Sozialfirmen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Sozialfirmen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sozialfirmen Plädoyer für eine unternehmerische Arbeitsintegration

Lynn Blattmann

Daniela Merz

Erste Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2010 by rüffer&rub Sachbuchverlag, Zürich

info@ruefferundrub.ch

www.ruefferundrub.ch

Photo Umschlag: www.123rf.com

Photos innen: Katalin Deér

Porträts der Autorinnen: Daniel Ammann,Ammann & Siebrecht

Fotografen, St.Gallen

E-Book: Clara Cendrós

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Papier: Schleipen Werkdruck, bläulichweiß, 80 g/m2, 1.75

ISBN 978-3-907625-48-4

ISBN e-book: 978-3-907625-67-5

Inhalt

Vorwort: Citoyens und Entrepreneurs

Marktwirtschaftlich geführte Sozialfirmen als Chance

Arbeitsintegration – eine unternehmerische Herausforderung Job, Geld, Leben – nichts ist mehr sicher Die Schere:Vermehrung der arbeitsfreien Einkommensquellen für die einen, nichts als prekäre Arbeit für die anderen Der Staat kann es sich nicht leisten,Arbeitslosigkeit nur zu verwalten Partnerschaft zwischen Staat und Sozialunternehmern

Vom Beschäftigungsprogramm zur Sozialfirma Das St.Galler Modell Unterschätzte Punkte bei der Neuausrichtung Unternehmerische Fähigkeiten benennen Geschäftsidee formulieren Das Verhältnis zur Wirtschaft klären Neuausrichtung wie ein Start-up planen Art der Unternehmung Produkte und Dienstleistungen Der Markt Konkurrenz Marketing Standort und Logistik Maschinen Organisation und Management Risikoanalyse

Führung einer Sozialfirma Das Menschenbild Methoden der Integration Die Interkulturagenda Schlichterinnen Personalführung und Rekrutierung Qualitätsmanagement Planung Auftragsplanung Personalplanung Strategische Planung

Finanzen Sozialpolitische Ziele sozialunternehmerischen Handelns Organisatorische und rechtliche Voraussetzungen Sozialversicherungen für Sozialfirmen Weitere Versicherungen für Sozialfirmen Mehrwertsteuer Kapitalisierung Erfolgsrechnung Bilanz Kennzahlen und Controlling Kennzahl 1: Durch beeinträchtige und nicht beeinträchtigte Arbeitnehmende geleistete Arbeitsstunden Kennzahl 2:Wertschöpfung am Markt pro geleistete Arbeitsstunde der langzeitarbeitslosen oder beeinträchtigten Arbeitnehmenden Kennzahl 3:Wertschöpfung am Markt durch langzeitarbeitslose oder beeinträchtigte Arbeitnehmende Kennzahl 4: Lohnaufwand beeinträchtigte Arbeitnehmende total Kennzahl 5: Mitarbeiterkosten und Anzahl Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kennzahl 6: Mitarbeiterlohnkosten pro geleistete Arbeitnehmerstunde Kennzahl 7: Erträge von öffentlicher Hand oder Sozialversicherung pro gearbeitete Arbeitnehmerstunde

Fragen an Daniela Merz

Fragen an Andreas Bächler, Geschäftsführer,Thomas Würz und Marcel Giger, Abteilungsleiter

Unternehmerische Arbeitsintegration – eine Herausforderung für die Zukunft

Anhang Anmerkungen Literaturverzeichnis Dank

Arbeit ist nicht Beschäftigung:

Ein Blick zurück und einer nach vorn

Vorwort: Citoyens und Entrepreneurs

Manches, das später als Vision bezeichnet wird, beginnt unscheinbar. In St. Gallen etwa bestand vor zehn Jahren ein großer Bedarf an Arbeitsplätzen. »Arbeit statt Fürsorge« hieß ein Programm, das die Stadtbehörde für Langzeitarbeitslose lancierte. Auch schwer Suchtabhängige benötigten dringend geeignete Arbeit. Die stand aber nicht zur Verfügung. Die Perspektive, dass eine steigende Anzahl Menschen nicht mehr in der Lage sein würde, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, und von der Sozialhilfe abhängig sein würde, war stoßend und verlangte neue Lösungsansätze.

Das war Anlass für die Gründung der Stiftung für Arbeit, die zum Zweck hatte, Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeit zu vergeben. Wir wussten, dass wir damit ein delikates Parkett betraten, auf dem Sozialarbeit, Verwaltung, Politik, Industrie und Gewerbe unterschiedliche Vorstellungen von Arbeits- und Sozialpolitik pflegten.

Der Start verlief harzig. Noch immer stand der Gedanke zu helfen vor jenem der Wertschöpfung. Die Leistungen konnten sich kaum messen mit jenen in Wirtschaft und Gewerbe. Die zuweilen mangelhafte Qualität der abgelieferten Arbeit diente nicht als Türöffner, sondern forderte Rechtfertigungen für das ganze Projekt. Hingegen bot die Stiftung für Arbeit innerhalb kürzester Zeit denjenigen Menschen eine Tagesstruktur, die sich nicht scheuten, Arbeit als Basis dafür anzunehmen.

Eine Prämisse verbindet die Stiftung der ersten Epoche mit ihrer Nachfolgerin, der heutigen Dock-Gruppe: das Menschenbild, das wir unserer Tätigkeit zugrunde legten – auch wenn wir damals eher von Klientinnen und Klienten sprachen und nicht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir waren davon überzeugt, dass viele unserer Leute fähig sind, Leistungen zu erbringen, für die in Industrie und Gewerbe eine Nachfrage besteht. Diesen haben wir eine Chance und eine Struktur gegeben und ihnen unser Vertrauen geschenkt. Und sie haben es uns gedankt: Wir konnten bis heute an unserem Menschenbild festhalten.

In unserer Gesellschaft erfolgt Integration, also auch die Wiedereingliederung in den Ersten Arbeitsmarkt, über produktive Arbeit und nicht über Beschäftigung, die bloß einen Zeitvertreib darstellt. Langzeitarbeitslose Menschen brauchen Arbeit – Arbeit als Glied in der Wertschöpfungskette, die wir von Beginn weg anboten.

Ums Jahr 2000 wurde uns klar: Was wir tun, ist bei aller Leistung des damaligen Teams und der Beschäftigten zu ineffizient und hat keine Zukunft. Entweder bauen wir das Projekt zu einer Firma um – oder wir geben es auf. Das war die Weggabelung, an der wir Daniela Merz zur Geschäftsführerin ernannten. Ihr ist es gelungen, unserer zwar innovativen, aber etwas diffusen Vorstellung von dem, was heute »Sozialfirma« heißt, Konturen zu geben und ein leistungsfähiges Unternehmen mit mehreren produktiven Standorten aufzubauen.

Den wichtigsten Schritt taten wir alle aber erst, als wir uns definitiv nicht mehr als ein Programm verstanden, das ausgesteuerte Langzeitarbeitslose beschäftigt, sondern als Unternehmen, das nach kommerziellen Grundsätzen geführt wird und in dem besondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten – und unser Projekt fortan »Firma« nannten. Denn: Selbstverständnis hat auch mit Wortwahl zu tun.

 

Die Dock-Gruppe und die Stiftung für Arbeit, unter deren Dach die gegenwärtig vier Firmen zusammengefasst sind, stehen in diesem Buch im Zentrum. Das entspricht eigentlich nicht ihrem Naturell; doch die sozialpolitische Situation im In-und Ausland und die Diskussionen, die der Zweite Arbeitsmarkt auslöst, rechtfertigen für einmal das Scheinwerferlicht auf uns selbst. Wir sind der Meinung, dass unser Modell auch eine Chance für andere ist, wenn sie jene Regeln umsetzen, die wir entwickelt haben, die sich bewähren und die wir empfehlen.

Was uns wichtig ist, haben die Autorinnen Lynn Blattmann und Daniela Merz auf den folgenden Seiten zusammengetragen.

Mein Dank gilt allen aktiven und emeritierten Stiftungsräten, die nicht nur den Aufbau, sondern auch beide Phasen des Umbaus – vom Beschäftigungsprogramm zur Sozialfirma und später von der regional verankerten Sozialfirma zum nationalen Player – immer gutgeheißen und mitgetragen haben. Ihre Zustimmung zu jedem Entwicklungsschritt war unerlässliche Voraussetzung für die Entstehung und den Erfolg der Dock-Gruppe, und ich habe sie nie für selbstverständlich gehalten.

Sehr herzlich danke ich Daniela Merz. Mit schier unerschöpflicher Energie und Kreativität, Freude und Lust hat sie mit ihrem Team eine in jeder Hinsicht hoch leistungsfähige und anerkannte Firmengruppe geschaffen, die bereits rund 700 Personen beschäftigt und einen weiteren Ausbau ins Auge fasst. Ohne Daniela Merz und unser Leitungsteam stünden wir niemals da, wo wir heute stehen. Euch allen ein Dankeschön!

Lynn Blattmann ist 2006 zu uns gestoßen und hat sich als Mitglied der Unternehmensführung intensiv mit der Idee der Sozialfirma auseinandergesetzt. In verdankenswerter Weise arbeitete sie neben ihren Aufgaben im Firmenalltag mit großem Einsatz an der Publikation dieses Buches.

Weiter gilt mein Dank allen Partnern auf Ämtern, in Unternehmungen, an gesellschaftlichen Schnittstellen und in der Politik, die unserem Tun immer wieder viel Goodwill entgegenbringen und uns zahlreiche Aufträge verschaffen.

Und schließlich ein großes Dankeschön an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wir im Laufe der Jahre bei uns beschäftigt haben. Letztlich sind sie die Dock-Gruppe! Mit ihrer Leistung haben sie maßgeblich dazu beitragen, dass wir über eine gut funktionierende und leistungsfähige Firmengruppe verfügen, die für die Wirtschaft arbeitet und von ihr geachtet wird.

Citoyens und Entrepreneurs: Was Sie auf den folgenden Seiten lesen werden, ist eine spannende und faszinierende Geschichte aus Betriebswirtschaft und Sozialpolitik, aus Unternehmertum und gesellschaftlicher Verantwortung, kurz: eine Erfolgsgeschichte.

Auf die wir ein bisschen stolz sind.

Jürg Bachmann

Präsident der Stiftung für Arbeit und der Dock-Gruppe

St. Gallen/Zürich, 31. August 2009

Marktwirtschaftlich geführte

Sozialfirmen als Chance

Langzeitarbeitslosigkeit ist in der Schweiz ein relativ neues Phänomen. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass sie andernorts eine längere Geschichte hat. In unseren Nachbarländern ist schon viel ausprobiert worden, um die Folgen langer Arbeitslosigkeit zu mildern. Unzählige Initiativen und Institutionen bieten Tagesstrukturen, Beschäftigung und Qualifikationen an. In Deutschland hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte eine eigentliche »Armutsindustrie« entwickelt, die jährlich sieben Milliarden Euro umsetzt. Auch in der Schweiz wird im Bereich der Arbeitsintegration viel Geld investiert, dennoch stehen heute zahlreiche Modelle und Initiativen unter massivem Spardruck und politischem Rechtfertigungszwang. Sie kämpfen ebenso gegen Resignation wie gegen schwierige, ausgeklügelte Regelungen, die ihnen kaum unternehmerische Freiheit lassen. Generell ist in diesem Bereich heute wenig Innovation zu spüren.

In der Schweiz ist die Situation in der Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit heute offener und weniger klar. Arbeitslosigkeit war während Jahrzehnten ein Problem, das in Rezessionszeiten auftrat und danach wieder verschwand. Auch in der Sozialhilfe, die der Arbeitslosenversicherung nachgelagert ist, stiegen die Fallzahlen langsam und bis vor wenigen Jahren nur vorübergehend an; einer Periode von vermehrten Anträgen für finanzielle Unterstützung durch die Sozialhilfe folgte in der Regel ein Rückgang derselben. So konnte sich keine langfristige Arbeitslosigkeit verfestigen, das System blieb durchlässig. Wer in guter Konjunkturlage wieder eine Stelle finden wollte, fand auch eine. Für viele unbemerkt, änderte sich dieser Zustand in der Schweiz in den 1990er Jahren. Nach einer konjunkturell starken Phase sanken ab 2007 die Sozialhilfezahlen vorübergehend. Heute leben in einzelnen Städten über 6% der Bevölkerung von Sozialhilfe. 1Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und der stark abgeschwächten Konjunktur ist mit einem erneuten Anstieg der Fallzahlen zu rechnen.

In der Schweiz stellt sich jetzt die Frage, wie wir als Sozialstaat und als Bürgerinnen und Bürger dieser Entwicklung begegnen wollen. Wir müssen uns entscheiden, was wir als Mitglied einer Kommune, einer Sozialversicherung, eines Kantons, des Bundes oder als Einzelpersonen gegen die Gefahr unternehmen, dass sich die Strukturen derart verfestigen, dass Langzeitarbeitslosigkeit zu einem dauerhaften Ausschluss aus der Arbeitswelt führt. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes kann schlecht beeinflusst werden. Aber es ist möglich, die sozialen Sicherungssysteme durchlässiger zu machen und die Übergänge zwischen finanzieller Unterstützung und selbständiger Existenzsicherung für die Langzeitarbeitslosen einfacher zu gestalten; außerdem können Arbeitsplätze geschaffen werden für Menschen, die arbeiten wollen, aber keine Stelle finden.

Die Stiftung für Arbeit St. Gallen hat sich aus unterschiedlichen Gründen für den sozialunternehmerischen Weg begeistert. Nicht, weil ihr der Glaube daran fehlt, dass auch von anderer Seite gute Lösungen gefunden werden können, sondern weil der unternehmerische Ansatz gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit viele neue Perspektiven eröffnet.

Langzeitarbeitslosigkeit verlangt nach anderen Modellen in der Arbeitsintegration als der Bereich der Invaliden oder Schwerbehinderten, wie diese Zielgruppe in Deutschland genannt wird. Während bei den meisten Behinderten die Beschäftigung im Vordergrund steht, ist im Zusammenhang mit Langzeitarbeitslosen die Reintegration in die freie Wirtschaft immer oberstes soziales Ziel. Arbeitsintegrationsmaßnahmen müssen also eine optimale Vorbereitung und ein Training im Hinblick auf eine reguläre Stelle in der freien Wirtschaft bieten. Angesichts der sich verfestigenden Sockelarbeitslosigkeit darf jedoch die Tatsache nicht vergessen werden, dass es in absehbarer Zeit nicht allen gelingen wird, wieder eine reguläre Stelle zu finden. Arbeitsintegration bedeutet deshalb nicht in jedem Fall eine Reintegration in die freie Wirtschaft; für viele muss sie auch so ausgestaltet werden, dass eine längerfristige Reintegration in die Arbeit möglich ist, auch wenn diese in einem teilsubventionierten Integrationsunternehmen stattfindet. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Arbeitsintegration nicht befristet ist und ein Arbeitsumfeld geschaffen werden kann, das zwar im Zweiten, also subventionierten Arbeitsmarkt angesiedelt ist, sich aber formal nicht von einer Stelle in der freien Wirtschaft unterscheidet. Es braucht also Unternehmen, die marktwirtschaftlich ausgerichtet sind und eine langfristige arbeitgeberische Verantwortung für die langzeitarbeitslose Belegschaft übernehmen können. Dies setzt reelle Kunden und Aufträge voraus. Reine Beschäftigung oder die Herstellung von Produkten, für die es keinen Markt gibt, erachten wir als demotivierend und entwürdigend.

Arbeit, die gebraucht wird, und ein leistungsgerechter Lohn sind wichtige Voraussetzungen für die Stärkung der Eigeninitiative. Diese soll auch der Kernpunkt einer Sozialfirma sein, wie wir sie propagieren. Genau genommen bieten Sozialfirmen schlicht Chancen für diejenigen, die sich aus eigener Kraft buchstäblich wieder aus ihrer Langzeitarbeitslosigkeit herausarbeiten wollen, und sie stellt sinnvolle langfristige Arbeitsplätze zur Verfügung, in denen auch leistungsbeeinträchtigte Arbeitnehmende einer befriedigenden Erwerbstätigkeit nachgehen können, die ihren Fähigkeiten angepasst ist. Die Verwirklichung dieser Vision erfordert Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die den Mut haben, ihre Fähigkeiten, ihre Kraft und vielleicht auch ihre finanziellen Mittel in eine Firma zu investieren, die mit einer langzeitarbeitslosen produktiven Belegschaft am Markt operiert und Kundenaufträge erfüllt. Sie setzt Unternehmerinnen und Unternehmer voraus, die bereit sind, sich den Einschränkungen und dem Konkurrenzverbot der freien Wirtschaft zu unterwerfen, und die gleichzeitig immer wieder neue Regeln aushandeln für ein ergänzendes Nebeneinander von freier Wirtschaft und Sozialfirmen, die für die Erfüllung ihrer sozialen Aufgabe Zuschüsse bekommen. Es braucht aber auch Institutionen und Kommunen, die gewillt sind, die gesetzlichen Voraussetzungen und Vorschriften so zu gestalten, dass sozialunternehmerisches Handeln möglich ist und dass Arbeitsplätze geschaffen werden können, mittels derer die langzeitarbeitslose Belegschaft aus eigener Kraft wieder zu einer teilweise oder ganz existenzsichernden Beschäftigung zurückfinden kann.

Ein Sozialstaat, der seinem Namen gerecht werden will, soll es Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmern ermöglichen, Firmen aufzubauen, die Arbeitsplätze für langzeitarbeitslose Menschen schaffen. In diesen Unternehmen sollen Perspektiven entwickelt werden im Hinblick auf einen Wiedereinstieg in ein selbstbestimmtes Leben, in dem so viele Mittel wie möglich durch eigene Arbeit erwirtschaftet werden können. Sozialfirmen, die in privater und nicht öffentlich-rechtlicher Organisation mit unternehmerischen, marktwirtschaftlichen Mitteln am Markt operieren, sind ideale Institutionen für die Umsetzung dieser Idee.

Neue Maßnahmen für den Umgang mit Arbeitslosigkeit und ein Abbau alter ideologischer Vorstellungen sind dringend notwendig. Dabei geht es vor allem um zwei Dinge: Wir müssen die Grenzen zwischen der freien Wirtschaft und den Arbeitsintegrationsfirmen aufweichen, und es müssen neue Formen der Zusammenarbeit aller Beteiligten gefunden werden. Sinnvollerweise sollen bei der Ausarbeitung der neuen Regelungen auch die Gewerkschaften mit einbezogen werden. In Deutschland sitzen die Arbeitgeber, die Arbeitnehmerorganisationen und der Staat in der Bundesanstalt für Arbeit schon zusammen an einem Tisch, in der Schweiz haben sich dieselben Akteure in tripartiten Kommissionen zusammengefunden, die in Kooperation mit den lokalen Sozialfirmen vor Ort Regeln festlegen und diese bei Bedarf anpassen.

Sozialfirmen brauchen andere Regelungen als die freie Wirtschaft, und sie benötigen Vorschriften, die den örtlichen und wirtschaftlichen Umständen entsprechen. Es ist richtig, dass sie und ihr Tun besonders kritisch beobachtet werden, denn sie beschäftigen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, nämlich diejenigen, die nicht wählen können, ob sie eine Arbeit machen möchten oder nicht. Heute ist es jedoch so, dass nicht so sehr die Haltung und der Umgang mit den Langzeitarbeitslosen prüfend unter die Lupe genommen werden, im Vordergrund der Diskussion stehen rigorose Einschränkungen und Konkurrenzverbote. Es lohnt sich sicher, diese Fragen von Zeit zu Zeit neu zu überdenken und in Einzelfällen besondere Absprachen zu treffen. Allzu eng gefasste Konkurrenzverbote sind je nach Konjunkturlage und ökonomischem Umfeld jedoch wenig sinnvoll. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten können Sozialfirmen der freien Wirtschaft sogar unter die Arme greifen, wenn ihnen erlaubt wird, für ihre Arbeit weniger zu verlangen und leistungsangepasste Löhne zu bezahlen, auch wenn diese unter den Tariflöhnen liegen. Auch in diesem Zusammenhang gilt: Es gibt nicht eine Regelung für alles. Es lohnt sich, Einzelfälle zu prüfen und gemeinsam und pragmatisch nach neuen Wegen und Lösungen zu suchen.

Große Marktchancen für Sozialfirmen liegen im industriellen Bereich. Dort können auch nationalökonomische Überlegungen zu neuen Wegen führen. Wenn Sozialfirmen für die lokale Industrie ausgelagerte manuelle Arbeitsschritte ins Land zurückholen können, werden damit nicht nur die Wege verkürzt und mehr Leute im eigenen Land beschäftigt, auch die lokale Industrie wird gestärkt und flexibler. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Sozialfirmen zu denselben Kosten arbeiten wie ausländische Anbieter. Deshalb muss ihnen erlaubt werden, leistungsangepasste Löhne für Teilleistungsfähige zu bezahlen. Dies kann von tripartiten Kommissionen ebenfalls überprüft werden. Solange die Löhne nicht existenzsichernd sind und unter den Ansätzen der Schweizer Sozialhilfe beziehungsweise dem deutschen Arbeitslosengeld II liegen, sollen sie aus diesen Kassen flexibel aufgestockt werden können. Wenn Arbeiten durch vollleistungsfähige Arbeitnehmende ausgeführt werden, sollen dafür Löhne bezahlt werden, die ungefähr denjenigen einer vergleichbaren Tätigkeit in der freien Wirtschaft entsprechen, auch wenn damit eine Ablösung von der Sozialhilfe verbunden ist. Sozialfirmen sind unternehmerisch tätig, weil sie die Grenzen zwischen den Stellenbesitzenden und den Stellenlosen durchlässiger gestalten wollen. Dies muss sich auch in der Lohngestaltung zeigen.

 

Die Einkommenssituation in den Industrieländern hat sich generell auseinanderentwickelt; während Einzelne viel mehr verdienen, gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, deren Einkommen auf lange Zeit auf dem Niveau des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches beziehungsweise in der Schweiz der individuell errechneten Sozialhilfe festgesetzt bleibt. Sozialfirmen sollen hier eine Brücke schlagen im Hinblick auf ein finanziell eigenständiges Leben. Wer in einer Sozialfirma arbeitet, ist ein »Working Poor«, wie Arme genannt werden, deren Arbeitseinkommen nicht zur Existenzsicherung reicht. Die Lohnausgestaltung soll aber derart sein, dass eine vollleistungsfähige und Vollzeit arbeitende Person auch in einer Sozialfirma so viel verdienen kann wie ein Arbeitnehmender in einem vergleichbaren Betrieb der freien Wirtschaft. Dies bedeutet, dass eine Sozialfirma die Möglichkeit bieten soll, dass jemand bei voller Leistungsfähigkeit von einem »Working Poor« zu einem Normalverdiener werden kann. Gerade in schlechten Konjunkturlagen gibt es viele Langzeitarbeitslose, die wieder ihre volle Leistungsfähigkeit erlangen können. Weil mit dem Eintritt der Langzeitarbeitslosigkeit meistens auch ein deutlicher Rückgang der Leistungsfähigkeit verbunden ist, muss die Sozialfirma die Chance bieten, das Leistungspotential wiederaufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss es den Sozialfirmen möglich sein, für nicht vollleistungsfähige Arbeitnehmende leistungsangepasste Löhne zu bezahlen, die unter den Tariflöhnen liegen. Gleichzeitig müssen sie sich verpflichten, Perspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten, bis hin zu einer finanziellen Selbständigkeit. Sozialfirmen sind für dieses Unterfangen besser geeignet als Betriebe der freien Wirtschaft, da sie durch die Geldgeber und die Gewerkschaften einfacher kontrolliert werden können.

2009 leben in Deutschland knapp unter einer Million Langzeitarbeitslose2, 2007 lebten in der Schweiz 233 484 Personen oder 3,1% der Gesamtbevölkerung von Sozialhilfe. 3 Wenn wir davon ausgehen, dass mindestens ein Drittel dieser Personen arbeitsfähig ist, können wir erahnen, wie groß das Potential für Sozialfirmen ist. Dieses erstreckt sich sogar über die Gruppe der Sozialhilfeempfangenden hinaus: Die Idee könnte mit einigen gesetzlichen Anpassungen auch für Arbeitslose, die noch unter den Versicherungsschutz der Arbeitslosenkasse fallen, angewendet werden; ebenso besteht im Bereich der Invalidenversicherung ein Interesse an Lösungsmöglichkeiten, die einen besseren Anschluss an die freie Wirtschaft möglich machen.

Wir haben das vorliegende Buch geschrieben für angehende Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die planen, eine Sozialfirma zu gründen oder einen bestehenden Betrieb in eine solche umzuwandeln; sie finden hier Informationen und Überlegungen, die ihnen das Anpacken dieser Aufgabe erleichtern. Das Buch richtet sich aber auch an die Verantwortlichen auf der Seite der Kommunen und Institutionen, die die Arbeitsintegration heute finanzieren. Darüber hinaus sollen unsere Überlegungen für Managementverantwortliche der freien Wirtschaft interessant sein, denn das Potential an Ideen für neue, einander ergänzende und befruchtende Formen der Zusammenarbeit zwischen der freien Wirtschaft und Betrieben des Zweiten Arbeitsmarktes ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.