Budschakenblut

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Olga schaute prüfend in ihr Köfferchen, das aufgeklappt auf dem Tisch lag. Sie seufzte kurz, dann schloss sie die Augen. Bilder eines prachtvollen Festtages tauchten vor ihr auf:

Auf dem Marktplatz von Sarata feierte man sie. Sie stand auf einem Podest, neben sich den Schulzen, Karl Eberle. Olga trug ein selbstentworfenes Kleid, einem Kimono gleich, aus dunkelrotem Samt. Quasten aus hellroten Perlen verzierten ihren Ausschnitt. Der Stoff hing locker um ihren Oberkörper, war in der Taille mit einer schwarzen Kordel gebunden. Etliche Male umwickelte die Kordel den schmalen Körper Olgas. Auf Kniehöhe hatte sie an der Vorderseite ein paar Falten drapiert, so dass sie trotz der schleppenförmigen Verlängerung auf der Rückseite des Kleides bequem laufen konnte. Ihre langen dunkelbraunen Haare hingen locker über ihren Schultern. Ein winziger Hut mit weißen Gänsefedern zierte ihren Kopf, kunstvoll mit vielen Haarnadeln schräg aufgesteckt.

Karl Eberle setzte an zu seiner Rede: »Liebe Mitbürger, heute ist ein denkwürdiger Tag. Wenn ich um mich schaue, sehe ich, alle sind gekommen. Ich betone: alle. Besonders begrüßen möchte ich auch Hochwürden, Alois Fischer, der es sich trotz einer schlimmen Erkältung nicht nehmen ließ, heute und hier zu erscheinen. Eine unserer Mitbürgerinnen ...« Er drehte sich zu Olga um und nickte ihr zu. »So. Dieser Mitbürgerin gebührt heute unser ganzer Stolz.« Die Menschen klatschten begeistert. »Ich wiederhole: unser ganzer Stolz. Olga hat es geschafft, unser Sarata weit über die Grenzen des südlichen Bessarabiens hinaus ...« Eberle räusperte sich. »Über die Budschakengrenze hinaus bekannt zu machen. Und ich betone: ganz Bessarabien wird bald von ihr reden.«

Jetzt wandte er sich wieder Olga zu: »Olga, ich bin, nein, wir sind alle überzeugt davon: du wirst Russland im Sturm erobern. Wer geht dann noch nach Odessa, Moskau oder Sankt Petersburg? Die Menschen kommen hierher. In unser Sarata.« Wieder setzte begeisterter Beifall ein. Der Gemeindeschreiber, die rechte Hand des Schulzen, stand vor dem Podest und winkte seinen Vorgesetzten zu sich. Eberle beugte sich zu seinem Schreiber hinunter.

»Schulz, wir sind doch gar nicht mehr in Russland.«

»Halt den Mund! Wer redet schon von Rumänien?« Zornig richtete sich Karl Eberle wieder auf.

Die Begeisterungsrufe dauerten an, bis das Gemeindeoberhaupt die Hand hochhielt und wieder Ruhe einkehrte. »Für deine Verdienste, die in erster Linie den Frauen zugute kommen, überreiche ich dir ...« Er blickte suchend zu seinem Schreiber, der auch sogleich nach dem Korb vor seinen Füßen griff und ihn auf das Podest stellte.

»Olga, ich überreiche dir im Namen aller Bürger Saratas die goldene Nadel.« Die Männer grölten und die Frauen kreischten. Als der Schulz Olga das Präsent überreichte, ging sie ein wenig in die Knie, so schwer war die Nadel, die die Größe eines Fleischermessers hatte.

Olga öffnete ihre Augen und blickte auf ihre Hände die immer noch auf dem geöffneten Köfferchen lagen. Einen Moment dachte sie an das rote Kleid, dass sie vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. So eines würde sie sich nähen. Aber woher sollte sie so kurz nach dem Krieg roten Samt bekommen? Bestimmt würde bald jeder außerhalb dieses Kolonistendorfes ihren Namen kennen. Ja, sie würde Russland im Sturm erobern. Aber hatte sie denn vergessen, dass ihre Heimat seit ein paar Monaten zu Rumänien gehörte? Gab es in diesem Land überhaupt eine vergleichbar schöne Stadt wie Odessa? Sie wusste es nicht.

Olga fragte sich bisweilen, was sie nun mit ihren ausgezeichneten Kenntnissen in der russischen Sprache anfangen sollte. Die rumänische Sprache interessierte sie nicht und sie hatte auch keine Lust, ihre Zeit mit dem Erlernen dieser Sprache zu verbringen.

Aber wahrscheinlich würde sie, wie die anderen auch, nicht darum herum kommen, sich ein paar Brocken dieser fremden Sprache anzueignen.

Olga klappte den Koffer zu, warf sich ihr dickes wollenes Tuch über und verließ das Haus. Draußen war es bereits dunkel. In Abständen von vier Häusern mit ihren Höfen standen lange Holzmasten mit Petroleumlampen. Die Laternen, die abwechselnd von den Hofbesitzern angezündet wurden, beleuchteten die breite Straße spärlich.

Olga bemerkte, dass sie vergessen hatte, ihre Handschuhe mitzunehmen. Um ihre Hände zu wärmen, umklammerte sie den Koffer mit beiden Armen vor ihrem Bauch. Unter ihren Stiefeln spürte sie den gefrorenen Boden. Trotzdem zeigte sie keine Eile, als sie von der Marktstraße auf den Marktplatz zuging. Aufrecht, den Kopf stolz gerade gehalten, setzte sie einen Schritt vor den anderen. Sie dachte daran, dass in diesem Köfferchen, das sie wegen der Kälte noch stärker an ihren Bauch drückte, ihre Zukunft liegen würde. Zumindest in diesem Augenblick war sie fest davon überzeugt.

Olga spürte einen Druck in der Magengegend. Ob es daran lag, dass sie mal wieder vergessen hatte, etwas zu essen? Das war das letzte, an das sie jetzt denken durfte! Und außerdem wie konnte man bei so einer wichtigen Angelegenheit auch nur einen Gedanken ans Essen verschwenden?

Sie überquerte den Marktplatz, da tauchte vor ihren Augen die Kirche auf. Kaum ging sie an der Kirche vorbei, waren es nur noch wenige Meter, bis sie ihr Ziel erreichte. Das Gebäude, in dem sich der Sarataer Frauenverein regelmäßig traf. Hauptsächlich in den Wintermonaten war der Raum gefüllt mit Frauen, die ihren Handarbeiten nachgingen. Es wurde gestrickt, genäht und gehäkelt für den jährlichen Verkauf. Der Erlös kam der Barmherzigkeitsanstalt, dem Alexander-Asyl, den Kranken und Alten zugute.

Olga schaute um sich und vergewisserte sich, dass sie alleine war. Dann trat sie hinter einen Busch und spähte durch ein Fenster ins Innere des Raumes. Die Tische waren besetzt mit Frauen, die redeten und lachten, während ihre Hände keine Ruhe fanden zwischen den Nadeln und der Wolle. Die einen unterhielten sich laut über die bessarabische Küche, während andere von den Opfern die der Krieg gefordert hatte, sprachen. Wieder andere wussten die neuesten Meldungen aus dem Ort und den Nachbardörfern zu berichten.

Je länger Olga den Frauen zusah, desto mehr Zweifel stiegen in ihr auf. Vielleicht sollte sie doch umdrehen und wieder nach Hause gehen.

»Poschjol« hörte Olga in der Ferne eine Männerstimme rufen und zuckte erschrocken zusammen. Es war, als hätte das russische Wort, das »Vorwärts, geh« bedeutete, Olga gegolten.

»Mein Gott, Mutter steh’ mir bei«, murmelte sie und trat hinter dem Busch hervor auf die Straße.

Entschlossen schritt Olga auf den Eingang zu, öffnete schwungvoll die Türe und ließ sie dabei versehentlich los, so dass es einen riesigen Knall tat, als die schwere Holztüre gegen die Wand schlug. Das Klappern der Nadeln versiegte und nur das Knistern des Holzes im Ofen war noch zu hören. Olga schlug ein Geruch nach Schweiß und abgestandener Luft entgegen.

»Die Türe, ich habe ... äh, ich weiß auch nicht, ...entschul...«

Aber schon wurde sie von der Frau des Küsterlehrers, die diese Abende leitete, unterbrochen: »Ach Mädchen, es ist doch nichts passiert. Komm her, hast du auch endlich Zeit gefunden, zu kommen?«

»Ja. Das heißt, eigentlich nein. Ich bin nicht zum Handarbeiten gekommen. Ich ...« Olga begann zu schwitzen und streifte ihr Wolltuch ab. »Ich habe etwas mitgebracht.« Sie legte ihren Koffer auf den Tisch. Langsam erhoben sich die Frauen und versammelten sich neugierig um den Tisch.

»Zuerst einmal möchte ich sagen ...« Olgas Stimme ging im allgemeinen Geplauder der Frauen unter.

»Was ist eigentlich in dem Koffer?«, rief eine Frau.

»Könnt ihr nicht ein wenig näher an den Tisch rücken, ich seh’ von hier aus gar nichts«, schrie eine aus den hinteren Reihen.

»Seid mal ruhig und lasst sie reden«, kam es aus einer Ecke.

»Was ist drin in dem Koffer?«, aus der anderen Ecke.

»Jetzt mach doch endlich den Koffer auf!«, schrie eine Frau von hinten nach vorne.

»Haltet doch den Mund!«

Olga merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach.

Die Frau des Küsterlehrers kam ihr zu Hilfe und schlug mit der Hand auf der Tisch: »Ruhe! So geht das nicht. Jetzt seid alle still!« Aufmunternd nickte sie Olga zu, die dankbar zurück lächelte.

Olga räusperte sich. »Lasst mich zuerst ein paar Worte sagen, bevor ich euch zeige, was ich dabei habe.«

»Mach doch zuerst ...« kam der Einwand aus der hinteren Reihe. Ein strenger Blick der Lehrersfrau reichte jedoch aus, um die Sprecherin verstummen zu lassen.

Olga dachte einen kurzen Moment an die Schweißflecke, die sich bereits unter ihren Achselhöhlen auf dem Kleid gebildet haben mussten. »Wir alle sind froh ...« Eine Menge Spucke sammelte sich in ihrem Mund an. Olga schluckte und begann erneut: »Wir alle sind froh, dass der Krieg endlich zu Ende ist.«

Sogleich setzte ein gelangweiltes Stöhnen unter den Frauen ein. Sie blickten Olga verständnislos, manche aber auch fragend und neugierig, an.

Diese bemühte sich um eine feste und laute Stimme und fuhr fort: »Eine neue Zeit ist angebrochen. Eine Zeit, die wir nutzen sollten. Ich meine, wir Frauen.« Olga machte eine kurze Pause und schaute in zustimmende Gesichter. »Die meisten von euch sind Bäuerinnen. Ihr arbeitet nicht nur im Haus, sondern auch auf dem Hof, im Stall und im Sommer vor allem auf dem Feld.« Olga sah viele nickende Köpfe. »Wenn ihr einmal daran denkt, was ihr bei eurer Arbeit am Körper tragt, dann müsst ihr zugeben, es sind dunkle Schürzen über den Kleidern und meist schwarze Kopftücher.« Um die Wirkung ihrer Worte zu unterstreichen, legte Olga eine kurze Pause ein.

»Sollen wir jetzt keine Schürzen mehr anziehen und unsere Kleider beschmutzen?«, kam ein Zwischenruf.

 

»Meinst du, es macht einen Unterschied, ob wir rote oder schwarze Tücher auf dem Kopf tragen?«, fragte eine der Umstehenden.

»Bei den Ochsen im Stall vielleicht schon«, kam aus den hinteren Reihen die Antwort.

»Wen interessiert schon, was für eine Farbe unsere Tücher haben?«, fragte die Frau, die rechts neben Olga stand.

»Mein Albert daheim merkt doch nicht mal, ob ich was auf dem Kopf habe. Er merkt nur, wenn sein Essen abends nicht pünktlich auf dem Tisch steht.« Verständnislos schüttelte diese Sprecherin den Kopf.

»Was willst du eigentlich von uns?«, ertönte eine schrille Stimme aus einer Ecke.

»Sie will uns die Schürzen und Kopftücher wegnehmen«, lachte jemand hinter Olga.

»Jedenfalls möchte ich...« Olgas Stimme versagte unter dem allgemeinen Gelächter und Geschnatter der Frauen. Abermals kam ihr die Frau des Lehrers zu Hilfe: »Frauen, so geht es nicht. Ruhe bitte, lasst Olga reden.«

Olga begann erneut: »Ich will euch nichts wegnehmen. Ich will es ersetzen. Eure langweiligen Kopftücher durch etwas ersetzen, das zum einen eure Haare besser gegen Sonne und Staub schützt und euch zum anderen endlich voneinander unterscheidet. Auch die dunklen Schürzen werden ersetzt. Keine Angst, ich habe nur einen neuen Schnitt erfunden. Ein raffinierter Schnitt zusammen mit unterschiedlichen Stoffen und Mustern würde euch einmalig machen. Ich finde, keine Bäuerin sollte ein schwarzes Kopftuch tragen. Weder bei der Feldarbeit, noch bei sonst einer Arbeit. Alle reden von einem Neuanfang. Wir Bessaraberinnen machen den Anfang, in dem wir mutig Neues in der Mode ausprobieren. Keiner kann mehr behaupten, dass wir, wenn wir schon am Ende Europas leben, so doch, was die Mode angeht, fortschrittlich nicht nur mithalten, sondern vorauseilen.« Olga schaute in die Runde und sah in überraschte Gesichter.

»Jetzt will ich euch nicht länger hinhalten.« Sie öffnete langsam den Deckel des Koffers. Die umstehenden Frauen blickten neugierig und verwundert auf den Inhalt.

Ein Staunen ging durch den Raum.

»Was soll das denn sein?«, schrie eine alte Bäuerin dazwischen.

Diesmal ließ sich Olga nicht irritieren.

Behutsam stellte sie ein Drahtgestell auf den Tisch.

Die runden Drahtreihen, die in gleichem Durchmesser in die Höhe gearbeitet waren, verbanden blaue Streifen aus Stoff. Sie waren so um den Draht geflochten, dass er für den Betrachter kaum noch sichtbar war. »Was ihr hier seht, ist ein Haubenhut. Das«, Olga zeigte auf das Drahtgestell, »sind geflochtene Bänder aus Seide. An diesem Modell für den Sommer wird nur Seide verwendet, weil ihr dann bei der Hitze einen kühlen Kopf behaltet. Dieses Tuch, das von dem eigentlichen Hut, der Haube, herabhängt, schützt eure Ohren und den Nacken vor der Sonne. Hier oben an der Haube ist ein Loch, ihr werdet gleich sehen, wofür das gebraucht wird.« Olga blickte kurz zu den Frauen auf und schaute in ungläubige Gesichter. »An diesem Loch wird der Draht mit dem Stoffsäckchen hier befestigt. Ich zeig euch das gleich mal. Ach ja, auch bei den Farben des Stoffes habe ich mir etwas gedacht. Die eigentliche Haube, also das Gerüst ist blau, wie der bessarabische Himmel. Der Ohren- und Nackenschutz und das Säckchen oben sind goldfarben, wie die Ähren auf den Feldern. Ich habe es das Modell ‚Himmel und Erde’ genannt. Himmel und Erde wird aus Seide gefertigt. Im Winter habt ihr die Wahl zwischen Tschainik ...«

»Welche Frau will schon eine Tschainik auf dem Kopf tragen?«, kam es aus den hinteren Reihen. Alle im Raum wussten, dass das Wort Tschainik aus dem Russischen kam und Teekanne hieß.

Noch ließ sich Olga durch diesen Zwischenruf nicht stören. »Und es gibt noch das Modell ‚Arbuse‘.«

Gelächter machte sich im Raum bemerkbar, denn alle wussten, dass mit Arbuse die Wassermelone gemeint war.

Unsicher sprach Olga weiter: »Die beiden Modelle sind für den Winter gedacht. Tschainik soll aus schwerem Brokatgewebe sein und Arbuse aus dunkelrot eingefärbter Schafwolle. Die elegantere Variante auch in dunkelrotem Samt.« Das Gelächter war in der Zwischenzeit verebbt und Olga schaute in fragende Gesichter. »Ich meine, das mit dem Samt und dem Brokat ... Na ja, wenn es eben wieder welchen zu kaufen gibt.« Olgas Unsicherheit war wie weggeblasen und in ihrer augenblicklich aufflammenden Euphorie nahm sie die bedrückende Stille im Raum gar nicht wahr. Sie deutete die Ruhe als Zeichen der Bewunderung. Die boshaften Blicke, die sich die Frauen untereinander zuwarfen, bemerkte Olga genauso wenig wie das überhebliche Grinsen, das mancher Siedlersfrau im Gesicht stand.

Fest überzeugt von ihrem genialen Einfall des Haubenhutes machte sich Olga daran, das Modell vorzuführen.

Olga beugte ihren Oberkörper nach vorne und ließ ihre dicke Lockenmähne vorfallen. Sie umfasste ihre Haare mit einer Hand, während die andere nach einem Stoffband im Koffer griff. Kopfüber band sie die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Dann warf sie ihren Kopf wieder zurück und griff nach ihrem Haubenhut. Sie setzte sich das Drahtgestell auf den Kopf.

Mit der einen Hand hob sie den Hut fest, mit der anderen suchte sie nach dem Pferdeschwanz und zog ihn durch das Loch oben aus der Haube heraus. Dann griff sie nach dem Stoffsäckchen, in das Draht eingenäht war. Sie steckte ihr Haarbüschel hinein und befestigte das Ende des Drahtes an dem Haubengestell.

»Euer ganzer Kopf ist so geschützt vor Dreck, Staub und Sonne. Die langen Haare in dem Stoffsäckchen könnt ihr durch den Draht in die Form biegen, die ihr haben wollt. Ihr könnt ein Nestchen auf dem Kopf machen, alles als geraden Pferdeschwanz zu einer Seite oder nach hinten biegen. Ach, ihr habt so viele Möglichkeiten. Also ihr könnt jetzt den bessarabischen Haubenhut bei mir bestellen und ich mach mich sofort zu Hause an die Arbeit. Allerdings noch nicht die Modelle Tschainik und Arbuse. Aber Himmel und Erde auf jeden Fall.« Zufrieden nahm Olga das Drahtgestell wieder vom Kopf, befreite den Pferdeschwanz aus dem Säckchen und entfernte das Band. Sorgfältig legte sie alles zurück in den Koffer. »Was meint ihr, eure Männer ...«

»Unsere Männer schlagen uns so was ohne viel Worte vom Kopf, dann hat sich das mit dem Haubenhut erledigt.« Wohl ein ernstzunehmender Einwand, der von hinten kam.

»Olga, was glaubst du, was mein Alfred sagt, wenn ich mit Tschainik, Arbuse oder Himmel und Hölle auf dem Kopf nach Hause komme?«, fragte eine Siedlerfrau, die gegenüber von Olga am Tisch stand.

»Das Modell heißt Himmel und Erde«, verbesserte eine Andere.

Aus einer Ecke schrie eine Bäuerin durch den Raum: »Olga, da fehlen noch die Pfauenfedern oben drauf.«

Neben Olga ergriff jemand das Wort: »Haubenhut! So ein Blödsinn. Wer traut sich schon mit so einem Aufbau rumzulaufen und dann noch bei der Arbeit! Wenn wir so rumlaufen und die Fremdstämmigen sehen das, was meint ihr wohl, was die denken? Die halten doch alle Bessaraber für meschugge!«

Hinter Olga zischte ihr eine Frau böse ins Ohr: »Olga, vielleicht solltest du auch mal auf dem Feld arbeiten. Täte dir sicher gut. Dann hättest du nicht so unglaubliche Einfälle. Du solltest deine Zeit mit richtiger Arbeit ausfüllen. Näh Kleider, strick Pullover. Aber so was, ... Die bessarabische Bauersfrau mit Haubenhut!«

»Stellt euch vor, wir stehen auf dem Feld und haben diese Drahthauben auf dem Kopf. Und jetzt denkt an die schrecklichen Gewitter im Sommer. Da ist doch so ein Hut wie eine Todesfalle. Hast du das auch schon überlegt, Olga?«

Olga hörte nicht mehr hin. Sie hatte den Koffer bereits geschlossen und griff nach ihrem Tuch, das danebenlag. Eine kräftige Frau lehnte sich zu Olga über den Tisch und zischte böse: »Was kann man schon von einer Illg, die einen Idler zum Großvater hatte, erwarten. Die Mutter war immer so stolz.«

»Amalie hör auf«, wurde sie von der Küsterlehrersfrau aufgefordert.

Aber Amalie Müller kümmerte das wenig. »Das weiß doch jeder, dass sich die Katharina Illg immer für was Besseres gehalten hat.« Amalie kam mit ihrem Gesicht ganz nahe an Olga. Ihre Augen funkelten böse: »Ha, wie die immer durch Sarata stolziert ist.«

Olga konnte den schlechten Atem der Frau nicht ertragen und wich zurück.

Wieder war es die Frau des Lehrers, die sich einmischte: »Olga, wir wissen doch, ...«

Olga hörte ihre Worte nicht mehr. Sie rannte mit ihrem Koffer und ihrem Wolltuch in der Hand auf die Straße hinaus.

Ohne anzuhalten lief sie schnell nach Hause.

In der Bachstraße angekommen, stürzte sie keuchend in die Küche. Ihre Schwester Berta saß am Küchentisch und war gerade dabei, die restlichen Pfannkuchen vom Mittag zu essen. Als sie Olga so außer Atem mit verheultem Gesicht sah, schluckte sie, ein Stück Pfannkuchen im Mund, ohne zu kauen hinunter. »Mein Gott Olga, was ist denn passiert?«

Olga warf ihren Koffer in die Ecke und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich hätte auf dich hören sollen. Es war so, so schrecklich. Warum hab ich nicht auf dich gehört?« Olga rannen die Tränen über die Wangen. Vor lauter Wut weinte und schluchzte sie hemmungslos.

»Diese Amalie Müller, diese Maschka! Eine Baraska ist das, ein Durak!«

Berta verstand diese Schimpfworte gut. So bedeutete Maschka eine dicke Frau, Baraska eine in ihren Arbeiten langsame Frau und Durak einfach Dummkopf.

Berta versuchte ihre Schwester ein wenig zu trösten. »Olga, schon unsere Mutter hat sich in diesen Dingen bei den Frauen hier aufgerieben.«

»Die hätte mich verstanden.«

»Die Müller war schon immer ein Weibsbild mit einer lockeren Zunge. Aber im Grunde redet sie nur gerne und viel.«

»Die stinkt so aus dem Maul.«

»Olga, jetzt hör aber auf!«

»Tschort wosmi!« Olga wiederholte die zwei Worte noch einmal in Deutsch: »Hol’s der Teufel!«

Berta reichte ihrer Schwester ein Taschentuch. Olga wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Diese Weiber hier sind doch alle gleich. Ich hab’ das alles so satt, ich geh’ hier fort.«

»Ich versteh, dass du enttäuscht bist. Aber wo willst du denn hin? Du gehörst hierher. Du wirst sehen, wenn hier alles wieder in geregelten Bahnen läuft, kommen auch deine Ideen an. Die Menschen sind noch verwirrt vom Krieg. Bestimmt wollen sie bald ...«

»Trinken wir einen von Großvaters Weinen oder den Nussschnaps?«; unterbrach Olga.

Berta stand auf und füllte einen Krug mit Wein. Olga ging zum Küchenschrank und holte zwei Gläser. Berta zeigte auf die drei Pfannkuchen, die noch auf dem Teller lagen. Ihre Schwester schüttelte den Kopf. Sie konnte doch nach so einer Enttäuschung keine Pfannkuchen essen. Ihr war der Appetit vergangen. Berta hingegen stopfte die Mehlspeise genüsslich in sich hinein.

Seit dem Tod der Mutter nahm Bertas Körper von Woche zu Woche rundlichere Formen an. Während Olga stetig schmäler wurde und manchmal vergaß, dass sie noch nichts gegessen hatte, schaufelte sich Berta aus Kummer alles Essbare, das sie erwischen konnte, in den Mund.

Nach zwei Gläschen Wein ging Berta zu Bett. Olga blieb noch solange in der Küche sitzen, bis kein Tropfen von dem Wein mehr im Krug war. Dann stand sie auf und ging in die Kammer ihrer verstorbenen Mutter.

Jedes Mal, wenn sie diesen Raum betrat, war es, als bliebe ihr Herz einen kurzen Moment stehen. Sie sah dann vor sich auf dem Bett die tote Katharina liegen.

Weder Olga noch ihre Schwester hatten es bisher geschafft, in Katharinas Kammer etwas zu verändern.

Olga stellte die Petroleumlampe auf der Kommode ab. Sie griff zu einem gerahmten Foto das die Mutter und den Vater auf deren Hochzeitsreise zeigte. Olga nahm das Foto und blickte in den kleinen Spiegel, der über der Kommode hing. Sie begann, ihr Äußeres mit dem Katharinas zu vergleichen. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter.

Die gleichen braunen schulterlangen Locken, die gleiche zarte Gestalt, den schmalen Körperbau, der fast zerbrechlich wirkte. Der einzige Unterschied zwischen Mutter und Tochter waren die Augen. Katharinas Augen waren strahlend blau gewesen, während Olga unterschiedliche Augenfarben hatte. Eines war leuchtend blau und das andere strahlend grün. Olga seufzte, da hatte sich wohl der Herrgott nicht entscheiden können.

Jeder, der Olga und Katharina kannte, hatte stets betont wie ähnlich sich die beiden auch in ihrem Wesen waren. Die gleichen Interessen, der gleiche Starrsinn, um ein Ziel zu erreichen, die gleiche Verletzlichkeit. Beinahe so, als wären sie eine Person.

Olga öffnete die oberste Schublade der Kommode und holte eine große Schere heraus.

 

Sie grinste sich im Spiegel an. »Was brauchen wir Weiber einen Haubenhut! Wir schneiden uns einfach die Haare ab!« Sie hob einen dicken Haarschopf in die Höhe und schnitt ihn mit einem Ruck ab. Je schneller sie schnitt, desto besser wurde ihre Laune. Als keine Locke mehr bis zur Schulter reichte, legte sie die Schere zurück, lief in die Küche und kam mit einem Glas Nussschnaps zurück. Lachend prostete sie ihrem Spiegelbild zu und kippte den Schnaps in einem Zug hinunter.

Dann griff sie zur Lampe und beleuchtete die abgeschnittenen Locken, die auf dem Holzboden lagen.

»Tschort wosmi«, lachte sie und schloss die Tür der Kammer hinter sich.

Berta hatte bereits das Haus verlassen, als Olga am nächsten Morgen aufwachte. Einen Augenblick wusste Olga nicht, ob sie alles nur geträumt hatte, oder ob die Ereignisse des gestrigen Abends wirklich stimmten. Sie fasste sich auf den Kopf und merkte sofort, dass ihre Haare abgeschnitten waren. Es war kein Traum gewesen. Der Kopf tat ihr weh. Lag es an der Bloßstellung mit dem Haubenhut oder an dem Wein und Schnaps, den sie getrunken hatte? Olga entschied sich für das Erstere. Wie sollte man bei so verbohrten Budschakenweibern keine Kopfschmerzen bekommen? Aber sie wollte nicht mehr daran denken. Bald schon würde sie nach Sankt Petersburg gehen und ...

Olga stöhnte leise, als sie aufstand. Langsam ging sie in die Küche und kochte sich einen Tee. Sie füllte den Waschzuber mit kaltem Wasser aus den Eimern, die immer gefüllt neben dem Herd standen. Sie wusch sich mit dem eiskalten Wasser und steckte am Schluss noch ihren ganzen Kopf in den Zuber.

Abgetrocknet und wieder angezogen, trank sie ihren lauwarmen Tee und fühlte sich besser.

Olga stellte sich mit ihrer Teetasse in der Hand ans Fenster und schaute auf den Hof.

Ihr Blick wanderte vom Stall über die letzten Schneereste, die noch vereinzelt in den Ecken lagen. Alles wirkte friedlich und ruhig. In der Ferne bellte ein Hund.

Es war Ende Februar und immer noch sehr kalt. Bestimmt freuten sich die Menschen, wenn endlich der Frühling anbrechen würde. Hoffnungsvoll sahen alle dem Jahr entgegen und sehnten sich nach den Farben der ersten Blumen und dem Duft ihrer Blüten. Der Wunsch nach Frieden nach diesem langen Krieg war vergangenes Jahr im November endlich in Erfüllung gegangen. Wäre nicht der Tod der Mutter gewesen, könnte Olga auch allem mit mehr Freude entgegenblicken.

Katharina, die jede freie Minute an ihrer Nähmaschine verbracht hatte. Katharina, in einem neuen Kleid aus blauem Seidenstoff, so blau wie ihre Augen. Elegant hatte sie darin ausgesehen, zu fein für diese Umgebung. Als Kind war es Olga manchmal unangenehm gewesen, wenn die Mutter mit ihr an der Hand in solch einer Aufmachung in den Kaufladen ging oder durch den Ort lief. Trafen die Kleine böse Blicke mancher Bäuerinnen, schämte sie sich für die Mutter. Ebenso unangenehm war es ihr, bei erstaunten oder gar aufmunternden Blicken mancher Männer im Dorf.

Die Mutter schien das nicht zu bemerken, sie schritt erhobenen Hauptes durch Sarata. Als Olga Jahre später die gleiche Leidenschaft gegenüber Stoffen und raffiniert geschnittenen Kleidern erfasste, spazierte sie ebenso gleichgültig und stolz in eigen entworfenen Modellen durch den Ort. So wie Katharina die meiste Zeit an der Nähmaschine verbracht hatte, so tat es jetzt Olga. Entweder nähte sie, oder sie ging auf den Markt Stoffe aussuchen. Auch in der Tuchfabrik war sie eine gern gesehene Kundin, die zwar anspruchsvoll war, aber auch großzügig einkaufte, wenn sie etwas fand. Nur leider gab es wenige Monate nach Kriegsende hier noch keine Auswahl an Stoffen. Hoffentlich würde sich das bald ändern.

Olga stellte ihre Teetasse ab und schaute auf die Uhr. Sie war zwar heute sehr spät aufgestanden, doch wenn es nach ihr gegangen wäre, könnte es bereits Mittag sein. Wie langsam aber auch die Zeit heute Vormittag verging, dachte sie und lauschte eine Weile dem Ticken der alten Wanduhr.

Man hatte ihr gesagt, im Laufe des Vormittags würde die Lieferung eintreffen. Vor Mittag brauchte sie nicht zu kommen. Die vergangenen drei Vormittage verbrachte Olga bereits mit Warten. Jedes Mal wurde sie enttäuscht, als sie ihre Bestellung abholen wollte und diese nicht eingetroffen war. Von Deutschland bis ans Schwarze Meer nach Bessarabien war es eben doch ein langer Weg.

Olga hörte Geräusche von außen. Jemand rannte über den Hof. Es war Berta die ins Haus stürmte.

»Sie haben mich genommen!«, rief Berta ihrer Schwester entgegen. Ihr Gesicht strahlte vor Freude und ihre Augen funkelten. Dann starrte sie entsetzt zu Olga: »Wie siehst du denn aus?«

Olga zuckte mit den Schultern.

»Na ja, ich meine nur«, Berta fasste an Olgas Haare. »Da fehlt ein ...«

»Du hast es also geschafft, gratuliere«, unterbrach Olga.

»Ich bin noch ganz aufgeregt. Es hat sich verdient gemacht, dass ich während dem Krieg im Lazarett geholfen habe.«

»Hoffentlich. Schließlich hast du dich für die vielen Verletzten bis zur Erschöpfung aufgeopfert. Es hat ja nicht mehr viel gefehlt und wir hätten dich pflegen müssen.«

»Olga, endlich!« Berta umarmte die Schwester stürmisch. »Endlich darf ich die Ausbildung zur Krankenschwester machen.«

»Du weißt auch hoffentlich, was das heißt: zwei Jahre Schülerin, zwei ...«

»Zwei Jahre Probeschwester«, unterbrach Berta. »Und danach Hilfsschwester. Wenn ich 25 bin, werden sie mich als Schwester einsegnen.« Zufrieden schaute Berta auf Olga.

»Ach Berta, ich freu mich für dich. Aber du wirst jetzt dein Leben lang in einem dunkelgrauen Kleid mit einer hellgrauen Schürze darüber rumlaufen. Dazu den braven weißen Kragen am Hals und das schlimmste: diese weiße Haube. Überleg dir das gut. Tag für Tag grau und weiß.«

»Du hast vielleicht Sorgen«, lachte Berta. »Wenn das so schlimm ist, dann frag ich mich, warum sich am Sarataer Diakonissenhaus so viel mehr Schülerinnen melden, als aufgenommen werden können.«

Olga zuckte nur mit den Schultern. Sie verstand das nicht. Krankenschwester werden konnte sie sich nie und nimmer vorstellen.

»Olga, jetzt sag schon, was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Solltest du auch tun, das ist viel praktischer. Vor allem für dich, du trägst ja bald Zeit deines Lebens eine Haube.«

»Spotte nur«, meinte Berta beleidigt.

»Ach komm«, fiel ihr Olga ins Wort und umarmte die Schwester. »Es war nicht richtig von mir, das zu sagen. Hilfst du mir heute Abend, die Haare gleichmäßig abzuschneiden? Ist mir nicht so gut gelungen.«

Berta nickte. »Ich muss gleich mal zu Lydia rüber und ihr die Neuigkeit sagen.«

Bevor Olga noch etwas sagen konnte, schlug Berta bereits die Türe hinter sich zu.

Wieder schaute Olga auf die Uhr. Sie würde jetzt die Zeit nutzen und die Küche aufräumen und putzen. Damit konnte sie Berta eine große Freude machen. Berta war nämlich diejenige, die sich hauptsächlich darum kümmerte, dass Haus und Hof saubergehalten wurden und jeden Tag ein warmes Essen auf dem Tisch stand. Olga wusste gar nicht, wie es werden sollte, wenn Berta als Schwesternschülerin anfing. Dann war sie selbst wohl oder übel auch mal dran mit der Hausarbeit.

Olga stürzte sich in die Putzarbeit. Als die Wanduhr endlich zwölfmal schlug, ließ sie den Lappen einfach fallen. Sie schwang ihr Wolltuch über die Schultern und setzte einen Hut auf. Obwohl es noch Zeit war, lief sie schnell zum Marktplatz, in die Wernerstraße.

Insgeheim bangte Olga, dass sie wie die vergangenen Tage auch, mit leeren Händen nach Hause kommen würde. Hoffentlich hatte sie heute Glück und musste sich nicht wieder auf den nächsten Tag vertrösten lassen.

In Sarata gab es jetzt endlich eine Buchhandlung, die auch gleichzeitig Galanterie war. Der Buchhändler hatte ihr erzählt, dass er die erste deutsche Modezeitschrift, die Kleiderschnitte aus neuerer Zeit einführte, für die Frauen in Sarata bestellt hatte. In Deutschland kleidete man sich jetzt, nach dem Krieg, nämlich nach der Mode. Olga befürchtete allerdings, dass das in diesem Kolonistenort noch lange dauern würde. Natürlich hatte sie sich gleich als sie davon erfuhr, ein Exemplar reservieren lassen.