Budschakenblut

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Budschakenblut
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Martina von Schaewen,

1961 in Stuttgart geboren, arbeitet an einer Schule für Kinder mit geistiger Behinderung und lebt mit ihren Söhnen in Freiberg am Neckar.

Nach Schattenblende ist Budschakenblut ihr zweiter Roman.

Martina von Schaewen

Budschakenblut

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte bei Martina von Schaewen


Lektorat: G und G
Umschlaggestaltung: Jochem Maier
www.cms-werbung.de
Umschlagfotos: djama, leksustuss
www.fotolia.com
Autorenfoto: Helmut Pangerl
www.helmut-pangerl.de

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Veröffentlichung 2013 Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-954888-45-0

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Widmung

Einleitung - Sarata 1940

Sarata 1919

1

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Lange blieben die beiden so stehen, bis er die Umarmung auflöste, ihr einen Kuss auf die Wange drückte und sich mit den Worten:

„Denk daran, du musst dafür sorgen, dass die Sonne in deinem Herzen scheint“,

verabschiedete.

Für meine beiden Söhne

Hannes und Simon

Einleitung
Sarata 1940

Olga starrte zu dem aufgebauten Galgen gegenüber dem Gebietsamt. Morgen würden die Russen die Schlinge um seinen Hals legen. Selbst wenn Olga dann noch hier wäre, sie würde sich das nicht anschauen.

Ihr Mann riss sie aus ihren Gedanken: »Es gibt keinen Menschen auf der Welt ohne Schicksalsschläge.«

»Wir sind doch alle nur noch Nummern.« Olga hielt ihm eine Karte entgegen, auf der ihr Name und ihre Umsiedlungsnummer standen. Sie befestigte eine Schnur daran und hängte sich die Karte um den Hals.

Die beiden saßen auf ihrem Fuhrwerk, vor dem zwei Pferde angeschirrt waren.

Über dem Wagen befand sich ein halbrundes Gerüst aus gebogenen Holzstangen, darauf eine befestigte wasserdichte Plane, die vor Regen, Wind und Kälte schützen sollte.

Olga blickte auf die zwei Plakate, die am Gebietsamt aushingen: Aufruf zur Rückkehr ins Großdeutsche Reich. Eines in deutscher, das andere in russischer Sprache. Ein freiwilliger Appell an die Deutschen in den Kolonien Bessarabiens. In Sarata trieb die Angst die Menschen fort. Die wenigen, die mit dem Gedanken gespielt hatten, in der Heimat zu bleiben, kamen schnell davon ab. Ungewissheit und Furcht, die Russen könnten die Menschen in Sibirien oder Kasachstan ansiedeln, hatte auch die letzten Ausreisegegner dazu gebracht, die Umsiedlung zu beantragen.

Noch keinen Schritt bewegte sich das Fuhrwerk von der Stelle und Olga störte sich bereits an dem unbequemen, harten Holz der schmalen Bank, auf der sie saß. Sie stand auf und suchte hinten im Gefährt nach einer Decke. Ihr Mann erhob sich ebenfalls. Er stieg vom Wagen und ging auf die anderen Männer zu, die schweigend auf der Straße standen und sich Zigaretten reichten.

Die Frauen und Kinder blieben auf ihren Fuhrwerken sitzen. Auch dort herrschte eine unheimliche Stille. Die Kinder trauten sich kaum, etwas zu sagen und wenn, dann flüsterten sie. Viele der Frauen hielten Taschentücher in den Händen und wischten sich damit die Tränen ab.

Olga breitete sorgfältig die Decke auf der kleinen Holzbank aus und setzte sich darauf.

Sie erinnerte sich an den Abschiedsgottesdienst vergangenen Sonntag in der Kirche.

So viele Menschen waren bisher noch bei keinem Gottesdienst anwesend gewesen. Es hatte sich kein Platz mehr auf den Bänken, in den Gängen und auf der Treppe gefunden.

Die breite zweiflügelige Holztüre der Kirche stand offen und viele nahmen im Freien, neben den vier riesigen Säulen, oder auf der Treppe, die zur Straße führte, teil.

Die Dorfbewohner hörten zum letzten Mal die Worte ihres Pfarrers. Der Pastor konnte sich kaum aufrecht halten und stand zusammengesunken auf der Kanzel. Das lag gewiss nicht nur an seinem fortgeschrittenen Alter – er hatte vor kurzem seinen 88. Geburtstag gefeiert – sondern an den widrigen Umständen. Über viele Jahrzehnte war diese Kirche sein Zuhause gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er seine sonntäglichen Predigten so lange gehalten, bis Gott ihn von der Kanzel weg zu sich gerufen hätte.

Früher dauerten seine Gottesdienste mindestens zweieinhalb Stunden.

Mittlerweile gingen dem Geistlichen nach einer Stunde die Worte aus, was aber keinen der Kirchgänger störte.

Bei diesem letzten Gottesdienst sahen alle dem Pfarrer an, wie viel Kraft es ihn kostete, von der Kanzel herunter zu der Gemeinde zu sprechen.

Den linken Arm auf das Pult gelegt, stütze er sich ein wenig ab, während der rechte Arm hin und wieder seinen Stock in die Höhe fahren ließ. Nicht mehr so schwungvoll wie all die Jahre zuvor, seine körperlichen Kräfte waren aufgebraucht.

Seit Alois Fischer eine Gehhilfe benötigte, setzte er diese auch in den Predigten ein. So gelang es ihm, seinen Worten die nötige Bedeutung zu verleihen.

Die Haare, die er früher sorgfältig vor jeder Predigt mit Sonnenblumenöl eingerieben hatte, waren ihm ausgegangen. Sein langer Bart, ehemals grau, hatte sich in ein unbeflecktes weiß verwandelt.

Zehn Jahre war es jetzt her, als sein Körper zu schrumpfen begann. So wie sich des Pfarrers Körpergröße jedes Jahr um fünf Zentimeter verkleinerte, so erleichterte sich sein Leib jährlich eines Balastes von zwölf Kilogramm. Aus dem einstigen Kirchenoberhaupt von zwei Metern und reichlich Übergewicht war ein schmales, ein Meter fünfzig Männchen mit weniger als fünfzig Kilogramm geworden. Seine treue Haushälterin, die ihm seit Jahrzehnten diente und auch schon die 80 erreichte, änderte ihm jährlich seine Kleidung.

Viele in Sarata wunderten sich über den Umstand, dass diese Frau mit den Jahren die Masse, die ihr Dienstherr verlor, zunahm. So oft wie sie seine Kleider enger nähte, musste sie sich selbst neue schneidern.

 

Das einzige, das an Alois Fischer die letzten Jahrzehnte unverändert geblieben war, war seine runde Nickelbrille. Man sah ihn nie ohne Brille, obwohl er sie mittlerweile eher aus Gewohnheit, als aus Notwendigkeit auf der Nase hatte. Vorlesen ließ er sich von seiner Haushälterin.

Alois Fischer predigte immer häufiger im Sitzen. War es ihm zu anstrengend auf der Kanzel zu stehen, ließ er sich einen Stuhl vor den Altar stellen.

Oft geschah es, dass er mitten im Satz aufhörte zu sprechen und nicht mehr wusste, was er sagen wollte. Mürrisch zeigte er dann mit dem Stock auf ein Gemeindemitglied und forderte dieses dazu auf, den letzten Satz zu wiederholen.

Wer nicht im Gottesdienst bloßgestellt werden wollte, tat gut daran, während der Predigt gedanklich nicht zu weit abzuschweifen.

In ihrem ganzen Leben hatte Olga in Sarata keinen anderen Pfarrer als Alois Fischer kennen gelernt. Ihre Gottesdienstbesuche waren sehr unregelmäßig. An einem der seltenen Sonntage, an denen sie die Kirche besuchte, kam es zu einem Zwischenfall, bei dem sie immer wieder lächeln musste, wenn sie sich daran erinnerte.

Vor dem Altar auf seinem Stuhl sitzend predigte der Pastor. Unermüdlich fuchtelte er mit dem Stock in der Luft herum. Bei seinem Lieblingsthema, der Sünde, angekommen, ging seine laute Stimme in ein Brüllen über. Doch wenig später kamen aus seinem Hals nur noch heisere Wortfetzen. So wie seine Stimme weniger wurde, so ließ auch das Hantieren mit dem Stock nach.

Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, setzte Alois Fischer seinen Stock ab und lehnte sich im Stuhl zurück. Kein Wort fand mehr den Weg aus seinem Mund. Gespannt verfolgten die Gemeindemitglieder diese Geste und warteten ab. Aus den hinteren Reihen vernahm man ein Räuspern und so manch ein Kirchgänger rutschte ungeduldig auf seinem Hintern hin und her. Der eine oder andere nutzte die Pause, um sich die Nase zu schnäuzen oder im Geiste noch einmal vergangene Erlebnisse vor seinen Augen ablaufen zu lassen. So mancher Bauer, der bereits seit dem Morgengrauen auf den Beinen war, nickte ein oder döste abwesend vor sich hin.

Als Alois Fischer seinen Stock fallen ließ und die Augen schloss, setzte in der Gemeinde eine unheimliche Stille ein. Jetzt richteten sich alle Augen auf den Pastor, der sich nicht mehr bewegte. Alle dachten dabei das gleiche. Der Bürgermeister der Gemeinde, der Schulz, drängte sich durch seine Bankreihe zum Gang und sprang rasch zu Alois Fischer nach vorne. Er stellte sich vor den Geistlichen und starrte ihn an. Dann beugte er sich über den Pfarrer und hob diesen mühelos aus dem Stuhl. Dabei hatte er sich vorher nicht überlegt, was er da eigentlich tat. Er sah sich um, wollte den Pfarrer ablegen, wusste aber nicht, wohin. So stand er einige Augenblicke mit dem Pastor in den Armen vor der Gemeinde, die immer noch erschrocken und sprachlos dem Geschehen folgte. In Gedanken überlegte der Schulz, was zu tun war, um dem Kirchenoberhaupt eine würdige Beerdigung auszurichten. So etwas konnte man nicht auf die lange Bank schieben, es musste zügig organisiert werden. In den Armen spürte er langsam die Kraft schwinden. Er schaute in die erstaunten Gesichter der Anwesenden, dann drehte er sich um zum Altar. Er entschied sich dafür, den Pfarrer dort abzulegen.

Kaum berührte der Körper von Alois Fischer die kalte Marmorplatte, öffnete dieser seine Augen. Erstaunt blickte er den Schulzen an. Dieser starrte entsetzt zurück. Einige Sekunden verstrichen, dann erfüllte ein schriller Schrei aus den hinteren Bankreihen die Kirche. Das anfängliche Murmeln und Flüstern der Gemeindemitglieder ging in lebhafte Unterhaltungen über. Alois Fischer richtete seinen Oberkörper auf und setzte sich so hin, dass seine Füße vom Altar baumelten.

Wütend schaute er den Schulzen an und zeigte auf seinen Stock, der noch neben dem Stuhl lag. Gehorsam hob der Schulz den Stock auf, reichte ihn an den Pfarrer weiter und schritt eilig zu seinem Platz zurück. Alois Fischer streckte seinen Stock in die Höhe und augenblicklich verstummte die Gemeinde.

Sichtlich erholt fing der Geistliche noch einmal am Anfang seiner Predigt an. Er ließ die Gemeinde dreimal dasselbe Lied singen und keiner wusste, ob es aus Vergesslichkeit geschah oder ob sich ein tieferer Sinn dahinter verbarg. Es war, als hätte der Geistliche vergessen, dass er immer noch auf dem Altar saß. Und keiner aus der Gemeinde traute sich, den Pfarrer zu unterbrechen und darauf aufmerksam zu machen. Jeder befürchtete bei Unterbrechungen könnte der Geistliche noch einmal mit der Predigt beginnen.

Nach dem vierten Vaterunser hintereinander – auch hier verstand keiner den Grund dafür – rutschte Alois Fischer mit seinem schmächtigen Körper langsam nach vorne, bis seine Füße den Boden berührten. Auf seinen Stock gestützt schlurfte der Pastor den Gang entlang und deutete auf zwei Männer, die gehorsam zu ihm eilten. Einer hielt dem Pfarrer die Türe auf, während der andere seinen Stuhl brachte und an den Ausgang stellte. Alois Fischer setzte sich auf den Stuhl und gab jedem Einzelnen seiner Gemeindemitglieder zum Abschied die Hand.

Für die Sarataer Kirchgänger war dies ein Tag, den sie nie wieder vergessen würden. Der Gottesdienst dauerte so lange, dass sie ihren Sonntagsbraten mit den Strudeln erst zur Kaffeezeit essen konnten.

Beim Abschiedsgottesdienst dann lauschten die Menschen ergriffen den wenigen Worten des Geistlichen. Aus allen Ecken ließ sich leises Jammern und Seufzen vernehmen. Die Kinder rutschten auf den Bänken hin und her und wurden von ihren Müttern ermahnt. In dieser schicksalsschweren Stunde hatte sich Alois Fischer dafür entschieden, den Kirchenchor und die Orgel in den Mittelpunkt zu stellen. Die Gemeinde sang so ergreifend mit, dass der Geistliche hoffte, es würde den Menschen ein wenig Trost spenden.

Wenige Tage nach dem Abschied in der Kirche besuchten die Menschen zusammen mit dem Pfarrer den Friedhof. Der Weg führte sie aus dem Dorf hinaus, eine Anhöhe hinauf. Bei dem Trubel um die bevorstehende Umsiedlung hatte keiner daran gedacht, dass der Pastor diese Strecke in seinem Alter und auf seine Gehhilfe angewiesen, kaum bewältigen konnte. Anfangs schritt der Pfarrer zügig mit Hilfe seines Stockes voran, seine Gemeinde ergeben hinterher.

Kaum hatte man den Ort verlassen, stieg der Weg ein wenig an. Ohne Vorwarnung ließ sich Alois Fischer plötzlich nach hinten fallen, direkt in die Arme des Schulzen. Für einen Moment schloss der Geistliche die Augen. Als er sie wieder aufriss, begann er nach Atem zu japsen. Wie ein Maikäfer vor dem Abflug pumpte er Luft ein und aus. Seine Haushälterin rannte, so schnell es ihr Alter und ihr Umfang zuließen, herbei. Keuchend setzte sie sich auf den Boden und forderte den Schulzen auf, ihr den Geistlichen in die Arme zu legen. Seinen Kopf unter ihrem dicken Busen, wiegte sie den Pfarrer wie eine Amme einen Säugling hin und her. Sein hektischer Atem beruhigte sich und er schloss lächelnd die Augen. Die anschließenden Minuten kamen den Umstehenden wie eine Ewigkeit vor. Unvermittelt riss der Pastor die Augen wieder auf und befreite sich aus den Armen dieser Frau. Zwei kräftige Männer halfen ihm dabei und stellten ihn aufrecht hin. Alois Fischer griff nach seinem Stock, schwang ihn in die Höhe, während er den Menschen ein »Voran!« zurief. Der Ortsvorsteher überzeugte den Geistlichen jedoch davon, dass es besser wäre, sich von den kräftigsten Männern des Ortes zum Friedhof tragen zu lassen. Für die Helfer war dies allerdings keine einfache Aufgabe. Nicht das Gewicht des Geistlichen forderte ihre ganze Kraft, sondern die schwungvollen Stockschläge, die der Pfarrer zum Allmächtigen in den Himmel schickte, gefolgt von unverständlichen Litaneien.

Am Friedhof angekommen, blickten viele wehmütig auf Sarata zurück.

Malerisch erstreckte sich der Weg von hier oben, eingerahmt zwischen Sträuchern und Bäumen. Von der Anhöhe sah man über den größten Teil des Dorfes hinunter, bis zur Marktstraße.

Jeder spürte die Ergriffenheit und den Schmerz des Anderen bei dem Gedanken daran, dass sie dieses Bild ein letztes Mal vor Augen hatten. Es sollte in ihrem Gedächtnis bleiben für ihre Enkel und Urenkel.

Nach stillen Minuten wendeten sich die Ersten ab und liefen auf die Gräber ihrer Toten zu. Es galt, ein letztes Mal die Gräber zu schmücken und für immer Abschied zu nehmen.

Nicht nur die Eltern und Großeltern hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden, sondern auch die Urgroßeltern, die vor über 100 Jahren den Ort Sarata gründeten.

Alois Fischer stand am Grab seines Vorgängers und versuchte ein paar tröstende Worte an die Gemeinde zu richten. Der Pfarrer verabschiedete sich von seiner Gemeinde. Jetzt wurden auch die, die bisher nicht zugehört hatten, aufmerksam. Keiner verstand so richtig, was Alois Fischer redete. Nach seinen letzten Worten: »Sarata, im Tode bin ich dein!«, legte er sich zum Erstaunen seiner Gemeindemitglieder auf das Grab seines Vorgängers und schloss die Augen. Diesmal wiegte ihn die herbeieilende Haushälterin vergeblich unter ihren dicken Brüsten hin und her.

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen starb der Geistliche in den Armen der Frau, die jahrzehntelang treu an seiner Seite gelebt hatte.

An all das dachte Olga, während sie wünschte, dass der Transport endlich losging. Auf was wartete man noch? Sie seufzte leise und schaute auf die Nummern der Fuhrwerke. Die Wagen waren bereits in der richtigen Reihenfolge aufgestellt, denn keiner sollte unterwegs verloren gehen.

Alles in ihrem Leben erwirtschaftete musste Olga nun zurücklassen; selbst das Geld und den wenigen Schmuck, den sie besaß. Was ihr blieb, waren ein paar Decken und Kleider, wenige Fotos und Bücher.

Olgas Blick verweilte einen Moment auf dem Proviant, den sie eingepackt hatte: Gekochtes Gemüse, ein Fässchen eingelegtes Fleisch, zwei Laibe selbstgebackenes Brot. Wie weit würde es reichen?

Ihre Gedanken an zu Hause, an die vielen Dinge, die in der Stube lagen, wurden gestört durch das Läuten der Kirchenglocken, welches nun einsetzte.

Aus einem entfernten Planwagen hörte man eine Frau, die das Heimatlied anstimmte.

Viele folgten der Aufforderung und sangen mit. Aufgewühlt und ergriffen hörten sich die Worte an:

Gott segne dich, mein Heimatland!

Ich grüß` dich tausendmal,

Dich Land, wo meine Wiege stand,

Durch meiner Väter Wahl!

Du Land, an allem Gut so reich,

Ins Herz schloß ich dich ein;

Ich bleib` dir in der Liebe gleich,

Im Tode bin ich dein!

So schirme, Gott, in Freud und Leid

Du unser Heimatland!

Bewahr der Felder Fruchtbarkeit

Bis hin zum Schwarzmeerstrand!

Erhalte du uns deutsch und rein,

Send` uns ein freundlich Los,

Bis wir bei unsern Vätern ruhn

Im heimatlichen Schoß!

Olga faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie schloss die Augen und spürte Tränen an ihren Wangen hinunterkullern. Die Lippen fest zusammengepresst, blieb ihr Mund verschlossen. Kein Ton kam aus ihrem Hals.

Selbst die Pferde an den Fuhrwerken spürten diese Traurigkeit. Aufgeregt wieherten sie, als könnten sie die Abfahrt kaum erwarten.

Langsam setzte sich die Wagenkolonne in Bewegung.

Olga vernahm ein Bellen, das näher kam und lauter wurde. Ohne ihren Kopf zu drehen, schielte sie mit den Augen zur Seite und sah einen Hund neben dem Wagen herspringen.

»Sabaka, du kannst nicht mit«, murmelte Olga.

»Schau nicht zurück«, hörte sie ihren Mann leise sagen.

Nein, sie würde nicht zurückblicken, nicht einmal für einen winzigen Moment. Ihrer Heimat beraubt, einer ungewissen Zukunft entgegen – ein Blick zurück würde alles nur noch schlimmer machen, kam es ihr in den Sinn.

Langsam kroch die Kolonne die kleine Anhöhe hinauf, die aus dem Ort hinausführte. Olga spürte, dass sie doch noch ein letztes Mal zurückblicken musste. Sie sah die Straße hinunter, die bis zum Fluss reichte. Rechts und links davon standen niedere, weißgetünchte Steinmauern, hinter denen sich die Bauernhäuser mit den großen Höfen befanden.

Die Mauern und die Häuser wurden immer kleiner. Nur der Kirchturm mit seiner runden Kuppel und dem Kreuz darauf überragte noch die Dächer des Dorfes. Aber bald war auch das Kreuz der Kirche verschwunden.

Olga spürte den aufkommenden Ostwind im Rücken. Es war, als wollte er sie schnell dem Westen zutreiben.

Sie schaute zu ihrem Mann, der seine Tränen nicht verbergen konnte.

»Es gibt kein Leben ohne Leid«, versuchte er sie zu trösten.

 

»Und es gibt kein Leben ohne Geheimnisse« erwiderte Olga.

Morgen hängen ihn die Russen auf, dachte sie.

Sarata 1919
1

Die Zeiger der Wanduhr standen auf 18.45 Uhr. Zu früh, um ins Gasthaus zu gehen. Nie betrat er vor sieben Uhr abends die Wirtsstube.

Das hatte er mit sich selbst vereinbart. Warum, wusste er nicht.

Die Wärme in seiner Stube machte ihn ein wenig schläfrig. Langsam erhob er sich aus seinem breiten Stuhl und trat zum Fenster. Er schaute in die Dunkelheit und erkannte die Umrisse des Maulbeerbaumes im Hof. Dachte er an diesen Seidenraupenbaum, tauchten Kindheitserinnerungen vor seinen Augen auf.

Wie oft hatte er als kleiner Junge die Blätter mit den vielen Seidenspinnerraupen abgepflückt? Beobachtet, wie die Tierchen fraßen, wuchsen, sich häuteten, immer wieder, bis daraus fingerlange Raupen wurden. Oft hatte er es kaum erwarten können, bis sie sich einhüllten und irgendwann als weiße Seidenspinnenfalter ausschlüpften. Das war lange her.

Ein Jahrzehnt später erlernte er das Handwerk des Pfeifenmachers. Damals rauchten die meisten Männer den Tabak in den Pfeifen. Es musste so bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen sein. Danach drehte man Zigaretten aus dem Blättertabak, dem russischen Papuscha. Oder man schnupfte den türkischen Mesaksude mit seinem besonderen Aroma. Wer brauchte da noch seine Pfeifen? Es lohnte nicht mehr und er entschied sich, den Beruf des Seilers auszuüben.

Immerhin arbeiteten Seiler bereits, bevor es Zieh- und Schöpfbrunnen gab. Ein sicheres Handwerk. Er stellte Stricke und Seile her, die zum Wasserschöpfen gebraucht wurden und zum Festbinden und Halten der Tiere. Arbeit hatte er genug. Schließlich kam jeder im Ort auf die Dienste eines Seilers zurück.

Sein Freund war ebenfalls Seiler gewesen. Sie hatten nicht nur gut miteinander gearbeitet, sie waren auch oft zusammen auf die Jagd gegangen.

Er musste lächeln, als er sich an die letzte Wolfsjagd um die Jahrhundertwende erinnerte. Noch heute sprachen manche davon, dass es zwei Seiler gewesen waren, die den Wolf erledigt hatten. Damit es alle im Dorf erfuhren, hängte man das tote Tier an einem Baum auf, oder man legte den Wolf auf die Hofmauer vor der Dorfkanzlei, so konnten auch noch die Schulkinder die Beute betrachten.

Ihren Erfolg feierten sie ausgiebig im Wirtshaus. Auf dem Heimweg mussten sie sich gegenseitig stützen. Nach so einer erfolgreichen Jagd war am nächsten Tag nicht an Arbeit zu denken.

Es war eine schöne Zeit und die beiden begannen, täglich ein paar Gläschen Wein oder Schnaps nach der Arbeit zu trinken. Später wählten sie nicht mehr aus zwischen Wein oder Schnaps, sondern tranken beides. Stets fühlte er sich wohl in der Nähe seines Freundes. Wie oft waren sie gesellig zusammen in der Wirtsstube gesessen, ohne viel zu reden.

Bei dem Gedanken daran kamen ihm fast die Tränen. War das nicht die wunderbarste Zeit seines Lebens gewesen?

Dann passierte das schreckliche Unglück. Er trank weiter, brauchte den Alkohol, um zu vergessen. Versuchte damit seine Schmerzen, die er seither im Bein hatte, erträglicher zu machen. Wenigstens ersparte ihm das kaputte Bein den Kriegsdienst.

Manchmal glaubte er, nicht der Alkohol würde ihn töten, sondern die Einsamkeit. Im Wirtshaus war er wenigstens in Gesellschaft und konnte ein paar von seinen Geschichten mitteilen. Immer die gleichen Erzählungen, wie die mit der Wolfsjagd oder den Tauben, die nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschlachtet werden mussten. Es sollte der Spionage durch Brieftauben vorgebeugt werden. In Sarata, wo sich wie überall die Tauben schnell vermehrten, lag damals oft Taubenbraten und Taubensuppe auf den Tellern.

Er verspürte einen Schmerz in seinem rechten Bein, als würden unsichtbare Hände daran reißen. Bis in den Rücken breitete sich ein unangenehmes Ziehen aus. Womöglich hatte er durch das Stehen sein Bein zu lange belastet. Es kam ihm vor, als bohre sich eine spitze Klinge in seine Hüfte. Er stöhnte auf, drehte sich vom Fenster weg und schleppte sich zu seinem Stuhl zurück. Kaum saß er wieder, ließ der Schmerz nach. Erleichtert drückte er seinen Hinterkopf gegen die Stuhllehne und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. In einer Minute würde der Zeiger auf die zwölf springen und er könnte siebenmal dem Glockenschlag lauschen. Er hörte bis zum letzten Schlag zu, dann stand er vom Stuhl auf, löschte das Licht in der Wohnstube und schlurfte in den Flur. Dort griff er im Dunkeln nach seiner Jacke, die am Haken hing, öffnete die Türe und trat ins Freie. Fest zog er die Haustüre hinter sich zu und humpelte zum Wirtshaus, wenige Straßen weiter.

Wie immer stellte der Wirt ein gefülltes Glas vor ihm auf den Tisch und ließ ihn reden. Er war wie so oft der einzige Gast, störte sich aber nicht daran, dass ihm niemand zuhörte.

Manchmal brachte ihm der Wirt einen Teller mit Oliven und Schafskäse. So auch an diesem Abend. Ob es aus Mitgefühl oder Mitleid gegenüber seinem Stammgast war, spielte keine Rolle.

Der Himmel war voller Sterne und klar, als er das Wirtshaus verließ und sich auf den Heimweg machte. Mühsam zog er sein rechtes Bein nach. Er stöhnte leise und schaute auf seinen Atem, der aus seinem Mund austrat und in der kalten Luft deutlich zu erkennen war.

Ein komisches Gefühl überfiel ihn, je näher er an sein Haus kam. Die angelehnte Türe bemerkte er sofort.

Verwundert fragte er sich, ob er vergessen hatte, die Türe zu verschließen.

Er konnte sich nicht erinnern.

Beim Eintreten spürte er, etwas war anders. Aus der Wohnstube drang Licht in den Flur. Er zögerte, blieb stehen. Sein Atem wurde schneller, er begann zu schwitzen. Mit einem Ruck stieß er die nur halbgeöffnete Türe weit auf.

Er hörte etwas auf seinem Kopf zerbrechen und sank zu Boden. Neben seinem Kopf bildete sich eine Pfütze aus Blut. Eine Stunde später war Alfons Mayer tot.