Feuerglimmen

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»Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was diese Menschen unter Erziehung verstehen«, schnaube ich, völlig aufgewühlt von diesen vielen neuen Informationen.

Das scheint ihn zu treffen. »Ja, klar wurde ich nicht mit Samthandschuhen behandelt. Ich bin nicht auf Jahrmärkte gegangen und habe Zuckerwatte gegessen. Ich bin nie auf eine normale Schule gegangen und ich wurde nie von Freunden eingeladen, denn selbst innerhalb der Gemeinschaft wurde ich gemieden. Ich bin nun mal so abstoßend, wie ich eben bin. Ich wurde von den Gleichaltrigen verachtet, von den etwas Älteren mit niederträchtigen Blicken durchbohrt und für die Ranghöheren war ich anfangs ausschließlich Ungeziefer. Doch ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Ja, ich habe viele Beleidigungen, Schläge und andere Strafen aushalten müssen. Und doch fühlte ich mich nach und nach immer besser. Immer stärker. Immer mehr wert. Und irgendwann war ich des Obersten beste Waffe. Ich weiß, dass ich genug Fehler habe, und dass die Gemeinschaft nicht gerade eine Happy Family ist. Aber ich habe schließlich nie etwas Besseres kennengelernt, also hör auf, mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen!« Fast brüllt er mich an. Mit jedem Wort hat sich eine dicke Ader auf seiner Stirn stärker hervorgetan. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, greift er nach seiner Violine, kehrt mir den Rücken zu und lässt mich alleine im Schnee zurück.

***

Kurz weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Kaum ist Valentin aus meinem Blickfeld verschwunden, fühle ich mich wieder verloren. Doch dann fällt mir ein, dass wir Zunder und Holz brauchen, also begebe auch ich mich nach kurzem Zögern in das Dickicht hinein. Es fühlt sich komisch an, all unsere Sachen einfach unbeaufsichtigt liegen zu lassen. Aber sollte uns jemand finden, waren wir so oder so aufgeschmissen, da wäre es dann auch schon egal, wenn jemand einen meiner tollen Kochtöpfe mitgehen lässt.

Meine Gedanken kreisen um Valentin und um das, was er mir erzählt hat. Es ist zum Haare raufen, personifiziert er für mich auf seltsame Weise sowohl meine Ängste als auch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Manchmal habe ich das Gefühl als gäbe es zwei von seiner Sorte. Den guten und den bösen Zwilling sozusagen. Mal sehe ich so viel Schmerz und Reue in seinen Augen und fühle mich so geliebt und geborgen in seiner Nähe, mal fügt er Menschen Leid zu, folgt blind gewaltsamen und unmenschlichen Befehlen und dann … er hat diese Ansammlung von Verrückten, Kriminellen, die Kinder zu Mördern erziehen, verteidigt. Weil er einer von ihnen ist. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und versuche damit auch diese dunklen Gedanken zu verscheuchen und gleichzeitig die Augen vor der bitteren Wahrheit zu verschließen: Er ist einer von ihnen. Doch er hat mich nicht ausgeliefert. Er hat mich nicht verletzt. Ganz im Gegenteil: Alles was er tut, was er augenscheinlich schon immer getan hat, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ist, mich zu beschützen. Und dafür setzt er sein Leben auf‘s Spiel. Und sagt, dass er dich liebt. Okay, um mich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, bin ich noch nicht stark genug. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass er das alles nicht wegen seiner Gefühle zu mir tut, sondern aus dem einfachen Grund, dass er Reue empfindet. Auch wenn er das augenscheinlich nicht zugeben will. Oder dieses Gefühl ist so neu für ihn, dass er es nicht zu deuten weiß.

Gedankenverloren bücke ich mich nach trocken aussehenden Ästen, reiße Moos von Baumrinden und laufe in fremde Menschen hinein. Warte was?!


Kapitel 3 – Valentin

Ich habe gedacht, ich würde durchdrehen, als sie mich nur noch ignoriert und mit ihrem Schweigen bestraft hat. Dann hat sie endlich meinen Wunsch erhört, hat wieder mit mir geredet, mich wieder angesehen. Und doch wünsche ich mir gerade einfach nur, ihren Blicken ausweichen zu können. Da war es mir ja noch lieber, als sie mich einfach nicht leiden konnte. Böse Blicke lassen mich kalt. Doch als sie mich so voller Abscheu angesehen hat, hat das etwas in mir hervorgerufen. Eines dieser komischen Gefühle, die ich immer noch nicht so richtig zuordnen kann, obwohl sie doch schon seit einer Weile immer wieder an die Oberfläche kommen. Doch der Moment, in dem mir aus ihren Augen nichts als Angst – Angst vor mir! – entgegenschlug, hat die Eisdecke meines Herzens zersplittern lassen. Nur ein klein wenig, doch es genügte, dass mich der Schwall aus Gefühlen fast überwältigt hätte. Der Drang, sie zu beschützen, war beinahe übermächtig geworden, ich wollte sie einfach nur im Arm halten, sie beruhigen, doch dann wurde mir klar, dass es genau das war, womit ich ihr in diesem Moment am meisten weh getan hätte. Und da spürte ich, wie sich ein Eiszapfen durch mein Innerstes bohrte und mich erschaudern ließ. Mir wurde bewusst, dass ich sie nicht einfach zurücklassen konnte. Dass ich meine Familie verraten musste. Dass ich das Leben, das ich nun schon seit zwanzig Jahren führe, aufgeben musste. Dass ich alles zurücklassen musste. Für eine junge Frau, die sich in diesem Moment wahrscheinlich so weit wie möglich von mir weggewünscht hat. Und ich habe es getan. Ich habe ihr meine Hand gereicht, ihr diese Chance auf Flucht – eine Flucht isoliert von der Außenwelt, eine Flucht mit mir alleine – angeboten, und sie ist mit mir gekommen. Ohne dass ich es wollte und ohne dass ich es kontrollieren konnte, hat mein Herz zu rasen begonnen und ich habe vergessen, in was für einer brenzligen Situation wir uns befanden, hatte lediglich Augen für sie und freute mich darüber, sie ganz für mich alleine zu haben. Und am meisten freute ich mich über ihr Vertrauen zu mir. Wahrscheinlich wusste ich es schon damals und wollte es einfach nicht wahrhaben, doch wenig später wurde es mir völlig klar: Ich war lediglich das kleinere Übel. Die Chance, nicht sofort auf irgendeiner verlassenen Straße abgemurkst zu werden. Genauso schnell, wie die Gefühle gekommen waren, habe ich sie auch schon wieder unter einer dicken Decke Schnee und Eis begraben. Wenn wir eines zum Überleben brauchen, dann einen klaren Verstand und den puren, unumstößlichen Willen zu überleben. Natürlich hat es weh getan, von ihr weggestoßen zu werden, die Angst und die Abneigung zu spüren, doch die Ignoranz hat mich am meisten getroffen. Gehasst zu werden, ist immer noch schöner als jemandem egal zu sein. Nun weiß ich, dass ich ihr nicht egal bin, dass sie immer noch Interesse an mir zeigt. Doch mir ist auch klar, dass sie in mir noch immer nach dem Valentin sucht, den sie in ihr Herz geschlossenen hat, doch der ist genauso ein Teil von mir, wie meine blutige Vergangenheit und meine grausame Rolle bei den praediti iuveni: Ich habe nicht aufgegeben, bis ich ihr bester Kämpfer war. Und auch, wenn mich seit Neuestem immer wieder dieses bedrückende Gefühl beschleicht, wenn ich an meine Taten denke, werde ich wohl immer auch ein wenig Stolz bei dem Gedanken verspüren, dass ich mich dadurch in meinem Leben zum ersten Mal wertvoll gefühlt habe. Vielleicht wird Marlena in mir wieder den Valentin finden, den sie mit so liebevollen Augen betrachtet hat. Den sie geküsst hat. Dessen Nähe sie gesucht hat. Doch ihr muss auch klar werden, dass es diesen Valentin nicht in Reinform gibt. Mit einem gewissen Grad an Verunreinigung muss sie wohl oder übel klarkommen.

Ein Geräusch reißt mich ruckartig aus meinen Gedanken. Das Knirschen von Bewegungen auf dem leicht gefrorenen Schnee. Alle Muskeln meines Körpers spannen sich an, während ich mich vollkommen auf meine Sinne konzentriere. Kein Geräusch soll mir entgehen. Keine Bewegung soll ungesehen bleiben. Und dann erblicke ich die Ursache des Geräusches und auch wenn ich vollkommen konzentriert bleibe, erlaube ich meinen Muskeln, sich wieder etwas zu entspannen. Nur wenige Meter von mir entfernt hoppelt ein gut genährter Feldhase hinter einem Baum hervor, bleibt stehen und putzt sich. Würde mein Magen sich nicht so schmerzhaft leer anfühlen, würde ich vielleicht sogar denken, dieses Tier wäre zu niedlich, um es zu töten. Doch wir brauchen etwas Nahrhaftes zwischen den Zähnen und so klemme ich meine Violine zwischen mein Kinn und meine Schulter. Sofort durchschwemmt eine Welle von Energie meinen Körper, als das kalte Holz die nackte Haut an meinem unbedeckten Hals berührt. Kein Gefühl auf der Welt ist mir so vertraut wie dieses. Immer und immer wieder habe ich versucht, diese Fähigkeiten auch mithilfe anderer Instrumente einzusetzen. Doch bei keinem davon, nicht einmal bei einem anderen Streichinstrument, gelang es mir. Ich weiß nicht wieso, aber meine einzige funktionierende Waffe ist die Violine. Vielleicht erfahre ich irgendwann den Grund dafür. Ich schließe meine Augen, rufe mir das Bild meiner Umgebung in meine Gedanken und keine Sekunde später höre ich das schnelle Schlagen des kleinen Tierherzens. Der Hase scheint völlig unbeschwert zu sein und doch hat er einen viel höheren Ruhepuls als wir Menschen. Ich atme tief durch, versuche mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Und so schaffe ich es, mich vollkommen auf diesen einen deutlichen Herzschlag zu konzentrieren, ihn förmlich in mich aufzunehmen, die Pulswellen auf meiner Haut zu spüren und zu fühlen, wie sie die Saiten der Violine zum Vibrieren bringen. Das ist mein Stichwort. Möglichst langsam, um das Tier keinesfalls zu alarmieren, setze ich den Bogen an und beginne zu spielen. Kein Ton ist zu hören. Dafür ist das menschliche Gehör schlichtweg nicht geschaffen. Doch ich fühle jede einzelne Schallwelle über das Instrument und dessen Steg hinweg durch die Luft auf den Feldhasen zurasen. Tiere haben eine so viel bewusstere Wahrnehmung als wir Menschen, deren Sinne immer mehr verkommen. Der Hase scheint verschwinden zu wollen und doch führt er nur eine kleine Zuckung aus, bewegt sich jedoch kaum vom Fleck. Das kleine Herz beginnt immer schneller zu rasen, doch ich lasse mich nicht irritieren, beschleunige mein Spiel im selben Tempo, bis ich schließlich die Frequenz und Amplitude des pochenden Tierherzens erreicht habe und es ins Stolpern gerät. Der Rhythmus kommt immer mehr aus dem Takt. Mein Spiel folgt seinem Beispiel. Und dann passiert es. Noch zwei, drei Mal rumpelt der Puls des Hasen unkontrolliert vor sich hin, dann ist plötzlich alles still. Das Herz des Hasen hat für immer aufgehört zu schlagen. Still und heimlich hatte es seine eigene kleine Resonanzkatastrophe, gegen die es sich nicht wehren konnte. Das Abendessen ist gesichert. Ein klein wenig stolz darauf, dass ich das Tier so schnell und ohne Komplikationen töten konnte, hebe ich den Kadaver auf, um das Tier zum Lager zu bringen, als ein schriller Schrei die Vögel aus den Bäumen hochschrecken lässt. Und mich in sofortige Alarmbereitschaft versetzt.

 

»Marlena!« Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprinte ich schon zwischen den viel zu dicht stehenden Bäumen hindurch in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute. »Marlena!«, rufe ich wieder, ungeachtet dessen, dass man uns entdecken könnte, falls es doch jemand anders sein sollte, der diesen markerschütternden Ruf von sich gegeben hat. Oder sich noch jemand in diesen Wald verirrt hat.

»Ich bin hier«, wimmert eine vertraute Stimme ganz in der Nähe. Blindlings stürme ich auf sie zu, ignoriere den Ast, der mir geradewegs ins Gesicht peitscht. Wenige Augenblicke später bremse ich abrupt ab, um Marlena nicht über den Haufen zu rennen, die auf dem Boden kniet. Über etwas gebeugt. Oder wohl eher über … jemanden. Ruckartig schnappe ich ihren Oberarm und ziehe sie zu mir hoch, weg von dem reglosen Mann, der vor unseren Füßen, mit dem Gesicht nach unten, im Schnee liegt.

Ich mache einen Schritt nach hinten, ziehe Marlena mit mir, die sich jedoch augenblicklich von mir losreißt.

»Was ist hier passiert?«, frage ich sie, während ich weiterhin den grauen, etwas schütteren Haarschopf anstarre.

»Das fragst du noch?«, blafft sie mich an. »Das müsstest du doch wohl am besten wissen! Gerade wollte ich etwas Feuerholz und Zunder suchen, wie du mich gebeten hast, als ich plötzlich in diesen Mann hineingerannt bin. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, sie hätten uns. Und dann hast du angefangen zu spielen und Sekundenbruchteile später, als der Mann den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hat er die Augen viel zu weit aufgerissen, während seine Mundwinkel und Finger unkontrolliert zu zucken begonnen haben. Die leise Melodie der Violine wurde immer schneller und bevor ich endlich kapiert habe, was hier gerade eigentlich passiert, ist der Mann auch schon vor meinen Füßen umgekippt. Das hat mich so erschreckt, dass ich reflexartig geschrien habe. Den Rest der Geschichte kennst du ja.« In ihrem Blick liegt eine so große Abscheu, dass ich vorsichtshalber einen Schritt von ihr wegmache. Ich will sie nicht noch mehr verängstigen.

Fassungslos schüttelt sie den Kopf. »Warum hast du das getan? Klar stellt er eine zusätzliche Gefahr für uns dar, aber das ist doch auch keine Lösung!«

Also daher weht der Wind. »Das war ich nicht. Zumindest wollte ich das nicht«, beteure ich. Doch Marlena scheint mir gar nicht zuzuhören.

»Du kannst doch nicht einfach jeden Menschen umbringen, der uns möglicherweise gefährlich werden könnte.«

»Jetzt hör mir doch mal zu: Ich wollte ihm nichts tun.«

»Wie kannst du nur …« Inzwischen ist ihre Stimme zu einem geschockten Flüstern geworden.

Das wird mir jetzt echt zu blöd. Ich packe sie an den Schultern und bringe sie so endlich einmal dazu, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Und ich sage es noch einmal: Verdammt, Marlena, ich wusste nichts von dem Mann! Ich wollte ihm nichts tun, ich habe lediglich einen Hasen erlegt!« Damit sie mir endlich glaubt, hebe ich das braune Häschen auf, das ich zwar mitgenommen, vor lauter Irritation aber habe fallen lassen, und halte es ihr vor die Nase.

Langsam nickt sie. Scheint mir zu glauben, scheint zu verstehen. Als hätte sie einen Geistesblitz, weiten sich plötzlich ihre Augen. »Das heißt, er ist vielleicht gar nicht tot?«

Wie auf Kommando werfen wir uns beide vor dem Mann auf die Knie und suchen nach seinem Puls, bis Marlena ihn schließlich findet, als sie das Handgelenk des Mannes umklammert. »Er lebt«, haucht sie, »aber er ist total kalt.«

»Schnapp‘ dir den Hasen und komm.« Mit Schwung schultere ich den alten Mann und eile zurück zum Lager, nicht ohne mich noch einmal mit einem Blick über die Schulter zu vergewissern, dass mir Marlena auch wirklich mit unserer Beute folgt. Und nicht nur das. Meine Violine hält sie in der anderen Hand, wenn auch möglichst weit von ihrem Körper entfernt. Durch die Sorge um Marlena und diesen Fremden habe ich das Instrument, das ich genauso achtlos zu Boden geworfen habe wie den Hasen, vollkommen vergessen. Ich habe das einzig Beständige in meinem Leben einfach im Schnee liegen lassen. Und das alles nur wegen dieser verrückten Gefühle. Wie kann mir nur so etwas passieren? Ich selbst weiß keine Antwort darauf.


Kapitel 4 – Marlena

Zwar glaube ich Valentin und doch verstehe ich einfach nicht, was dann mit diesem Mann vor mir passiert ist. Das alles hat zeitlich so gut zusammengepasst. Irgendetwas daran bereitet mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

»Glaubst du, er wacht wieder auf?« Unsicherheit, die ich nicht unterdrücken kann, liegt in meiner Stimme. Valentin zögert erst, doch dann erhalte ich meine Antwort.

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Eigentlich sollte er schon längst wieder bei Sinnen sein, so warm wie er es hier hat.« Valentin hat den Fremden über die Schulter geworfen und in unseren Unterschlupf gebracht, wo wir ihn sofort mit allen möglichen Decken und Mänteln zugedeckt haben, sodass sein Körper möglichst schnell wieder eine humane Körpertemperatur erreicht. Das ist jetzt schon eine halbe Stunde her, seither sitzen wir auf dem Boden des Zeltes und haben uns in Schweigen geübt. Noch hat es kein Lebenszeichen seitens des Mannes gegeben. Bis jetzt.

»Valentin! So ungeduldig wie eh und je!« Die raue und unerwartete Stimme des Mannes lässt mich hochschrecken, während ich wie gebannt die Luft anhalte. Er kennt seinen Namen. Auch den Angesprochenen lässt diese neue Situation nicht kalt. Valentin hat sich innerhalb eines Herzschlags auf den Fremden gestürzt und hält ihm zu meiner Überraschung die blank polierte Klinge eines Dolchs an die runzlige Kehle. Ich habe keine Ahnung, wo er diese Waffe hergezaubert hat, ich habe sie bisher nicht bemerkt. Da wird mir klar, dass ich ihn noch nie mit einer richtigen oder wohl eher einer typischen Waffe in der Hand gesehen habe. Dieses Bild bereitet mit einerseits zittrige Angst, doch andererseits strahlt es unbändige Kraft aus.

»Woher kennen Sie meinen Namen?« Die Frage dringt als Zischen zwischen Valentins vor Wut zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Wenn du die Klinge wegnimmst, erwäge ich vielleicht, es dir zu erzählen, Jungchen.« Obwohl Valentin mit nur einer raschen Bewegung sein Leben beenden könnte, wirkt der Mann völlig entspannt. Und vollkommen zurechnungsfähig. Etwas verwunderlich, wenn man seinen Zustand von vor wenigen Minuten bedenkt.

Widerwillig steckt Valentin die Waffe in seinen Stiefel zurück – wie kann der mit einem Messer darin herumlaufen?!

– während ein knurrendes Geräusch aus seiner Kehle dringt. Wahrscheinlich sollte es beängstigend wirken. Ich finde es aber auf eine komische Art und Weise anziehend, auch wenn ich mir das nur ungern eingestehe. Eine leichte Gänsehaut überzieht meine Haut, obwohl ich die Kälte des Winters kaum mehr spüre. Vergessen ist alles um mich herum. Zumindest für kurze Zeit.

»Hast du vielleicht etwas Anstand und könntest mir etwas Wasser geben, Kindchen? Meine Kehle ist wie ausgetrocknet. So erzähle ich euch sicher keine Geschichte.« Sein erwartungsvoller Blick lässt mich verstehen, dass ich wohl das Kindchen bin. Wie reizend. Doch mein Mitgefühl und vor allem auch meine Neugier siegen und so beeile ich mich, ihm eine Wasserflasche zu reichen und warte gespannt darauf, was er uns zu erzählen hat. Kurz huscht mein Blick zu meinem Begleiter. Valentin scheint sich nur mit Mühe davon abhalten zu können, dem alten Mann erneut an die Kehle zu springen. Misstrauen spiegelt sich deutlich in seinen hellen Augen.

Nachdem der Mann ein paar Schlucke Wasser zu sich genommen hat, hält Valentin es scheinbar nicht mehr aus.

»So, und jetzt rücken Sie endlich raus mit der Sprache. Und Ihre Geschichten können Sie sich sparen. Wir wollen die Wahrheit hören und sonst nichts.«

»Jede Geschichte hat ihren wahren Kern! Doch keine Angst, ich werde euch keine Märchen erzählen. Wie auch ihr, war ich einst auf der Flucht. Auf der Flucht vor demselben Feind. Damals waren es noch andere Personen, bis auf einen natürlich: Brendanus.« Angewidert verzieht der Alte seine spröden Lippen. Neben mir saugt Valentin angespannt Luft zwischen den Zähnen ein. Wer auch immer dieser Brendanus sein mag. Ich glaube, wir mögen ihn nicht. Keiner von uns.

»Woher kennen Sie den Namen des Obersten?«

»Oboedi et ancillare!«

»Gehorche und diene …«, murmle ich irritiert vor mich hin. Was … was meint er damit?

»Sie … Sie sind …« Valentin gerät ins Stocken. In Sekundenschnelle blitzt der Dolch erneut auf. Langsam dämmert es auch mir.

»Ein beschenkter Jugendlicher? Nun … nicht mehr. Ich bin keinesfalls mehr jung und ein Teil der praeditii iuveni bin ich auch nicht mehr. Ihr habt also nichts zu befürchten.«

»Aber … wie«, setzt Valentin erneut an. Wie konnten Sie aussteigen?, vervollständige ich in Gedanken seine Frage.

Unser Gegenüber scheint auch so zu verstehen.

»Naja, das war nicht gerade einfach. Nicht umsonst bin ich in die Geschichte eingegangen, als der Einzige, der jemals den Klauen des Obersten entwischt ist«, kurz zögert er.

»Oder vielleicht weiß niemand davon, wenn ich eure Mienen so sehe? Jedenfalls bin ich ein Abtrünniger. Und ich habe überlebt. Ich denke, ich habe gerade an Wert für euch gewonnen.«

»Sie sind also wirklich ein ehemaliges Mitglied?«, frage ich vorsichtshalber nochmal nach. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles hier gerade real ist, oder ob ich lediglich höre, was ich so gerne hören würde. Mit einem Verbündeten an unserer Seite wäre alles so viel einfacher.

»Ja.«

»Und Sie konnten entkommen?«

»Wieder korrekt. Du bist ja eine richtige Blitzmerkerin, Kindchen.« Unkontrolliert macht sich Schamesröte auf meinen Wangen breit. Zumindest gehe ich davon aus, denn meine Haut beginnt verdächtig zu glühen.

»Wie um Himmelswillen konnten Sie lebendig entkommen? Und was machen Sie dann jetzt hier statt sich irgendwo weit, weit weg niederzulassen?« Valentin versucht gar nicht erst, ruhig zu klingen. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so aufgebracht erlebt. In seinen Augen tobt ein kalter Sturm, während sein ganzer Körper vor unterdrückter Anspannung bebt.

»Warum lauft ihr überhaupt weg, Jungchen? Mit ihr an deiner Seite, sollten die dir doch eigentlich alle aus der Hand fressen. Und Brendanus wird seinen Liebling doch ohnehin bereits schrecklich vermissen.« Wieder dieser Name, der Valentin zusammenzucken lässt. Wie wild schüttelt er den Kopf, scheint sich auf das Wesentliche konzentrieren zu wollen.

»Was reden Sie da überhaupt?«

Der Alte scheint ihm gar nicht richtig zuzuhören und wendet sich nun stattdessen gänzlich mir zu. Schwerfällig erhebt er sich, schleppt sich immer näher zu mir. Unschlüssig verharre ich auf meinen Knien. Eine vom Alter gezeichnete Hand streckt sich meinem Gesicht entgegen, doch die Berührung bleibt aus. Krumme Finger verharren Millimeter von meiner Stirn entfernt. Die Augen des Fremden huschen rasend schnell über mein Gesicht hinweg. Ein wirrer Ausdruck hat in ihnen Einzug gehalten.

»So stark … noch nie zuvor …« Der Mann brabbelt wie im Fieberwahn vor sich hin. Ein Schauer überläuft mich, als er mich an das Fantasy-Wesen Gollum erinnert, demnach wäre ich so etwas wie … der Ring sie zu knechten?

 

Valentin ergreift das Handgelenk des Mannes und zerrt ihn brutal von mir weg.

»Das reicht! Lassen Sie gefälligst Ihre Finger von ihr!« Ruckartig reißt der Mann sich frei. Seine milchig grauen Augen stieren in klare blaue.

»Du weißt es nicht, oder Jungchen? Habe ich Recht? Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht. Na, habe ich Recht? Ihre Gabe …« Ein siegessicheres Grinsen will sich in der Miene des Alten manifestieren. Ein gekonnter Kinnhaken Valentins wischt es ihm sofort wieder aus dem Gesicht.

»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon alleine hier draußen hausen. Doch das hat eindeutig seine Spuren hinterlassen. Sie halten von nun an den Mund. Ich will heute kein Wort mehr von Ihnen hören, außer sie werden gerne geknebelt.« Mit dieser Drohung bringt er den fremden Mann zum Schweigen. Mit seinem Gürtel umschlingt er die faltigen Handgelenke, zerrt den Mann hoch, hinter sich her und fesselt ihn schlussendlich an einen Balken im Inneren der schütteren Holzhütte. Das alles verfolge ich nur halbherzig. Eine eisige Klaue hat sich um mein Herz gelegt, lässt alles in einem düsteren Nebel ertrinken. Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht … Ihre Gabe … Seine Worte brennen sich in meine Gedanken, lassen meinen Geist erschaudern. Was hat das alles zu bedeuten? Das ist doch Blödsinn! Ich und begabt? Dass ich nicht lache. Ich bin höchstens begabt darin, gegen Türbalken zu laufen. Oder über Mülleimer zu stolpern. Aber da kann man doch kaum von Macht sprechen. Was, wenn er Recht hat? Wenn er mehr weiß als ich selbst? Der Nebel um mich wird dichter. Macht mich blind. Dringt in meine Nase, meinen Mund, meine Ohren. Er lässt mich röcheln. Ich befürchte, an meinen Zweifeln zu ersticken, als sich eine Hand vor mir abzeichnet, wie ein rettender Anker in einer tosenden Brandung. Es ist Valentins Hand. Begierig will ich danach greifen. Sehne mich nach seiner Kraft, seinem Schutz. Doch ich werde von der kratzigen Stimme des Alten unterbrochen.

»Ich weiß, dass ich Recht habe! Verschließe nicht deine Augen vor der Macht des Träumens, Kindchen!«

Und dann ist es zu spät. Ich falle. Falle in bodenlose Tiefe. Ertrinke in gewisperten Worten, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, bis ich weder tot bin noch mich lebendig fühle.