Das Collier der Lady Ira

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Das Collier der Lady Ira
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Mara Laue

Das Collier

der Lady Ira

Ein Edinburgh-Krimi mit Glen Kincaid


Edinburgh-Krimi

Inhaltsverzeichnis

1 Das Collier der Lady Ira

2 1.

3 2.

4 3.

5 4.

6 5.

7 6.

8 7.

9 8.

10 9.

11 10.

12 11.

13 12.

14 13.

15 Wissenswertes

16 Impressum

Orientierungsmarken

1 Inhaltsverzeichnis

Das Collier der Lady Ira

Anmerkung der Autorin

Alle im Roman beschriebenen Orte sind authentisch, mit Ausnahme von Forthwater Manor, der Agentur Currie & Stewart und Glen Kincaids Haus. Diese Gebäude sind reine Fiktion. Wenn Sie aber den Ort besichtigen möchten, wohin Forthwater Manor gestellt wurde, so finden Sie ihn am Aussichtspunkt Cramond Causeway und erreichen ihn über die Cramond Road, Cramond Glebe Road und die Cramond Village Road. Im danebengelegenen The Cramond Inn kann man auch sehr gut essen.

Ebenfalls frei erfunden sind alle Personen und Handlungen. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen wären Zufall.

1.

Donnerstag, 27. März

Gwyn Harrington blickte zum wiederholten Mal auf die Uhr. Acht Uhr siebenundzwanzig. Sie hasste Unpünktlichkeit. Erst recht, wenn sie einem Kunden einen so späten Abholtermin einräumte. Normalerweise schloss sie ihr Geschäft Punkt acht Uhr abends. War es zu viel verlangt, dass ein Kunde, wenn er schon nicht wie vereinbart pünktlich um fünf vor acht erschien, dann doch wenigstens innerhalb der sprichwörtlichen akademischen Viertelstunde auftauchte? Mit jeder Minute, die verstrich, nahm Gwyns Ärger zu.

Sie ging zum Eingang, öffnete die Tür und sah auf die Straße. Der Feierabendverkehr in Edinburghs Innenstadt war zumindest in der Clerk Street vorüber, und vor Gwyns Geschäft parkte kein Auto. Sie gab dem Kunden noch fünf Minuten. Sollte er dann nicht gekommen sein, würde sie den Laden schließen und nach Hause gehen. Die Schutzgitter vor den Fenstern waren bereits heruntergelassen und die Alarmanlagen bis auf die für die Eingangstür eingeschaltet. In den Auslagen befanden sich ohnehin nur die billigen Schmuckstücke zum Anlocken der Laufkundschaft und der Touristen. Sollten die gestohlen werden, konnte sie das verschmerzen, denn in den Laden selbst kämen Einbrecher nicht, weil hinter den Auslagen Stahljalousien die Fensternischen zum Verkaufsraum und den hinteren Räumen abriegelten.

Gwyn seufzte, kehrte in den Laden zurück und vergewisserte sich nochmals, dass der Tresor im Hinterzimmer abgeschlossen und dessen Alarmanlage ebenfalls aktiviert war. Die Türklingel ließ sie zusammenzucken, obwohl sie auf das Geräusch gewartet hatte. Trotzdem blickte sie erst auf den Überwachungsmonitor, der ihr zeigte, wer den Laden betreten hatte. Sie atmete auf, als sie den erwarteten Kunden erkannte.

Am liebsten hätte sie den Kerl zur Strafe für seine Verspätung wieder weggeschickt unter dem Vorwand, sie habe seine Bestellung im Tresor eingeschlossen, weil sie nicht mehr mit seinem Erscheinen gerechnet habe, und der Tresor ließe sich bedauerlicherweise vor Montag früh um acht Uhr nicht wieder öffnen. Letzteres entsprach zwar der Wahrheit, aber Gwyn hatte das Schmuckstück nicht dort deponiert.

Sie ging in den Verkaufsraum. Der Mann lächelte und machte ein zutiefst zerknirschtes Gesicht.

»Mrs Harrington, ich bitte tausendmal um Entschuldigung für die Verspätung! Ich wurde in der Firma aufgehalten. Ein dringendes Gespräch mit einem ausländischen Kunden, der auf der anderen Seite des Erdballs wohnt und dem nicht bewusst war, dass bei uns schon Abend ist. Erlauben Sie mir, Sie für die Wartezeit mit einem Bonus zu entschädigen.«

Gwyns Ärger verflog. »Das ist nicht nötig, Sir«, versicherte sie. »Bitte kommen Sie in mein Büro. Ich schließe nur schnell die Vordertür ab, damit niemand uns stört.« Sie deutete auf die Tür zum Büro.

Der Mann ging voran, und Gwyn schloss die Vordertür ab. Vorsichtig betrat sie anschließend das Büro. Vorsichtig deshalb, weil man nie wissen konnte, ob ein Kunde nicht nur vortäuschte, Kunde zu sein, um sie leichter überfallen und ausrauben zu können. Aber der Mann hatte sich in einen Sessel gesetzt und sah ihr erwartungsvoll entgegen.

»Einen Augenblick bitte, Sir, ich hole Ihr Schmuckstück.« Denn selbstverständlich befand sich der Safe für die Zwischenlagerung nicht im Büro, wo jeder Gast ihn sehen und möglicherweise auch erkennen konnte, welche Kombination Gwyn ins elektronische Schloss eintippte.

Zwei Minuten später legte sie eine blausamtene Schatulle vor den Kunden hin. Feierlich klappte sie sie auf und ließ ihn den Inhalt sehen. Hielt die Luft an und wartete gespannt auf sein Urteil. Seinem Gesichtsausdruck nach war er nicht nur zufrieden, sondern schwer beeindruckt. Das entlockte Gwyn ein erleichtertes Lächeln.

Dem Kunden ebenfalls. »Ein Meisterwerk!«, lobte er. »Meine Frau wird vor Freude aus dem Häuschen sein.« Er strich mit einem Finger sanft darüber und seufzte. »Echte Diamanten kann ich mir leider nicht leisten, sonst würde ich ihr die schenken. Aber so muss es eben die schmuckliche ›Zweitgarnitur‹ sein, wenn ich das mal so salopp sagen darf.«

»Sie dürfen. Die Superreichen, die sich einen solchen Schmuck mit echten Edelsteinen leisten können, sind eher auf der arabischen Halbinsel oder im Königshaus zu finden. Aber ich bin sicher, Ihre Frau versteht die Symbolik und ist begeistert. Denn ich versichere Ihnen, dass nur Fachleute erkennen werden, dass das gute Stück aus Halbedelsteinen besteht.«

»Das glaube ich gerne.« Er nahm das Schmuckstück und untersuchte es intensiv – Millimeter für Millimeter, wie Gwyn den Eindruck hatte.

Sie schielte zur Uhr. Viertel vor neun. Wenn sie nicht bald nach Hause kam, würde Ken ihr wieder eine Szene machen. Oder noch schlimmer: Er stand in den nächsten zehn Minuten vor der Tür, würde wissen, dass sie da war, weil im Verkaufsraum noch Licht brannte, und Sturm klingeln. Wenn sie ihm öffnete, würde er sofort ins Büro stürmen. War der Kunde dann noch da, wäre er überzeugt, Gwyn hätte heißen Sex mit ihm gehabt. Und sie wollte sich seine Reaktion darauf nicht ausmalen. Sie sollte sich scheiden lassen. Seine Eifersucht hatte inzwischen unerträgliche Ausmaße angenommen.

Doch davor hatte sie Angst. Er würde sie umbringen, wenn sie ihn verließ. Und sie konnte ihr gutgehendes Geschäft nicht Knall auf Fall aufgeben oder im Stich lassen, um vor ihrem Ehemann zu fliehen. Das würde Vorbereitungen erfordern, die er garantiert merkte.

Der Kunde legte das Schmuckstück endlich in die Schatulle zurück. »Hervorragende Arbeit«, lobte er und nickte anerkennend. »Wenn Sie mir die Rechnung geben, begleiche ich die sofort. Ich kann doch mit Kreditkarte bezahlen?«

»Selbstverständlich, Sir. Einen Moment bitte.« Sie ging zum Ablagekorb auf ihrem Schreibtisch, in den sie die Rechnung bereits gelegt hatte. In fünf Minuten konnte sie endlich nach Hause.

2.

Freitag, 28. März

Forthwater Manor. Glen Kincaid parkte seinen Wagen auf dem großen Hof vor dem imposanten Gebäude, das am östlichen Ufer der Mündung des Almond in den Firth of Forth lag. Er fühlte sich beim Anblick der Burg um Jahrhunderte zurückversetzt. Mauerwerk aus großen Steinen, deren Farben von sandgelb bis aschgrau reichten, angereichert mit vermutlich unbeabsichtigten Akzenten aus rostroten Steinen. Sie waren so angeordnet, dass sie wirkten, als habe ein Riese die Mauer mit einem Breitschwert verletzt, die aus dieser großen Wunde blutete, denn die roten Steine verteilten sich von dieser Ballung aus wie eine Fontäne aus Blutstropfen abwärts auf der Mauer.

Glen stieg aus und öffnete die hintere Wagentür. Sein blonder Labrador Shade sprang heraus, rannte zum nächsten Busch und hob das Bein. Glen nahm seinen Aktenkoffer aus dem Kofferraum, verriegelte die Tür und wartete, bis Shade sich erleichtert hatte, ehe er einen leisen Pfiff ausstieß und zum Haupteingang des Manors ging. Shade sprintete an seine Seite und trabte neben ihm her. Glen verzichtete auf eine Leine, wo er die nicht wegen irgendwelcher Vorschriften benutzen musste, denn er hatte Shade bestens erzogen, sodass der Hund ihm aufs Wort – oder Handzeichen oder Pfiffe – gehorchte.

Forthwater Manor stand unter Denkmalschutz, weshalb die Tür immer noch ein aus Eichenbohlen gefertigtes, mit silberfarbenen Beschlägen versehenes Monstrum war. In der Mitte prangte das schmiedeeiserne Clanwappen der Moncreiffes, die die Burg erbaut hatten: ein sich aufbäumender Löwe mit dem Clanmotto »Sur Esperance« – »über allem die Hoffnung« – halbkreisförmig darüber. Darunter befand sich ein riesiger Klopfer, der als »Klingel« fungiert hatte, bevor neben der Tür ein echter Klingelzug angebracht worden war. Glen zog daran. Tief in der Burg erklang ein Gong. Shade knurrte leise.

Glen warf ihm einen verweisenden Blick zu. »Benimm dich!«, forderte er den Hund auf. Shade sah ihn treuherzig an, wedelte mit dem Schwanz und hechelte, was aussah, als würde er Glen anlächeln. »Keine Chance! Auf die Unschuldsmiene fall ich nicht rein.«

Als hätte Shade ihn verstanden, ließ er die Ohren hängen.

Hinter der Tür erklangen gedämpfte Schritte. Sekunden später wurde sie von einem Mann um die fünfzig geöffnet. Dessen Lächeln gefror bei Glens Anblick, und er starrte ihn schockiert an. Zwar machte der Schock gleich darauf einer von Erröten begleiteten Verlegenheit Platz, aber der Mann konnte seine spontane Reaktion beim Anblick der Narben in Glens Gesicht, die sich über das Auge, die rechte Wange und den Hals bis unter den Hemdkragen zogen, nicht ungeschehen machen. Er war gewöhnt, dass man ihn entweder schockiert, mitleidig oder verächtlich ansah, denn die Narben fielen jedem als erstes ins Auge, selbst wenn er wie heute einen Anzug trug und wie aus dem Ei gepellt wirkte. Dennoch verspürte er immer noch jedes Mal einen Stich im Inneren.

 

Er enthob den Mann weiterer Verlegenheit. »Mr Ian Craig?« Glen reichte ihm eine Visitenkarte. »Glen Kincaid von der Versicherung Currie and Stewart. Ich komme wegen Ihres Antrags auf Versicherung eines Colliers.«

Der Mann nickte, nahm die Karte und blickte flüchtig darauf. »Ich habe Sie erwartet. Bitte, kommen Sie herein.«

»Darf mein Hund mit? Ich versichere Ihnen: Er weiß sich zu benehmen.«

»Gerne.« Craig öffnete die Tür weit, lächelte Shade zu und vermied, Glen noch einmal ansehen zu müssen. »Ich hatte früher auch Hunde. Traditionelle Jagdhunde, obwohl ich schon lange nicht mehr jage. Aber so eine ganze Meute frisst einem die Haare vom Kopf. Deshalb habe ich sie schließlich abgeschafft. – Hier entlang, bitte.«

Glen folgte dem Mann in ein relativ kleines Büro, dessen moderne Einrichtung in krassem Kontrast zum altertümlichen Äußeren der Burg stand.

Craig forderte ihn mit einer Handbewegung auf, vor einem Schreibtisch Platz zu nehmen, hinter den er selbst sich setzte. »Weil Forthwater Manor unter Denkmalschutz steht, darf ich das Äußere nicht verändern und muss auch einen großen Teil des Inneren erhalten. Aber wenigstens mein Büro konnte ich einrichten, wie ich wollte.«

Glen setzte sich, und Shade legte sich neben ihn. Der Hund kannte die Prozedur und wusste, dass er sich bei Kundenbesuchen möglichst ruhig und unauffällig zu verhalten hatte.

»Ja, Denkmalschutz ist Segen und Fluch zugleich«, stimmte Glen ihm zu. Er öffnete seinen Aktenkoffer, nahm einen Stapel Papiere heraus und reichte ihn Craig. »Wenn Sie sich den Vertrag bitte sorgfältig durchlesen wollen, Sir.«

Craig nickte, war aber in die Betrachtung der Visitenkarte vertieft. Er runzelte die Stirn und blickte Glen flüchtig an. »Sie sind – Versicherungs-Detektiv

Glen glaubte, einen Hauch von Entsetzen, in jedem Fall aber Empörung, in der Frage zu hören. »Im Hauptberuf. Aber da auch eine renommierte Versicherung wie Currie and Stewart nicht jeden Tag mit Versicherungsbetrug zu tun hat, fungiere ich auch als Bote, der Verträge überbringt.« Glen deutete auf den Vertrag, den Craig vor sich hingelegt hatte. »Und natürlich vergewissere ich mich in Fällen wie diesem, dass der zu versichernde Schmuck echt ist. Haben Sie das Gutachten über das Collier schon erstellen lassen?«

»Ja, wie gewünscht.« Craig zog eine Schublade auf, nahm einen Schnellhefter heraus und reichte ihn Glen. »Der Gutachter hat es erst gestern geliefert, obwohl ich ihn schon vor über zwei Wochen damit beauftragt hatte. Hatte angeblich zu viel zu tun.« Das klang vorwurfsvoll und ungläubig.

Glen nahm den Hefter und setzte seine Lesebrille auf, bevor er ihn öffnete. Im Briefkopf prangte das Logo von John Mac­Bean als vereidigtem Schmuckgutachter neben dem Clanwappen, einer aufgerichteten Katze, die eine Pfote auf einem Schild abgestützt und die andere wie zum Schlag erhoben hatte. Dazwischen standen MacBeans Name und Kontaktdaten. Mac­Bean war in der Branche ein bekannter und geachteter Mann. Seine Gutachten und Wertschätzungen galten als akkurat und korrekt.

MacBean hatte das Collier ausführlich beschrieben, bestehend aus einzeln in Gold gefassten einundzwanzig Saphiren im Altschliff – dem Vorläufer des Brillantschliffs – mit Rose Cut, bei dem die Steine ohne untere Spitze in die Fassung gebettet waren, die eine Köcherfassung mit massivem Goldboden darstellte. Den Mittelpunkt bildete ein lupenreiner schwarzer Diamant im Tropfenschliff, eingebettet in zwei Reihen aus dreiundvierzig einzeln gefassten Diamanten, ebenfalls mit Altschliff. Zwischen den Saphiren saßen zwanzig winzige goldgefasste Rubine wie Perlen, und einer verdeckte die goldene Öse des schwarzen Diamanten. Der war etwa fünfmal so groß wie die Saphire. Die Schließe bildeten zwei goldene Haken, die wie winzige Drachen geformt waren, die ihre Köpfe umeinander wanden, wenn sie geschlossen wurde. MacBean hatte die Karatzahl jedes einzelnen Steins angegeben und den reinen Materialwert mit 841.093 Pfund Sterling beziffert. Da es sich aber um ein verarbeitetes Schmuckstück und somit ein Kunstwerk und außerdem um eine Antiquität handelte, gestand MacBean ihm den Wert von anderthalb Millionen Pfund zu. Und zu diesem Preis wollte Craig das Collier versichern.

»Das Collier ist eine Legende«, erklärte Craig. »Zumindest eine Familienlegende. Einer meiner Vorfahren – Angus de Monncrefe, dessen Vater im siebzehnten Jahrhundert diese Burg bauen ließ – hat es für seine Frau, Lady Ira, als Hochzeitsgeschenk anfertigen lassen. Sie stammte aus einem Nebenzweig des Königshauses, und die Ehe war nur ein politisches Arrangement, mit dem eine Allianz zementiert werden sollte, die dem Haus Gloucester eine zusätzliche Zahl von Kämpfern sicherte. Vermutlich war das der Grund, warum die beiden – Ira und Angus – einander nie geliebt haben.«

Glen blickte von MacBeans Gutachten auf. »Lassen Sie mich raten: Ihr Vorfahre hat die Lady mit anderen Frauen betrogen.«

Craig nickte. »Mätressen waren zu der Zeit nicht ungewöhnlich. Und ein Laird wie Angus hat sich natürlich auch bei den weiblichen Untergebenen bedient. Den Skandal, der zu der Legende führte, hat aber Lady Ira verursacht. Sie nahm sich nicht nur ebenfalls einen Geliebten, der obendrein ein Pferdebursche und nicht standesgemäß war, sondern ist auch mit ihm bei Nacht und Nebel mitsamt ihrer Schmuckschatulle und diesem Collier verschwunden.« Craig deutete auf das Gutachten, in dem Glen soeben zu einem ganzseitigen Foto des Colliers geblättert hatte. »Zumindest glaubte man das. Angus jagte seine Leute hinter den beiden her, aber man fand sie nicht. Sie sind nie wieder aufgetaucht, und man glaubte schließlich, es sei ihnen gelungen, sich auf irgendwelchen Schleichwegen nach Irland oder Frankreich oder anderswo hin abzusetzen, weit weg von Schottland.«

Glen klappte den Schnellhefter zu, legte ihn zur Seite und setzte die Brille ab. »Was ein Irrtum war«, stellte er fest, denn der Fund des Colliers war vor drei Wochen durch alle Zeitungen gegangen. Da hing das Collier noch um den Hals der toten und offensichtlich ermordeten Lady Ira, deren sterbliche Überreste sowie die eines Mannes im Keller von Forthwater Manor bei Renovierungsarbeiten entdeckt worden waren.

Craig nickte. »Wie sich jetzt herausgestellt hat, hat Angus seine Frau und offenbar auch ihren Liebhaber umgebracht und im Schlosskeller einmauern lassen. Denn ich bezweifle, dass er das eigenhändig getan hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht doch, denn er konnte sich keine Mitwisser leisten.«

Glen vermutete eher, dass der Laird den einen Mann oder die höchstens zwei Männer, die die Drecksarbeit für ihn erledigt hatten, nicht aus den Augen gelassen hatte, bis ihre Arbeit vollendet war, und sie hinterher ebenfalls umgebracht hatte. Zwei Leichen in der Nacht im Forth verschwinden zu lassen, wäre nicht schwer gewesen. Und wenn die beiden nicht zum Stammpersonal der Burg gehört hatten, konnte man sie nicht mit Angus de Monncrefe in Verbindung bringen, falls sie irgendwo flussabwärts gefunden worden waren. Idealerweise waren sie ins Meer gespült worden, sodass man ihre Leichen nie gefunden hatte.

Craig seufzte. »Für die Polizei war das erst mal ein Tatort, weil man ja nicht wusste, wie lange die Leichen dort gelegen haben. Hätte ja sein können, dass ich jemanden umgebracht und die Leichen dort unten eingemauert habe.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Aber wer ist denn heutzutage schon so blöd und mauert eine Leiche im eigenen Haus ein.«

»Überraschend viele Leute, Sir, weil sie wie Ihr Vorfahre davon ausgehen, dass man bei ihnen zu Hause zuletzt sucht, wenn sie das Gerücht in die Welt setzen, die Betreffenden wären verreist, durchgebrannt, abgehauen oder etwas in der Art.«

Craig blickte ihn beinahe schockiert an. Vermutlich konnte er nicht glauben, dass so viel Dummheit existierte.

»Ich würde jetzt gerne das Collier sehen und vor allem den Ort inspizieren, an dem Sie es aufbewahren. Wie ich verstanden habe, wollen Sie es nicht in einem Banksafe deponieren.«

»So ist es.« Craig stand auf und deutete zur Tür. »Wenn Sie den Safe gesehen haben, werden Sie mir zustimmen, dass es dort am sichersten ist.«

Er verließ das Büro, und Glen folgte ihm. Shade trabte neben ihm her.

»Ich habe mir schon überlegt, ob ich das Ganze nicht als Touristenattraktion ausschlachten soll und statt der einfachen Renovierung des Kellers, die ich ursprünglich geplant hatte, ein Plastikskelett in die Mauernische setze, ihm eine Nachbildung des Colliers umhänge und weitere Nachbildungen aus Strasssteinen als Souvenirs verkaufe.«

»Die finden bestimmt reißenden Absatz, wenn Sie die Legende richtig vermarkten«, stimmte Glen ihm zu.

Pro forma. Er hielt nichts davon, den Tod von Menschen zur Touristenattraktion zu machen. Auch nicht, wenn sie seit Jahrhunderten tot und auf spektakuläre Weise ermordet worden waren. In seinen Augen war das pietätlos. Aber man hatte ihn schon öfter als Dinosaurier bezeichnet, der an überkommenen Moralbegriffen festhielt. Vermutlich hatten diese Leute Recht und Glens Einstellung war nicht mehr zeitgemäß. Aber er konnte sich gerade deswegen immer noch jeden Tag im Spiegel in die Augen sehen, ohne vor Scham im Boden zu versinken, weil er seine Ideale verraten oder missachtet hatte, nur weil fremde Menschen der Meinung waren, sie seien nicht mehr »zeitgemäß«. Als ob Moral und Anstand ein Verfalldatum hätten.

»Ich mache ja schon Führungen durch das Haus«, fuhr Craig fort, »aber die bringen nicht viel Geld ein. Zu wenig, um jemanden als Guide dafür anzustellen. Und ich kann die auch nur am Wochenende anbieten, weil ich mich um meinen Job kümmern muss. Ich bin Ingenieur und arbeite im IT-Bereich. Mikroprozessoren, künstliche Intelligenz und so.«

»Das stelle ich mir sehr interessant vor.«

Craig nickte. »Das ist es. Besonders die Forschungsarbeit.« Er lächelte; es wirkte gequält. »Wird zwar sehr gut bezahlt, aber das Manor frisst fast alles auf.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber es ist das Familienerbe seit Jahrhunderten. So was verkauft man doch nicht einfach.«

Er blieb in einem Bücherzimmer stehen, in dem fast jeder Quadratmeter Wand mit Regalen und Schränken verstellt und behängt war. Alle waren dicht an dicht mit Büchern gefüllt, von denen etliche sichtbar antiquarisch waren und bestimmt auch ein kleines Vermögen darstellten. Neben dem gemauerten Kamin stand eine mindestens zwei Meter große Standuhr mit Pendeln in einem geschnitzten Holzkasten, deren Ticken den Raum erfüllte. Auf der anderen Seite des Kamins thronte eine lebensgroße, halb nackte Frauenstatue aus poliertem weißen Stein, die in der einen Hand eine Schreibtafel und in der anderen einen Griffel hielt und demnach wohl Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, darstellen sollte. Unter einem Fenster mit Blick auf den ausgedehnten Garten stand ein Schreibtisch. In der Mitte des Zimmers verteilten sich vier Ohrensessel um einen massiven Holztisch mit geschnitzten Beinen. Neben jedem Sessel standen eine Leselampe und ein Beistelltischchen.

Craig machte eine ausholende Handbewegung. »Finden Sie den Safe, Mr Kincaid.«

Glen blickte sich um. Die üblichen Verstecke für Safes hinter Bildern gab es hier nicht, weil nirgends ein Bild hing. Die Tische kamen ebenfalls nicht infrage, weil sie zu unsicher waren, selbst wenn sie gut versteckte Geheimfächer mit ausgeklügelten Öffnungsmechanismen hätten. Wenn man wusste oder vermutete, dass sich Wertsachen darin befanden, scheuten Diebe sich nicht, den ganzen Tisch zu zerschlagen, um das Fach zu öffnen. Die Statue der Kalliope konnte Glen ebenfalls ausschließen; es sei denn, der Safe wäre im Sockel versteckt oder im Boden darunter.

Er ging hinüber und ging leicht in die Knie. Nur leicht, weil er seit dem desaströsen Autounfall vor fünf Jahren ein Knie nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Seit fast einem Jahr nahm er mehrmals wöchentlich Kampfkunstunterricht. Die Trainerin, Rowan Lockhart, verstand auch etwas von Akupunktur und hatte ihm entsprechende Sitzungen angeboten, um die Beweglichkeit des Knies zu verbessern, nachdem sie bemerkt hatte, dass er manchmal etwas hinkte und den Grund erfahren hatte. Glen war anfangs skeptisch gewesen, aber die Sache hatte Erfolg.

 

Der Sockel der Statue und auch die Figur selbst zeigten nirgends eine »Naht«, die darauf hingewiesen hätte, dass irgendwo ein Fach eingearbeitet war oder Sockel und Figur aus zwei Teilen bestanden. Offenbar war die gesamte Figur aus einem einzigen Stück Stein geschnitten und gemeißelt worden. Sie ließ sich auch nicht bewegen, und auf dem Steinboden sah Glen nirgends Kratzspuren, die darauf hindeuteten, dass die Statue irgendwann mal verrückt worden war. Vermutlich stand sie an dieser Stelle, seit sie im Schloss aufgestellt worden war.

Die Standuhr mit gut einem halben Meter Breite käme da schon eher infrage. Sie stand mit dem Rücken an der Wand, so dicht, dass allenfalls ein Blatt Papier dazwischen gepasst hätte. Jedoch war die Nische, in der sie zwischen dem Kamin und einem Bücherregal stand, zu schmal, als dass man sie hätte zur Seite schieben können, um einen Safe dahinter freizulegen. Aber nach vorne?

Glen blickte auf den Boden vor der Uhr. Im ersten Moment sah er nichts. Als er aber einen Schritt zur Seite trat, sodass das Sonnenlicht durch eines der Fenster auf den Boden fiel, erkannte er kaum wahrnehmbare Schleifspuren. Er zog an der Uhr, und sie glitt relativ leicht, aber nicht zu leicht, nach vorn. In der Wand dahinter befand sich die Tür eines eingemauerten Safes.

»Verdammt!«, entfuhr es Craig. »Ich dachte, der wäre dort absolut sicher.«

»Sehen wir davon ab, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, Sir: Ich bin Profi. Ich sehe von Berufs wegen Dinge, die anderen nicht auffallen.« Glen deutete auf die Bücherregale und die Schränke. »Jeder Einbrecher vermutet einen Safe erst einmal hinter einem Gemälde oder Wandbehang, weil die Dinger dort am häufigsten versteckt sind, und wird sich deshalb alle Zimmer ansehen, in denen Bilder hängen. Als Erstes aber Ihr Büro und andere Räume, die wie Arbeitszimmer aussehen. Dieser Bibliothek wird man zunächst keine Beachtung schenken. Wie viele Zimmer hat das Manor?«

»Siebenundzwanzig. Plus fünf Badezimmer und drei Gästetoiletten. Und natürlich die Kellerräume und die ehemaligen Stallungen, die heute Lagerräume und Garagen sind.«

Glen nickte. »Wenn Diebe endlich auf die Idee kommen, dass ein Safe in diesem Raum sein könnte, werden sie ihn erst einmal hinter den Bücherregalen oder in einem Geheimfach in irgendeinem der Schränke vermuten, weil das nach den Bildern und Wandbehängen die nächsten üblichen Verdächtigen für Safeverstecke sind. Die Uhr macht einen sehr massiven und schweren Eindruck. Dass sie auf Rollen steht, die so in ihren Boden eingearbeitet sind, dass man sie unter der Zierblende nicht sehen kann, darauf kommt man so schnell nicht. Außerdem ist der Zeitfaktor ein guter Schutz. Diebe haben es eilig. Wenn sie nicht innerhalb von Minuten lohnende Beute gefunden haben, geben sie auf. Und«, Glen deutete in die Runde, »bei den teilweise antiquarischen Werken hier wird man sich eher an den Büchern bedienen, statt Zeit mit der Suche nach einem gut versteckten Safe zu vergeuden. Immer vorausgesetzt, die Diebe kämen an den Alarmanlagen vorbei, die Sie überall installiert haben.« Er blickte Craig an. »Weiß jemand von der Existenz dieses Safes?«

Craig schüttelte den Kopf. »Außer der Firma, die ihn vor zwanzig Jahren dort eingebaut hat – niemand. Das heißt«, er wiegte den Kopf, »meine Tochter Brenda weiß natürlich auch, dass er sich dort befindet. Aber erstens habe ich zu ihr schon seit Jahren keinen Kontakt mehr.« Er seufzte. »Sie gibt mir die Schuld am Tod ihrer Mutter, aber das war ein Unfall.«

Glen verspürte einen leichten Stich im Herzen und eine Welle von Mitgefühl für Ian Craig. Er konnte gut nachempfinden, wie der Mann sich fühlte. Seit dem Autounfall, der seine Frau Davina das Leben gekostet hatte, gab seine Schwägerin Blair ihm die Schuld daran und verfolgte ihn nimmermüde mit ihrem Hass.

»Zweitens«, fuhr Craig fort, »kennt sie den Öffnungscode nicht, denn ich benutze keine Allerweltskombination oder irgendeine leicht zu erratende oder zu recherchierende Ziffernfolge wie meinen Geburtstag oder den meiner Frau oder Tochter oder die in Zahlen umgewandelten Buchstaben meines Namens – oder was die Leute sonst so an leichtsinnigen Kombinationen wählen.« Er nickte Glen zu. »Wenn Sie sich bitte umdrehen würden, denn ich habe nicht vor, Sie die Zahlen sehen zu lassen, die ich eintippe.«

Glen gehorchte. Anhand der leisen Töne, die die gedrückten Tasten von sich gaben, konnte er erkennen, dass die Kombination aus elf Ziffern bestand und entweder zweimal dieselbe Taste doppelt gedrückt wurde oder zwei unmittelbar nebeneinanderliegende Tasten, weil der Abstand zwischen den anderen Tönen länger war.

»Aber um ehrlich zu sein«, ergänzte Craig, »ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass jemand, der mich sehr gut kennt, trotzdem auf diese Kombination kommt, wenn er oder sie Zeit genug hat, alle infrage kommenden Möglichkeiten auszuprobieren.« Er seufzte. »Wie Sie schon sagten: Absolute Sicherheit gibt es nicht. – Hier ist es.« Craig reichte ihm eine hölzerne Schatulle.

Glen öffnete sie. Lady Iras Collier strahlte ihm in seinem ganzen Glanz entgegen, gebettet auf einen samtartigen roten Stoff. Ein wunderschönes Schmuckstück, das jeden Penny wert war, den der Gutachter dafür veranschlagt hatte.

»Ich würde es mir gern in Ihrem Büro genauer ansehen, Sir«, bat Glen.

»Bitte.« Craig führte ihn zurück.

Glen nahm aus seiner Aktentasche die Lupenbrille, setzte sie auf und bewunderte das Collier in der Vergrößerung, durch die deutlich zu erkennen war, dass jedes Einzelteil Handarbeit war, denn alle hatten individuelle Merkmale, die das geübte Auge erkennen konnte.

»Sind Sie Juwelier oder so was?«, wollte Craig hörbar verblüfft wissen.

»Nein. Ich muss nur überprüfen, ob die individuellen Details des Schmuckstücks mit denen auf den Detailfotos, die der Gutachter gemacht hat, identisch sind.«

»Genügt Ihnen das Gutachten nicht?« Das klang deutlich empört.

»Nur bedingt.« Glen blickte Craig an. »Meine Versicherung vertraut bei einer so hohen Versicherungssumme nicht blind einem Gutachten. Auch Gutachter sind nur Menschen und nicht gegen Versuchungen gefeit. Und haben vielleicht Angestellte, die die Gunst der Stunde nutzen, um sich unrechtmäßig zu bereichern.«

Craig räusperte sich. »Sie haben ja mit einem ganz schönen Sumpf zu tun.«

Glen nickte und widmete sich wieder der Prüfung. »Sie ahnen nicht, auf was für Ideen Menschen kommen, um sich illegal zu bereichern.«

Craig setzte sich und ließ Glen nicht aus den Augen. Der verkniff sich ein genervtes Seufzen. Er mochte Gesellschaft nicht und zog das Alleinsein vor. Genau deshalb hatte sein Schwager Carson Stewart, der sein bester Freund und gleichzeitig Boss war, ihm diesen Job gegeben, der Glen zu Kontakten mit Menschen zwang. Andernfalls hätte er sich in seinem Haus eingeigelt, in Selbstmitleid gebadet und sich irgendeine Tätigkeit gesucht, bei der er zu Hause arbeiten konnte.

Anfangs hatten die Narben nicht nur hässlich, sondern richtig übel ausgesehen: Dicke, rötliche Gräben, deren Ränder sich aufwölbten und seine Züge ins Groteske verzerrten; immerhin war die Haut bis auf den Knochen aufgerissen gewesen. Ein Wunder, dass die plastische Chirurgin die Muskeln und vor allem die Nerven fast vollständig hatte zusammenflicken können. Inzwischen waren die Narben zu bleichen, aber noch breiten und unübersehbar tiefen Rillen verblasst, was zwar nicht mehr übel, aber immer noch hässlich aussah. Und wenn er lächelte, wurde der Anblick wieder grotesk. Deshalb hatte er sich angewöhnt, nach Möglichkeit gar nicht zu lächeln. Wenn er das doch einmal tat, dann nur mit der linken Gesichtshälfte.

Es gab nur sehr wenige Menschen, in deren Gegenwart er sich sicher genug fühlte, um richtig zu lächeln. Carson war einer von ihnen. Rowan Lockhart und ihr Co-Trainer und Ehemann Rory Lennox waren die beiden einzigen anderen. Und wann hatte er zum letzten Mal richtig gelacht? Er konnte sich nicht erinnern. Das war in jedem Fall vor Davinas Tod gewesen. Ebenso lange war es her, dass er sich glücklich gefühlt hatte. Wenn Shade nicht wäre …