Feuerglimmen

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 – Marlena

Kapitel 2 – Marlena

Kapitel 3 – Valentin

Kapitel 4 – Marlena

Kapitel 5 – Valentin

Kapitel 6 – Marlena

Kapitel 7 – Valentin

Kapitel 8 – Marlena

Kapitel 9 – Marlena

Kapitel 10 – Marlena

Kapitel 11 – Valentin

Kapitel 12 – Marlena

Kapitel 13 – Marlena

Kapitel 14 – Valentin

Kapitel 15 – Marlena

Kapitel 16 – Marlena

Kapitel 17 – Valentin

Kapitel 18 – Marlena

Kapitel 19 – Marlena

Kapitel 20 – Valentin

Kapitel 21– Marlena

Kapitel 22 – Marlena – Ein Traum

Kapitel 23 – Marlena

Kapitel 24 – Valentin

Kapitel 25 – Marlena

Kapitel 26 – Silva

Kapitel 27 – Marlena

Kapitel 28 – Marlena

Kapitel 29 – Valentin

Kapitel 30 – Marlena

Kapitel 31 – Marlena

Kapitel 32 – Valentin

Kapitel 33 – Marlena

Kapitel 34 – Marlena

Kapitel 35 – Marlena

Kapitel 36 – Marlena

Kapitel 37 – Marlena

Kapitel 38 – Silva

Kapitel 39 – Silva

Kapitel 40 – Marlena

Kapitel 41 – Marlena

Kapitel 42 – Marlena

Kapitel 43 – Marlena

Kapitel 44 – Silva

Kapitel 45 – Marlena

Kapitel 46 – Valentin

Kapitel 47 – Valentin und Gent

Kapitel 48 – Marlena

Kapitel 49 – Valentin

Kapitel 50 – Marlena

Kapitel 51 – Valentin

Kapitel 52 – Marlena

Kapitel 53 – Marlena

Kapitel 54 – Valentin

Kapitel 55 – Marlena

Epilog

Nachwort/Danksagung

Vollständige e-Book Ausgabe

© 2021 ISEGRIM Verlag

in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt

Covergestaltung: © Ria Raven www.riaraven.de

Bildmaterial: © shutterstock.com

Innenillustrationen: Elena Flor

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN: 978-3-95452-836-3

www.isegrim-buecher.de

Magdalena Pauzenberger wurde 1998 im schönen Oberösterreich geboren und wohnt auch heute noch dort. Studiert hat sie allerdings in Salzburg, wo auch ihr Debütroman spielt. Bücher und fantastische Geschichten sind aus ihrem Alltag als Bücherbloggerin, Biologin und dauerverspätete Tagträumerin nicht mehr wegzudenken, obwohl sie erst im Teenager-Alter begonnen hat, so viel zu lesen. Fantasie hat sie hingegen schon immer besessen. Im Alter von 18 Jahren hat sie dann begonnen, die Geschichten aus ihrem Kopf niederzuschreiben – vor allem als Ausgleich zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung.

Für meine Mama,

weil sie immer an mich glaubt und mein größter Fan ist.

Ich hab dich lieb, Mama.

Vorwort

Triggerwarnung!

Diese Geschichte und die darin vorkommenden Charaktere sind fiktiv.

Trotzdem spielen unter anderem schwerwiegende Themen eine Rolle, die leider auch im echten Leben ernst zu nehmen sind und für manche Personen möglicherweise belastend sein oder sogar negative Reaktionen hervorrufen können. Hierbei sind vor allem Gewaltszenen, psychischer und physischer Art, sowie Beschreibungen von Wunden zu nennen.

Darauf möchte ich dich hinweisen.

Solltest du sensibel auf solche Themen reagieren, sei bitte achtsam und überlege dir, ob du diese Geschichte lesen willst oder lieber nicht. Bitte triff diese Entscheidung für niemand anders als für dich selbst.


Kapitel 1 – Marlena

Kalter Wind lechzt über meine unbedeckte Wange und reißt mich zitternd aus dem Schlaf. Es dauert einen Moment, bis ich die dunkelgrüne Plane über mir zuordnen kann. Ich bin im Zelt. Mitten am Arsch der Welt. Schnell verstecke ich mein Gesicht in meiner Armbeuge, verkrieche mich vor der kalten Außenwelt, doch ich kann es nicht gänzlich unterdrücken und so bahnt sich eine Träne den Weg über meine kühle, blasse Haut und hinterlässt eine feine Spur. Wenn ich daran denke, wie schnell sich alles in meinem Leben geändert hat, wie ich von einem Moment auf den anderen alles verloren habe, wie ich alle, die ich liebe, unwissend zurücklassen musste, werde ich von einem Schwindelanfall überrollt. Glücklicherweise liege ich ja bereits. Auf meiner ehemaligen Fitnessmatte, die zu meinem Schlafplatz umfunktioniert wurde. Immerhin kommt sie so doch noch mal zum Einsatz.

»Du bist wach.« Keine Frage. Eher eine überraschte Feststellung. Seit wir Salzburg verlassen haben, ist Valentins besorgter und reumütiger Blick mein ständiger Begleiter. Er hat einen Mann getötet. Vor meinen Augen. Egal was ich geglaubt habe, für ihn zu empfinden: es wird nie mehr das Gleiche sein. Ich habe ihm vertraut. Er hat mich belogen. Und er hat getötet. Er ist ein Mörder verdammt noch mal!

Und damit er das nie vergisst, habe ich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Stimme in der Mozartstadt zurückgelassen.

»Hast du Hunger?«, fragt er, als ich ihm auch heute nicht antworte. Drei Tage lang strafe ich ihn nun schon mit Schweigen und Ignoranz. Nur leider funktioniert das mit der Ignoranz nicht so wie geplant. Denn wenn wir hier draußen, oder nein, wenn wir ÜBERHAUPT überleben wollen, müssen wir wohl oder übel zusammenarbeiten. Ein nicht zu überhörendes Knurren meines Magens antwortet ihm an meiner Stelle. »Wusste ich es doch.« Er grinst aufmunternd, als wäre ich ein kleines Baby, das man erst dazu überreden muss, den Mund aufzumachen, damit man es füttern kann. Der Schatten in seinen einst so hellen blauen Augen bleibt trotz seiner gespielten Freude. Das alles beobachte ich nur aus dem Augenwinkel. Ich schaffe es einfach nicht mehr, ihm ins Gesicht zu sehen, obwohl er es sein sollte, der meinem Blick ausweicht. Doch die Angst, dass ich in seinen Augen Zuneigung und sogar Liebe erkennen könnte, ist zu groß. Du kannst ihm nicht vertrauen! Und doch muss ich es. Er zieht einen abgenutzten Stoffbeutel von seiner Schulter und sucht darin nach einem Frühstück für mich. Er hat die Aufgabe übernommen, mich daran zu erinnern, nicht an Nährstoffmangel zu krepieren, während ich mich immer mehr einkapsle. Während ich versuche in meinem Kopf einen Weg zu finden, nach Hause zu kommen und gleichzeitig meine Familie zu schützen. Einen Weg, wie ich Weihnachten mit ihnen verbringen kann, anstatt die Festtage mit Valentin in dieser gefrorenen Hölle zu verbringen, die sich nach außen hin als Winterwunderland präsentiert. Es war meine Idee, in den Wald zu flüchten, so fern von der Stadt und doch nicht fremd. Zumindest für mich. Aber inzwischen würde ich überall lieber sein als hier in diesem Wald, der mich an eine unbeschwerte Kindheit erinnert. An den Tag, an dem ich auf Erkundungstour unter warmen Sonnenstrahlen gegangen bin, während meine Eltern einen platten Reifen gewechselt haben. Wir waren auf dem Weg zu einer abgelegenen Jausenstation mitten auf einem Berg. Die Straße dorthin ist schmal und ich hatte ständig Angst, von der Straße abzukommen und in den Tod zu stürzen. Doch der Ausblick als wir oben angekommen waren, hat mich all die Höhenangst sofort vergessen lassen. Es war atemberaubend. Genauso wie die alte halb-verwitterte Holzhütte, die ich bei meinem kleinen Spaziergang durch das Geäst entdeckte. Doch dort stockte mir der Atem, weil meine Fantasie mich, das kleine Mädchen, das ich damals war, überwältigte und ich mir sicher war, das Haus einer Hexe gefunden zu haben. Aufgewachsen mit den Grimm‘schen Märchen war ich vollkommen davon überzeugt, dass mich die Hexe entdecken und fressen würde. Ich glaube, ich bin noch nie so begeistert und so panisch zugleich gewesen. Ich hatte mich schon viel zu weit von der Straße entfernt, das wurde mir in diesem Schreckensmoment bewusst. Meine Eltern haben mir zwar noch nachgerufen, ich solle mich nicht zu weit von ihnen entfernen, doch die Neugier hat mich weiter ins Dickicht getrieben. Unter Tränen habe ich also versucht, den Ausweg aus diesem Gruselmärchen zu finden. Minutenlang bin ich zwischen den Baumstämmen umhergeirrt, ohne Ahnung, in welche Richtung ich laufen sollte. Die Angst trieb immer mehr Tränen in meine Augen. Ich war verzweifelt. Bis ich schließlich nach langem Suchen völlig aufgelöst aus dem Wald geprescht kam und beinahe meine Mutter umgerissen hätte. Diese Hütte hat mich das Fürchten gelehrt und doch fand ich sie so faszinierend, dass ich mir geschworen habe, zurückzukehren, wenn ich größer wäre. Kaum war meine Angst gebannt, war nur noch Platz für ungehemmte Faszination und Neugier. Ich habe mein Versprechen an mich selbst gehalten. Jetzt bin ich hier, auch wenn die Hütte nur noch ein Gerippe ist und eine ganz andere Furcht von mir Besitz ergriffen hat.

 

Ich wünsche mir meine kindlichen Sorgen zurück. Und vor allem die warmen, liebevollen Arme meiner Mutter. Wenn ich daran denke, was der Überfall auf mich mit ihr gemacht hat … wie fertig sie war … Die Tränen laufen mir in Strömen übers Gesicht, benetzen meinen Hals und meine dicke Winterjacke, die mich einigermaßen warmhält. Ein Schluchzer dringt aus meiner Kehle, der sich anhört, wie der Klagelaut eines verletzten Tieres. Valentin will schockiert einen Schritt auf mich zu machen … als würde er mich reflexartig in seine Arme schließen wollen, um mich zu trösten, wie er es zuvor schon so oft getan hat. Doch bei dem Gedanken an seine Berührung läuft mir ein ängstlicher Schauer über den Rücken.

»Geh weg!« Nach tagelanger Stille ist meine Stimme scheinbar eingerostet, denn mehr als ein kratziges Flüstern bringe ich nicht zustande. Vielleicht liegt es aber auch an den Tränen.

»Marlena«, er spricht meinen Namen mit solch einer Wehmut aus, dass es mich schmerzen würde, wäre mein Herz nicht bereits gebrochen.

»Hau ab!«, schreie ich ihn an. Okay, meine Stimme läuft wieder. Er sieht aus, als hätte ich ihn geschlagen, obwohl ich weiß, dass ihn das weniger geschmerzt hätte. Nach kurzem Zögern tritt er aus dem Zelt und lässt mich mit meinen finsteren Gedanken allein.

Meine Mutter würde zerbrechen, wenn sie wüsste, was ich hier durchmache. Was wir hier durchmachen … Das wird mir nun in vollem Umfang klar und ein riesiges Loch tut sich in meinem Inneren auf. Es verschlingt mich. Ich fühle mich als würde ich jeden Moment zusammenbrechen, die stille Dunkelheit einer Ohnmacht käme mir mehr als gelegen.

Mein Vater. Er würde all seine Kraft daransetzen, meine Mutter zu stützen, für sie da zu sein, stark zu sein, doch er würde es nicht schaffen. Das weiß ich. Und ich liebe ihn dafür. Denn das bedeutet, dass auch er mich nie vergessen könnte. Doch das alles wird nie passieren. Sie werden nie von all dem hier erfahren. Maxi wird mich decken. Maxi wird das alles handeln. Meine beste Freundin wird sie beruhigen können. Zwar habe ich starke Zweifel daran, dass das länger als ein oder zwei Wochen gut gehen wird. Doch daran darf ich jetzt nicht denken. Maxi schafft das schon. Was ich mit alldem meine? Sagen wir einfach mal so: Valentin ist nicht der Einzige, der Geheimnisse hüten und Menschen hintergehen kann.

Es war an dem verhängnisvollen Abend, an dem mein Leben über den Haufen geworfen wurde. Valentin hat mich am Oberarm gepackt und mich erst wieder losgelassen, als wir zu Fuß bis zu meiner Wohnung gelaufen waren. Er hat die Leiche des Mannes einfach liegen gelassen. Auf dem kalten Asphalt in der Dunkelheit der Nacht. Der eiskalte Wind hat sich das letzte bisschen Leben des Mannes gekrallt und es weggeweht. Es würde nie mehr zurückkommen. Wir haben ihn liegen gelassen. Kaum hatte ich einen Schritt über die Schwelle meiner Wohnung gemacht, hatte ich das Gefühl, zusammenbrechen zu müssen und nie wieder aufstehen zu können. Doch das habe ich mir verboten. Und so habe ich den Kopf aufrecht gehalten, zwei Rucksäcke gesucht und alles Essbare hineingeworfen, das ich finden konnte. Außerdem so viel Unterwäsche, Wechselkleidung und Toiletten-Artikel wie darin noch Platz fanden. Valentin kann von Glück sagen, dass ich gerne in Boxershorts schlafe und haufenweise Männer-Sportkleidung besitze. Sonst müsste er jetzt nackt durch den Schnee stapfen. Denn er konnte ja schlecht in die Höhle des Löwen zurückgehen, um sein Hab und Gut zusammenzusuchen. Außerdem halte ich mich selbst immer noch für einen Überlebensgenie, weil ich daran gedacht habe, einen kleinen Kochtopf, ein Feuerzeug, das ich mal von der Studienvertretung geschenkt bekommen habe, und mein altes Taschenmesser mitzunehmen. Ohne würden wir jetzt in der Kälte sitzen und die Instant-Nudeln und Suppenbasis, die ich haufenweise gehortet habe, mit Schnee vermischen und irgendwie kalt runter würgen. So vermischen wir sie zwar immer noch mit Schnee aber immerhin kochen wir das Gemisch dann noch auf und so hat sich die Angst vor Fuchsbandwürmern inzwischen minimiert. Ich laufe zwar schon seit Tagen in einem depressiven, Trance-ähnlichen Schockzustand durch die Gegend, das heißt, die meiste Zeit sitze oder liege ich und heule – das tut jetzt aber nichts zur Sache – aber ein paar kleine Gedanken habe ich doch darauf verwendet, Parasitenbefall zu vermeiden. Mein Leben ist auch so schon scheiße genug. Da brauche ich nicht auch noch Würmer. Das Zelt haben wir in der Ruine der alten Hütte gefunden. Pures Glück. Das habe ich hin und wieder anscheinend auch.

Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich habe Maxi eine Nachricht hinterlassen. »Muss weg. Kann das nicht erklären. Sucht mich nicht. Keine Polizei. Ich muss euch schützen. Erzähl meinen Eltern nichts. Bitte, deck‘ mich. <3 Marlena«

An meiner Grammatik muss ich vielleicht noch etwas feilen, aber Maxi wird das schon verstehen. Und ich weiß, dass sie mir blind vertrauen und den Ernst der Lage gleichzeitig nicht einfach so unterschätzen wird. Eigentlich habe ich eine so tolle Freundin gar nicht verdient.

Ich weiß nicht, wie, aber die Gedanken an Maxi haben meine Tränen getrocknet. Und sie haben mir vor Augen geführt, dass ich das hier packen will. Ich will meine beste Freundin wiedersehen. Und ich will meine Familie wiedersehen. Und ich will, dass wir alle zumindest körperlich unversehrt sind. Ich will Weihnachten verdammt noch mal mit ihnen zu Hause verbringen. Deshalb gibt es für mich nur eines: Kämpfen. Denn ohne Kampf kein Sieg. Und wenn es sein muss, kämpfe ich auch mit schmutzigen Mitteln.

Mit erhobenem Haupt stehe ich auf, strecke mich durch. Langsam schiebe ich eine Hälfte der Zeltplane beiseite. Ich will diesen Moment nicht vergessen. Den Moment, in dem ich mich dazu entschieden habe, niemals aufzugeben und bis zum Schluss zu kämpfen. Ich lasse mich nicht brechen. Von niemandem. Und deshalb blinzle ich auch nicht, als mir die Sonne, die vom Schnee reflektiert wird, direkt in die Augen blendet. Mein gesamter Körper spannt sich an, geht in Angriffshaltung, als ich den ersten Schritt aus diesem verdammten Zelt wage und die weißen Kristalle unter meinem Stiefel knirschen. Lasset den Kampf beginnen.


Kapitel 2 – Marlena

Ich kann es Valentin nicht verübeln, dass er überrumpelt wirkt, als er mich außerhalb des Zeltes antrifft. Das passiert sonst nur, wenn ich bestimmte Dinge verrichten muss, die ich niemandem in freier Wildbahn bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt empfehlen kann. Aber lieber Frostbeulen am Hintern als einen Blasenriss.

Auch kann ich nicht leugnen, dass sich die warmen Sonnenstrahlen unglaublich gut auf meiner Haut anfühlen, und dass sie meine Entscheidung, niemals aufzugeben, nur noch weiter verstärken. Ich tue hier das Richtige. Ich beschütze meine Familie. Ich kämpfe um mein Leben. Und ich werde herausfinden, welcher Teil von Valentin sein Wahres Ich ist. Gleich nachdem ich möglichst viel über diese Sekte, oder was auch immer es ist, dem Valentin angehört, herausgefunden habe. Jede noch so kleine Information kann hilfreich sein. Und jede noch so kleine Hilfe und Hoffnung kann ich bestens in meinem Überlebenskampf gebrauchen.

»Haben Sie sich verirrt?«, er stellt diese Frage mit einem interessierten Ernst in der Stimme, sodass ich kurz stutze. Mir wird bewusst, dass er zum ersten Mal seit Langem davon ausgeht, dass ich ihm auch wirklich antworten werde. In meinem Inneren entzündet sich ein Funke. Klein und schwach, aber doch bemerkbar. Ohne es kontrollieren zu können, schleicht sich ein leichtes, amüsiertes Lächeln auf meine Lippen, während sich eine verräterische Nässe in meinen Augenwinkeln breit macht. Nein! Aus! Genug geheult! Auch wenn das hier Tränen der Rührung wären, verdrücke ich sie mir. Der Mann, der nun direkt vor mir steht und dessen Blick auf meinem Gesicht ruht, ist Valentin. Mein Valentin. Jener Mann, der mich so oft beschützt hat. Der mir schon zur Genüge die Nerven geraubt und mir gleichzeitig unbewusst dabei geholfen hat, nicht von den Schattenmonstern der Vergangenheit bezwungen zu werden. Vor mir steht einfach nur Valentin, in dessen Augen das Eis Risse bekommt. Einzelne Splitter verschwinden und geben einen Blick auf etwas frei, das ich nur mit dem warmen Wasser einer karibischen Lagune vergleichen könnte, und doch ist es so anders, so besonders. Für einen kurzen Moment, vielleicht einen Wimpernschlag, fühle ich nur seine Nähe und kann diese ganze verzwickte und gefährliche Situation, in der wir uns befinden, ausblenden. Viel zu schnell ist dieser Moment der Geborgenheit aber wieder verflogen. Zurück bleibt ein neuer Gedanke: Ich werde nie in meinem Leben vergessen können, was er getan hat. Doch vielleicht – vielleicht – kann ich ihm irgendwann verzeihen, dass er mich hintergangen und vielen Menschen unendliches Leid angetan hat. Und vielleicht wird das genau in dem Moment geschehen, wenn auch er sich selbst vergibt. Vielleicht wird dieser Moment aber auch nie kommen. Fest steht auf jeden Fall, dass wir aus dieser Eishölle niemals lebend rauskommen, wenn ich weiterhin zwischen dem Verschrecktes-Reh- und dem Aggro-Bitch-Modus schwanke.

»Waffenstillstand?« Habe ich gerade noch auf meine Hände gestarrt, die nur wenige Zentimeter von den seinen entfernt sind, so hebe ich nun den Blick und verankere ihn in seinem. Erstaunen und Hoffnung spiegeln sich in seiner Miene wider.

 

»Waffenbrüder!«, lautet seine etwas zu euphorisch ausgestoßene Antwort auf meine zögerliche Frage.

»Schon mal was von Gleichberechtigung gehört?«, frage ich ihn, weil mir dieser Begriff sauer aufstößt. Was jedoch weniger daran liegt, dass ich mich am Geschlecht störe, sondern eher daran, dass ich niemals von ihm hören möchte, dass er mich wie einen Bruder mag. Mörder oder nicht – Liebe gänzlich abzustellen, ist nicht einfach. Falls man bei mir von Liebe zu ihm sprechen kann. Aber ehrlich gesagt … ich glaube schon.

Ich stoße ruckartig Luft aus, so als hätte sie mir jemand aus den Lungen geboxt.

Valentin mustert mich besorgt, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er während meines gedanklichen Monologs auf meine rhetorische Frage geantwortet hat.

»Äh … ja«, räuspere ich mich. »Entschuldige, aber was hast du gerade gesagt?«

Mit einem amüsierten Grinsen schüttelt er kurz den Kopf.

»Ich sagte, wenn es dir lieber ist, können wir uns auch ›Waffengeschwister‹ nennen? Auch wenn sich das echt beschissen anhört.«

»Lass mal, hört sich echt beschissen an«, gebe ich zu und bin dieses Wortspiel plötzlich leid, denn mein Körper reagiert gerade viel zu stark auf den seinen, als er sich mir noch weiter nähert und mein Gesicht etwas zu akribisch mustert. Er hebt eine Hand … und ich ducke mich darunter hinweg.

»Nicht!«, ich weiche zurück. Adrenalin pulsiert in meinen Adern. Scheiß Fluchtinstinkt. »Bitte. Ich kann das nicht … Zumindest noch nicht.« Letzteres füge ich hinzu, als wieder dieser Schmerz sein hübsches Gesicht zeichnet. Diese Aussage ist zwar irgendwie dumm, weil wir uns schon öfter nähergekommen sind, doch scheint er zu verstehen. Und ein klein wenig Hoffnung scheint auch in ihm aufzukeimen, was wiederum auf unsinnige Weise ein Kribbeln in meinem Bauch auslöst.

»Marlena«, haucht er voller Sehnsucht. Doch dann blinzelt er mehrmals, als hätte er eine Wimper ins Auge bekommen und sieht plötzlich aus, als würde er nach einem Trancezustand endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. »Könntest du vielleicht etwas trockenes Holz suchen? Damit wir ein kleines Feuer machen können? Wir gehen dadurch zwar ein höheres Risiko ein, aber langsam geht uns das Essen aus und das Knäckebrot kann ich sowieso nicht mehr sehen.«

»Und deshalb ernähren wir uns jetzt von …? Feuer alleine wird uns wohl kaum weiterhelfen«, frage ich, bevor ich mich auf die Suche nach Feuerholz und Zunder mache.

»Ich werde versuchen, uns Wild zu jagen, du Klugscheißer.«

Bei dem Gedanken daran, ein Reh zu essen, möchte ich heulen. Ich habe früher viel zu oft Bambi geguckt. Außerdem könnten wir zu zweit niemals das ganze Fleisch verbrauchen, bevor Ratten und Füchse darauf aufmerksam würden.

»Ich hoffe mal, du denkst da gerade an Hasen oder so? Die tun mir zwar auch leid, aber die vermehren sich eh zu schnell. Und lass ja die Eichhörnchen in Ruhe! Das sind meine Lieblingstiere!«

Dafür kassiere ich ein belustigtes Schmunzeln.

»Hasen, keine Eichhörnchen, ist notiert.«

»Womit willst du die überhaupt erlegen?«

Als er seine Violine hinter seinem Rücken hervorzieht, mache ich panisch ein paar Schritte von ihm weg. Ähnlich reagiere ich übrigens auch auf Schusswaffen. Und Schafskäse. Damit kann man mich auch verängstigen. Aber das nur nebenbei. Er scheint, ganz in Überlegungen versunken, meine, zugegeben etwas übertriebene, Reaktion nicht bemerkt zu haben. Das Streichinstrument wird sich schon nicht plötzlich selbstständig machen und dich abmurksen, Marlena. Und Valentin hätte dich schon vor Tagen um die Ecke gebracht, wenn er das wollen würde. Wie wahr und erschreckend zugleich das doch ist.

»Bei Tieren ist das zwar etwas anders als bei Menschen, aber das dürfte ich auch hinkriegen,« versucht er zu erklären, was er vorhat.

»Wenn du noch einmal darauf anspielst, dass du es einfacher findest, einen Menschen als ein Tier zu töten, dann …« Dann was? Kollabiere ich? Kotze ich ihm vor die Füße? Mache ich mir vor Angst in die Hose? Eventuell eine Mischung aus allem.

»Es tut mir leid, so war das nicht gemeint, aber … es funktioniert schlichtweg anders.«

Verwirrt glotze ich ihn an. Ich verstehe nur Bahnhof. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass die wunderschöne, aus Ebenholz gefertigte Violine in seinen Händen nicht nur ein Musik-, sondern auch ein Mordinstrument ist. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich darüber gelacht, als wäre es ein schlechter Witz. Auch so spiele ich immer wieder mit dem Gedanken, dass ich schlichtweg verrückt bin. Doch ich bin grundsätzlich bei relativ klarem Verstand und Valentin kann Lebewesen mit einer Geige quälen und töten. Ja, ja, die Welt ist creepy. Hin und wieder macht sie mir eine Heidenangst.

»Wie wäre es, wenn wir das mit dem Essen und Holz besorgen auf später verschieben und wir stattdessen ein wenig Aufklärungsunterricht machen? Setz dich.« Er deutet mit der Hand auf einen umgefallenen Baumstamm vor ihm, den man gut als Bank nutzen kann. Ich lasse mich etwas perplex darauf nieder.

»Alsooo …so unerfahren bin ich nun auch wieder nicht«, stelle ich fest, was zur Folge hat, dass er in schallendes Gelächter ausbricht. Wie ich es hasse, ausgelacht zu werden, weil ich etwas falsch verstanden habe.

»Das ist zwar gut zu wissen, aber ich habe Aufklärung auf dem Gebiet des Übernatürlichen gemeint.«

»Könntest du vielleicht ein wenig konkreter werden?« Meine Stimme klingt gereizt. Langsam werde ich ungeduldig. Entweder er rückt endlich mit der Sprache raus oder ich geh selbst Hasen suchen.

»Herrgott, Marlena. Ich rede davon, dass mit mir etwas nicht stimmt, weil Menschen normalerweise nicht sterben, wenn jemand in ihrer Nähe Geige spielt oder ist dir das neu? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.«

Ich atme ein paar Mal ruhig durch, bevor ich etwas erwidere, weil ich ihn nicht anschreien will, auch wenn er das nach diesem Kommentar verdient hätte.

»Dann erzähl mir endlich, was mit dir los ist, du Sonderling.« Ich schenke ihm ein schelmisches Lächeln, um die Situation einerseits ein wenig zu entschärfen und andererseits zu zeigen, dass ich die Beleidigung nicht ernst gemeint habe. Das Ganze ist aber nun mal ein ernstes, wenn auch ungewöhnliches, ja nahezu irres Thema.

Kurz scheint er zu überlegen, wie er beginnen soll. Er hadert mit sich, doch dann beginnt er doch zu sprechen. Mit fachlicher Stimme trägt er seine Erklärung vor, als wäre er einer meiner Professoren, der gerade eine Vorlesung abhält.

»Also, fangen wir doch ganz von vorne an. Seit ich denken kann, lebe ich bei den praediti iuveni …«

»Bei den was?«, unterbreche ich ihn. »Warte …«, überlege ich, »iuveni … erster Fall Plural … heißt das nicht irgendwas mit jung?«

Das entlockt ihm ein Grinsen. »Da hat wohl jemand aufgepasst im Lateinunterricht. Es stimmt. Iuveni heißt so viel wie Jugendliche, denn im Singular steht es für einen jungen Mann oder ein junges Mädchen. Und praeditii bedeutet so viel wie begabt oder ausgestattet mit. Die praeditii iuveni sind der Zusammenschluss, der uns nun jagt. Er nimmt immer wieder Jugendliche oder eher Kinder auf, die sonderbar sind. Die Eigenschaften haben, die aus der Masse herausstechen. Die stärker oder schneller sind als andere. Das hört sich nun nach einer Art kindlicher Avengers an. Doch diese Vorstellung ist falsch. Wir leben vom Kindesalter an unter der Stadt. In den alten Geheimgängen, unbenutzten Kanälen und teils auch in den Katakomben vergessener Kirchen. Isoliert von der Außenwelt werden wir ausgebildet. Unser Allgemeinwissen wird zwar auch gefördert, doch das körperliche und mentale Training steht im Vordergrund. Tag ein Tag aus lernen wir unseren Körper zu stärken, unseren Geist zu kontrollieren und wir lernen allem voran, Befehle auszuführen und kein Mitgefühl zu zeigen. Das ist eines der Dinge, die die meisten am schnellsten begreifen: keine Fragen zu stellen, sondern einfach zu tun, was einem gesagt wird. Ich hatte da anfangs so meine Schwierigkeiten.« Verstohlen streift seine linke Hand über seine rechte Schulter, während sein Blick sich kurz in der Weite hinter mir verliert. Als er bemerkt, dass ich ihn anblicke, tut er so, als müsste er sich lediglich kratzen. Doch mir ist klar, dass er unter seiner Kleidung etwas vor mir versteckt. Etwas, das ihn in seiner Vergangenheit geprägt hat. Kurz räuspert er sich verlegen, doch dann setzt er seine Erzählung mehr oder weniger unbeirrt fort.

»Jedenfalls haben sie mir dort ein neues Zuhause gegeben. Ich kann mich an nichts erinnern, das vorher in meinem Leben passiert ist. Es war damals als würde ich unter Schock stehen. Ich nahm kaum etwas so richtig wahr. Erst, als sie mir halfen, mich lehrten meinen Geist und meinen Körper zu stärken, fand ich wieder ins Leben zurück. Später erfuhr ich, dass meine Eltern tot sind. Mein Vater ist bei einem Unfall gestorben. Meine Mutter konnte mit dem Verlust nicht leben. Kurz bevor sie sich das Leben nahm, drückte sie mir – ihrem damals fünfjährigen Sohn – ein wenig Geld in die Hand und erlaubte mir, zwei Kugeln Eis zu kaufen. Als ich zurück zur Bank an der Salzach kam, wo sie auf mich warten wollte, war ich alleine. Auf dem Wasser trieb ihre braune Lederjacke. Sie hatte sich ertränkt. Und mich für immer verlassen. Zumindest wurde mir mitgeteilt, dass ich das so einem vorbeikommenden Passanten erzählt habe, der daraufhin die Polizei verständigt hat. Ich selbst habe wie gesagt keine Erinnerungen mehr daran. An gar nichts aus meiner Kindheit. Selbst die Gesichter meiner Eltern gingen mir verloren.«

Nur mit Müh‘ und Not kann ich die aufsteigenden Tränen zurückhalten. Ich bin mir sicher, dass Valentin kein Freund von Mitleid ist. Und doch kann ich nicht anders, als »das ist einfach nur furchtbar« zu hauchen.

Leicht irritiert zuckt er mit den Schultern. »Ich bin ganz froh, dass ich die Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe. So fehlen sie mir nicht. Mein Vater und meine Mutter meine ich. Ich wurde eben von einer Gemeinschaft und nicht von meinen leiblichen Eltern großgezogen.«

»Von einer Gemeinschaft aus Mördern«, zische ich, aufgebracht darüber, dass er scheinbar nie die Liebe erfahren hat, mit der jedes Kind aufwachsen sollte. War er je in die Arme genommen worden? War er getröstet worden, wenn er sich verletzt hatte? War er gelobt worden, wenn er eine gute Leistung erbracht hatte? War ihm denn nie gesagt worden, dass er wertvoll ist, so wie er nun mal ist?

Mein Einwand scheint ihn zu kränken. »Sie sind die einzige Familie, die ich habe … oder wohl eher hatte«, kontert er.

Dann lass mich deine Familie sein. Mit einem Kopfschütteln verjage ich diesen durch und durch verrückten Gedanken, der sich an die Oberfläche meines Geistes drängt.

»Ich war von da an also eine Vollwaise«, fährt Valentin ruhig und sachlich fort, ohne auch nur den Funken einer Emotion zu zeigen. »Die ersten paar Wochen habe ich laut Akte in einem Heim verbracht. Diese Zeit existiert aber nicht mehr in meinen Erinnerungen. Es scheint dort nicht besonders schön gewesen zu sein. Offensichtlich war ich damals schon anders als die anderen Kindern. Angeblich wollte ich nie mit ihnen spielen. Nur das dortige Klavier brachte mich zum Lächeln. So wurde das zumindest in der Akte vermerkt. Irgendwann entschied sich ein Ehepaar, mich zu adoptieren. Denen hätte damals eigentlich klar sein müssen, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn sich ein Paar ausgerechnet für den zu groß gewachsenen Sonderling entschied, der kaum sprach. Doch ich glaube, die Heimleiter waren einfach nur froh, mich los zu sein. Kurz darauf stellte sich heraus, dass es sich bei dem Mann und der Frau nicht um ein kinderliebes Ehepaar handelte, sondern um einen der hochrangigen Kämpfer der praediti iuveni und eine Bekannte von ihm. Sie brachten mich zum Obersten, der von da an meine Erziehung übernahm.«