – legt man sie gänzlich zur Seite.

Doch die antiken Darstellungen Homers können ein lohnendes Forschungsobjekt sein, vorausgesetzt, man entwickelt die richtigen Fragen, die sinnvoll an die Texte gestellt werden können. Die antiken Biographien zu lesen, um herauszufinden, wer die Ilias und die Odyssee wirklich verfasste, ist fruchtlos. Wenn wir uns jedoch dafür interessieren, wie die alten Griechen über die Epen und ihren Autor dachten, dann werden die Homerviten zu kostbaren Quellen.

Wenn wir den Einfluss berücksichtigen, den frühe Spekulationen über Homer auf die spätere Rezeption der Epen hatten, erscheint eine Beschäftigung mit der antiken biographischen Tradition noch gewinnversprechender. Wir kennen den Namen „Homer“ aus den Texten des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr., die ihn erstmals erwähnen, und wir haben von den alten Griechen die Angewohnheit übernommen, über Bedeutung und Aussagekraft seines Namens zu streiten. Wie allgemein bekannt ist, geben Ilias und Odyssee selbst keine expliziten Hinweise auf ihren Autor und erwähnen nicht einmal seinen Namen: Das gegenwärtige Interesse an dem Autor Homer hat seine Wurzeln also in der biographischen Tradition. Andere antike Epen haben weit weniger Interesse an der Identität ihrer Autoren hervorgerufen, wahrscheinlich weil sich in ihrem Gefolge keine weitreichenden Debatten um deren Leben, Identität, Reisen und Abenteuer entwickelten. Das babylonische Gilgamesch-Epos etwa war einer der großen „Bestseller“ in der Alten Welt: Exemplare wurden in einem ausgedehnten geographischen Raum von Anatolien und dem modernen Syrien bis nach Südmesopotamien gefunden, doch die Spekulationen über seinen Autor oder seine Autoren waren weder so reichhaltig noch wurden sie so nachdrücklich verfolgt wie diejenigen über Homer, die uns in den Viten überliefert sind. Und während die modernen Gelehrten Seite auf Seite mit ihren eigenen Anschauungen über Homer füllen, hält sich die Forschung zu Sin-leqe-unnini, dem Autor der babylonischen Standardversion des Gilgamesch-Epos, in engen Grenzen: Andrew George fasst in der neuesten wissenschaftlichen Ausgabe antike Quellen und moderne Spekulationen auf weniger als einer Seite zusammen.7 Wir haben aus unseren antiken Quellen den Brauch übernommen, die Identität Homers zu diskutieren, und dies für eine Sache von großer Wichtigkeit zu halten: So weit unterstellte Goethe völlig zu Recht eine Kontinuität zwischen antiken und modernen Annäherungen an Homer.

Eine Analyse der antiken Vorstellungen von Homer ist im Übrigen nicht nur als eine Studie zur Imagination der Griechen wertvoll; sie hilft auch, die modernen Debatten über Homer in einen historischen Kontext einzubetten. Am Ende dieses Artikels werde ich einige Möglichkeiten skizzieren, wie die antiken Legenden uns helfen können, den gegenwärtigen Stand der Homerforschung und – allgemeiner – die Bedeutung des Autors bei der Interpretation von Literatur zu verstehen. Bevor ich mich aber diesen allgemeineren Fragen zuwende, beginne ich mit der Erörterung der antiken Legenden, die sich um die Person Homers ranken. Anspielungen auf den Dichter sind über die gesamte griechische Literatur verstreut, und wir besitzen auch einige berühmte Homerporträts. Das früheste datiert aus klassischer Zeit und wird in der Glyptothek in München aufbewahrt. Die umfassendsten und systematischsten Quellen für die antike Homervorstellung sind jedoch die antiken Homerbiographien, die gemeinhin unter dem lateinischen Sammeltitel Vitae Homeri bekannt sind. Die Endredaktion dieser Texte fand sehr spät statt: Die angeblich von Herodot verfasste Vita hat ihren Ursprung vielleicht in hellenistischer Zeit, die Plutarch und Proklos zugeschriebenen Biographien sind noch jünger. Die uns vorliegende Fassung des Wettstreits zwischen Homer und Hesiod stammt aus der Zeit der Antonine (2. Jahrhundert n. Chr.), wenn auch klassisches und sogar archaisches Material verarbeitet wird. Dies trifft, ganz generell gesagt, auf alle Viten zu: Wann immer sie ihre endgültige Form erlangten – es ist klar, dass sie alle Geschichten, Spekulationen und Legenden in sich aufgenommen haben, die sich über Hunderte von Jahren entwickelt hatten und manchmal bis in archaische Zeit zurückverfolgt werden können. Wolfgang Schadewaldt erstellte eine deutsche Übersetzung der Herodoteischen Vita und des Wettstreits zwischen Homer und Hesiod und Martin West bietet die derzeit aktuellste Ausgabe der Vitae Homeri mit englischer Übersetzung; aus Gründen der Einfachheit zitiere ich jedoch im Folgenden aus der Edition Thomas Aliens, die momentan die weiteste Verbreitung genießt.

DIE GEBURTSORTE

Die auffallendste Besonderheit der antiken Homerbiographien für den Leser, der sich ihnen zum ersten Mal nähert, ist vielleicht ihre Neigung, alternative Auffassungen über das Leben Homers aufzulisten, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die „wahre“ festzustellen. Diese Eigenheit macht es sehr erstaunlich, dass sie jemals als unproblematische Einführungen in das Leben Homers und die Plätze, an denen er geboren wurde, starb und sein Grab fand, verstanden wurden. Die Herodoteische Vita bildet hier die Ausnahme, indem sie vehement für Smyrna als den wahren Geburtsort Homers Stellung bezieht, doch charakteristischer für die Viten insgesamt ist die Stellungnahme des Proklos am Beginn seiner Homerbiographie:

Wer Homers Eltern waren und wo seine Heimat lag, ist nicht leicht darzulegen, denn er selbst sprach nicht darüber, und diejenigen, die über ihn berichten, stimmen nicht überein. Da seine Dichtung keine expliziten Aussagen in diesen Fragen macht, konnte ein jeder mit Leichtigkeit jedem zu Gefallen schreiben, wie er es gerade wollte. Aus diesem Grunde erklären ihn die einen zu einem Kolophonier, andere für einen Chier, die nächsten für einen Smyrnäer, wieder andere für einen Ieten und nochmals andere für einen Kymäer; um es kurz zu machen, jede Stadt beansprucht diesen Mann für sich selbst, so dass es wahrlich angemessen ist, ihn einen Bürger der ganzen Welt (kosmopolítes) zu nennen.

Moderne Gelehrte haben oft versucht, den wahren Geburtsort Homers zu bestimmen: Wilamowitz sprach sich bekanntermaßen für Smyrna aus – und folgte damit der Herodoteischen Vita –, doch Jacoby zeigte später, dass sich all die von Proklos aufgeführten Geburtsorte aus gleichermaßen zuverlässigen (oder willkürlichen) lokalen Überlieferungen ableiten. Dabei fällt auf, dass Proklos – anders als Wilamowitz – keinen Traditionsstrang favorisiert. Statt dessen bringt er die Vielheit möglicher Geburtsorte mit dem Fehlen biographischer Anspielungen in den homerischen Epen selbst in Verbindung; da jedermann Homer als Mitbürger reklamieren könne, sei er tatsächlich eine wahrhaft kosmopolitische Gestalt. Proklos’ Ausführungen sind in vielerlei Hinsicht hellsichtig: Wenn wir die Kontexte beachten, in denen von der archaischen Zeit bis in die Spätantike die homerischen Werke aufgeführt wurden, ist es möglich, zu rekonstruieren, warum Homer mit so vielen unterschiedlichen Geburtsorten in Verbindung gebracht wurde.

Von der archaischen Zeit an reisten professionelle Sänger, die epische Werke aufführten, – sogenannte Rhapsoden –, von Stadt zu Stadt, um die berühmten Werke Homers bei städtischen Festen wie den Panathenäen zu rezitieren. Das genaueste Bild eines solchen Rhapsoden liefert uns Plato in seinem Dialog Ion, doch wir verfügen auch über frühere Quellen für ihre Aktivitäten: Eine Passage aus den Historien des Herodot legt zum Beispiel nahe, dass sie über ein bestimmtes Repertoire von Dichtungen verfügten; wenn diese Werke in einer bestimmten Stadt nicht geschätzt wurden, konnte es zur Vertreibung der Rhapsoden selbst kommen.8 Daraus folgt, dass die Rhapsoden ihr Repertoire offensichtlich nicht an die Wünsche und Erwartungen eines bestimmten Publikums oder einer bestimmten Stadt anpassen konnten. Sie führten unabhängig von den jeweiligen konkreten Umständen immer die Werke Homers auf. Allerdings verfügten sie über andere Möglichkeiten, ihre Auftritte an die Wünsche ihrer Zuhörer anzupassen. Viele biographische Nachrichten über Homer scheinen aus dem Zusammentreffen zwischen den Rhapsoden und einem bestimmten Publikum hervorgegangen zu sein. Beispielsweise reklamierten die Rhapsoden manchmal eine besondere Beziehung zu Homer, um ihre eigene Reputation dadurch zu fördern. In gewisser Hinsicht erhebt der Rhapsode Ion in.Platos gleichnamigem Dialog genau diese Art von Anspruch: Er rühmt sich, schöne Dinge über Homer sagen zu können und den Dichter besser zu kennen als jeder Lehrer. Andere Rhapsoden scheinen sogar noch höhere Ansprüche erhoben zu haben: Wir kennen eine Gruppe von Sängern aus Chios, die sich selbst „Homeriden“ nannten, die „Nachkommen des Homer“. Ihre Existenz wurde von manchen Forschern, besonders Detlev Fehling, in Zweifel gezogen, aber Walter Burkert, Martin West und ich selbst haben neben anderen diese hyperkritische Haltung bestritten. Für die Homeriden war es eine ausgemachte Sache, dass Homer aus Chios stammte. Andere Rhapsoden und Homerexperten werden freilich andere Ansichten gehabt haben, und sie versuchten, Homer mit ihrer eigenen Stadt und damit letztlich sich selbst in Verbindung zu bringen. Wir wissen, dass Antimachos von Kolophon, ein Homerforscher des 5. Jahrhunderts v. Chr., behauptete, Homer stamme aus Kolophon. Es gibt freilich auch andere Möglichkeiten: Einzelne Rhapsoden könnten ihrem Publikum geschmeichelt haben, indem sie behaupteten, Homer komme aus der Stadt, in der sie sich gerade aufhielten, oder der Dichter habe diese Stadt doch wenigstens selbst besucht. Jedenfalls stellen die Homerviten Homer als einen ständig auf Reisen befindlichen Dichter dar, der seine eigenen Werke in den einzelnen Städten aufführte, ganz ähnlich den historischen Rhapsoden.

 

Allem Anschein nach waren zumindest manche Rhapsoden bei ihren Aufführungen der homerischen Epen an strikte Vorgaben gebunden. Dem bereits erwähnten Bericht des Herodot zufolge sollen sie aus Sikyon vertrieben worden sein, weil die Epen die feindliche Stadt Argos verherrlichten. Ganz offensichtlich hatten die Rhapsoden also nicht die Freiheit, die Epen des Thebanischen Kreises einfach zu verändern. Daneben kennen wir ein von Peisistratos oder seinen Söhnen erlassenes Gesetz, das die Rhapsoden anwies, an dem wichtigsten Fest Athens, den Panathenäen, ausschließlich Homer und diesen „in der richtigen Reihenfolge“ zur rezitieren.9 Was Geschichten über Homer anging, gab es keinerlei solche Beschränkungen. Tatsächlich wurden solche Geschichten anscheinend eben für den Zweck erfunden, eine Beziehung zwischen dem Rhapsoden und seinem Publikum herzustellen. In einem faszinierenden Aufsatz über den Dichter Hesiod hat Mark Griffith die These vertreten, dass biographische Anspielungen in der frühen griechischen Literatur dazu dienten, eine Nahbeziehung zwischen dem Dichter/Rhapsoden und einem speziellen Publikum zu stiften. Wenn das zutrifft, dann ist es kein Zufall, dass sich in den homerischen Epen keine eindeutigen biographischen Angaben finden. Ilias und Odyssee richten sich nicht an ein bestimmtes Publikum: Sie sprechen zu jedem in der griechischen Welt, haben für jeden gleichermaßen Bedeutung. Ihre Anonymität und die Objektivität ihrer sprachlichen Gestaltung gehen Hand in Hand mit ihrem panhellenischen Anspruch. Die Stimme des Sängers ist von allen Zuhörerschaften gleich weit entfernt, sie ist absolut unparteiisch. Gerade weil die Epen nichts über ihren Autor und ihr bevorzugtes Publikum sagen, versuchten zahllose Legenden, Homer mit bestimmten Orten, Rhapsoden, Zuhörerschaften in Verbindung zu bringen. Genau wie es Proklos ausführt: „Da seine Dichtung keine expliziten Aussagen in diesen Fragen macht, konnte ein jeder mit Leichtigkeit jedem zu Gefallen schreiben, wie er es gerade wollte.“

Und doch – die Geschichten über Homers Geburt sind weder bedeutungslos noch zufällig. Wenn wir die für den Dichter vorgeschlagenen Geburtsorte betrachten, ergibt sich ein interessantes Muster. Diejenigen Städte, die am frühesten als Geburtsplätze erwähnt werden, liegen alle an der Küste Kleinasiens: Smyrna, Chios, Kolophon, Ephesos. Wir wissen, dass die homerischen Dichtungen in diesem Gebiet, der Region Ionien, ihren Ursprung hatten und dass wenigstens einige der ältesten Rhapsoden von hier stammten. Es überrascht daher nicht, wenn dieses Ionien in den ältesten Berichten über Homers Geburt eine prominente Rolle spielt. Rhapsoden aus diesem Gebiet reisten umher und suchten mit der Autorität ihres Heimatortes zu wuchern. Es wurden aber sehr früh, spätestens im 5. Jahrhundert v. Chr., auch andere Geburtsorte vorgeschlagen: Ios, Athen, Argos. Mit der Zeit brachte man dann immer entlegenere Möglichkeiten ins Spiel: So wurde gar behauptet, Homer könne aus Rom, Ägypten oder Babylon stammen. Ganz offensichtlich wuchs die Zahl der möglichen Geburtsorte Homers in dem Maße, in dem sich die griechische Kultur über die bekannte Welt ausbreitete. Derartige lokale Ansprüche werden parteilich, voreingenommen und leidenschaftlich vertreten worden sein, doch niemals gewann einer den Vorrang vor anderen lokalen Überlieferungen. Alkidamas berichtet in einem bei Aristoteles überlieferten Zitat, die Chier feierten Homer, „obwohl er nicht von dort stammte“.10 Andererseits brachten die Argiver Homer in ihrer Stadt Opfer dar, sandten aber gleichzeitig Weihgaben nach Chios, das sie als seinen Geburtsort betrachteten.11 Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit kennzeichnen die biographische Überlieferung über Homer von einem sehr frühen Stadium an, und sie bezeugen die Attraktivität Homers für viele unterschiedliche Gemeinwesen.

Wir haben gesehen, dass die homerischen Epen selbst weder den Dichter noch ihr bevorzugtes Publikum beschreiben: Sie wenden sich gleichermaßen an die gesamte griechische Welt. Die Homerbiographien hingegen folgen einer ganz anderen Logik, indem sie den Dichter mit bestimmten Sängern, Zuhörerschaften und Homerexperten zu verbinden suchen. Letztlich setzt sich jedoch kein derartiger lokaler Anspruch unter Ausschluss aller anderen durch, und die Homerviten listen stolz unterschiedliche Berichte über Homers Geburt nebeneinander auf. Sie belegen damit seine Attraktivität in ganz unterschiedlichen Gemeinschaften: Der Dichter ist ein „Bürger der ganzen Welt“, wie es Proklos ausdrückte.

DIE DATIERUNG DER LEBENSZEIT

Doch nicht nur über den Geburtsort Homers führen die Viten unterschiedliche Ansichten auf, ohne sich für eine zu entscheiden. Viele biographische Darstellungen enthalten auch Aufzählungen von möglichen zeitlichen Ansätzen für das Wirken des Dichters. Im Fall der antiken Debatte über die Datierung Homers ist es vielleicht schwieriger die dahinterliegenden Motive zu ergründen, aber eine der Viten gibt uns wiederum einen wertvollen Hinweis. Eine der beiden Plutarch zugeschriebenen Biographien erzählt uns:

Manche sagen, er sei ein Zeitgenosse des Trojanischen Krieges und ein Augenzeuge gewesen; andere, er habe 100 Jahre nach dem Krieg gelebt; wieder andere, 150 Jahre nach ihm.12

Anscheinend steht hinter den verschiedenen für Homer in der Antike vorgeschlagenen Datierungen unter anderem ein Interesse an dem Verhältnis zwischen dem Dichter und seinem Stoff, dem Trojanischen Krieg. Wenn wir die älteste erhaltene Diskussion der Lebenszeit Homers untersuchen, wird dieser Eindruck bestätigt.

Herodot äußert sich in einer berühmten Passage seiner Historien zur Wirkungszeit Homers und Hesiods:

Ich glaube, dass Hesiod und Homer vierhundert Jahre vor meiner Zeit lebten und nicht früher. Sie waren es, die die Götterwelt der Griechen schufen. Sie gaben den Göttern Beinamen, legten die ihnen zu zollenden Ehren und ihre Zuständigkeitsbereiche fest und sie beschrieben ihre äußere Erscheinung. Es scheint mir, dass die Dichter, die angeblich vor ihnen lebten, tatsächlich nach ihnen wirkten. Die Priesterinnen in Dodona haben mir die Dinge erzählt, die ich zuerst erwähnte, wohingegen das, was ich danach über Hesiod und Homer sagte, meine eigene Überlegung ist.13

Herodot geht es in diesem Abschnitt darum, Hesiod und Homer jünger zu machen als die ägyptischen Texte, die – wie er behauptet – die ältesten Nachrichten über die Götter darstellten. Weniger klar ist, warum er die zwei Dichter ausgerechnet vierhundert Jahre älter als sich selbst machte, anstatt, sagen wir, dreihundert, fünfhundert Jahre oder ganz einfach „nicht viel älter als ich“. Die Standardkommentare zu Herodot sind in dieser Frage wenig hilfreich. Wie üblich bestimmt die moderne Suche nach Homer das Herangehen an Herodots Ausführungen: Albert Lloyd etwa merkt an, dass das von Herodot gegebene Datum an modernen Standards gemessen ziemlich genau sei. Das mag sein, aber es klärt nicht die Frage, warum Herodot Homer und Hesiod genau vierhundert Jahre vor seine eigene Zeit setzte. Die Antwort ergibt sich aus einer etwas späteren Passage der Historien, in der er erklärt, der Trojanische Krieg habe achthundert Jahre vor seiner eigenen Zeit stattgefunden.14 Daraus ergibt sich, dass – nach Herodot – Homer genau in der Mitte der Zeit zwischen dem Trojanischen Krieg und der Gegenwart des Historikers lebte.

In diesem zeitlichen Ansatz spiegelt sich eine genaue Vorstellung von Homers Beziehung zu seinem Stoff, dem Trojanischen Krieg. Herodot widmet seine Historien den Ereignissen des vorausgehenden Jahrhunderts, da – wie er betont – nur hinsichtlich der jüngsten Vergangenheit gesicherte Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Im Gegensatz dazu beschreibt Homer – nach Herodot – Vorgänge, die sich lange vor seiner eigenen Zeit abspielten. Daraus folgt, dass seine Dichtung nicht als verlässlicher historischer Bericht aufgefasst werden kann. Der Verdacht, dass Herodots Homerdatierung dazu dient, Zweifel am Bericht des Dichters über den Trojanischen Krieg zu schüren, wird im zweiten Buch der Historien bestätigt, wo Herodot mehrere Details der Ilias kritisiert, um dann seine eigene Darstellung des Trojanischen Krieges zu geben – angeblich basierend auf älteren, und daher zuverlässigeren, ägyptischen Quellen. Wir müssen hier nicht die Einzelheiten dieser herodoteischen Darstellung des Trojanischen Krieges diskutieren: Für unsere Zwecke genügt es, sich klar zu machen, dass die Datierung Homers symbolisch für eine bestimmte Auffassung von der Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Stoff, sowie seiner Verlässlichkeit als historische Quelle steht. Thukydides, der sein eigenes Werk dort beginnen lässt, wo Herodot endete, scheint die Anschauungen seines Vorgängers hinsichtlich der Datierung Homers zu teilen. Ihm zufolge lebte Homer „lange nach dem Trojanischen Krieg“.15 Aus diesem Grund ist Thukydides äußerst vorsichtig damit, Homer als Quelle dafür zu verwenden, was zu Zeiten des Trojanischen Krieges geschah,16 andererseits ist er geneigt, ihn als Quelle für Ereignisse während der vermuteten Lebenszeit des Dichters zu akzeptieren.17

Die Viten sind offen für vielfältige Interpretationen der homerischen Epen und, spezieller, der Beziehung zwischen Homer und seinem Stoff. Aus diesem Grund fuhren sie so viele Datierungen für Homer auf wie nur möglich, ohne letztlich eine Entscheidung zu treffen. Wiederum bestätigt die Herodoteische Vita als Ausnahme die Regel: Sie datiert Homer relativ zur Gründung von Smyrna. Genau wie eine babylonische Königsliste Sin-leqe-unnini in die Regierungszeit des Gilgamesch datiert, also in die Zeit der Ereignisse, die er beschreibt,18 haben auch einige Griechen sich Homer als Augenzeugen des Trojanischen Krieges vorgestellt. Wir haben freilich gesehen, dass diese Anschauung durch Herodot und Thukydides verworfen wurde, die einen größeren Abstand zwischen dem Krieg und der Lebenszeit des Dichters postulierten. Daher, so argumentierten sie, könne er nicht als verlässlicher Zeuge des Trojanischen Krieges gelten. Die Vielfalt vorgeschlagener Datierungen hat ihre Ursache in anderen Gründen als die Vielzahl der angeblichen Geburtsorte, doch in beiden Fällen streben die Viten nach Vollständigkeit. Sie zollen Homer ihren Tribut, indem sie so viele unterschiedliche Anschauungen über sein Leben und seine Schaffenszeit referieren, wie nur irgend möglich.

 
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