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Arbeitsintegration –

eine unternehmerische Herausforderung

Job, Geld, Leben – nichts ist mehr sicher

Erwerbsarbeit ist ein zentrales sinnstiftendes Element in unserem Leben. Eine reguläre Stelle zu haben ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe. Ein Arbeitsplatz hat nicht nur eine existenzsichernde Funktion, Arbeit zu haben bedeutet auch, eine Aufgabe zu haben, gebraucht zu werden und einen Beitrag zu einem größeren Ganzen zu leisten. Die meisten Menschen finden Sinn in ihrer Arbeit und leiten ihre persönliche Identität maßgeblich von ihrer Erwerbsarbeit ab. In unserer Gesellschaft kommt der Erwerbsarbeit ein besonders hoher Stellenwert zu, unbezahlte Familien- oder Erziehungsarbeit oder andere unbezahlte Beschäftigungsformen genießen ein weitaus geringeres gesellschaftliches Ansehen. Vollbeschäftigung gilt immer noch vielerorts als erstrangiges sozialpolitisches Ziel. Am Glauben an den zentralen Stellenwert der bezahlten Arbeit haben auch große Wellen der Arbeitslosigkeit nichts geändert. Schlagworte wie »Vollbeschäftigung als oberstes Ziel« prägen die europäische Wirtschafts-und Sozialpolitik nach wie vor. So wurde im deutschen Wahlkampf 2009 die Vollbeschäftigung von links bis rechts als »nicht unrealistisches Ziel« bezeichnet, und auch die Schweiz richtet ihre Sozialpolitik immer noch am Ideal der Vollbeschäftigung aus. Diese Vorstellung mag zwar heute noch leitend sein für die Sozial-und Wirtschaftspolitik der EU und vieler europäischer Landesregierungen, dennoch verkennt er die aktuellen Entwicklungen. Vollbeschäftigung ist für die meisten Länder zu einer Utopie geworden.

Es sind nicht nur die konjunkturellen Schwankungen, die das Ziel einer Vollbeschäftigung als utopisch erscheinen lassen. Die Produktionsverschiebungen im Zusammenhang mit der Globalisierung haben dazu geführt, dass fast alle europäischen Länder heute eine gewisse Sockelarbeitslosigkeit aufweisen, die auch während konjunktureller Hochs nicht abgebaut werden kann. Ganze Bevölkerungsgruppen (unter anderem ältere Langzeitarbeitslose, Unqualifizierte und Menschen mit nicht konstanter Leistungsfähigkeit) haben heute kaum noch Chancen, wieder in den Erwerbsprozess im Ersten Arbeitsmarkt4, also in die freie Wirtschaft, aufgenommen zu werden. Dies hat nur zum einen mit der Produktionsverlagerung zu tun, die auch in Hochkonjunkturzeiten viele ungelernte Hilfskräfte arbeitslos macht. Zwei weitere Gründe sind viel gewichtiger: Erstens der Technologieschub der letzten Jahre, der dazu geführt hat, dass die fachlichen Anforderungen an die Arbeitnehmer deutlich gestiegen sind. Es gibt markant weniger Stellen für ungelernte Arbeitskräfte als noch vor einigen Jahren, und selbst von Hilfskräften werden immer häufiger auch Computerkenntnisse gefordert. Als zweiter Grund ist der deutlich erhöhte Druck am Arbeitsplatz zu nennen. In den letzten 15 Jahren haben unzählige Reorganisationen stattgefunden, im Zuge derer jede einzelne Stelle unter dem Blickwinkel der Rentabilität beurteilt wurde. Durch diese Umstrukturierungen, denen in den letzten Jahren nicht nur große Unternehmen, sondern auch die Verwaltung und nicht profitorientierte Unternehmen ausgesetzt waren, sind unzählige Nischenarbeitsplätze5 als nicht rentabel eingeschätzt worden und somit verschwunden. Wer die gestiegenen Leistungsanforderungen nicht mehr erfüllen konnte, verlor seine Stelle und hatte in der Regel große Mühe, wieder eine Beschäftigung zu finden.

Heute sind jedoch nicht nur die Arbeitsplätze von Schlechtqualifizierten bedroht. Gewissermaßen im Schatten der sozialpolitischen Hoffnung auf Vollbeschäftigung haben sich prekäre Arbeitsbedingungen verbreitet. So kennen paradoxerweise auch Länder mit einem vergleichsweise guten Arbeitnehmerschutz die Problematik der wachsenden Zahl von sozial schlecht abgesicherten Arbeitsplätzen. Dazu gehören die Leiharbeit sowie andere befristete Stellen oder die sogenannten Minijobs6 . In Deutschland beispielsweise beruhte das Jobwunder der letzten 15 Jahre hauptsächlich auf diesem Phänomen. In vielen europäischen Ländern ist eine Art Einkapselung der sozial abgesicherten Angestellten festzustellen, während rundherum die Anzahl der sozial schlecht abgesicherten Stellen, die flexibel auf-und abgebaut werden, massiv ansteigt. Nur noch knapp 70% aller deutschen Arbeitnehmenden arbeiten in unbefristeten Arbeitsverhältnissen.7

Prekäre Arbeitsverhältnisse gehören heute in vielen Ländern auch für junge Hochschulabsolventen zum Normalfall. In Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich hat sich in den letzten Jahren eine eigentliche »Generation Praktikum« herausgebildet, also ein ganzes Heer von jungen Leuten, die sich nach der Hochschulausbildung von einer befristeten und schlechtbezahlten Praktikumsstelle zur nächsten hangeln, in der Hoffnung auf einen definitiven Einstieg in die Berufswelt. Auch gegenüber jungen Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen zeichnet sich eine Abschottung der Stellenbesitzenden ab; besonders die Freien Berufe haben Regelungen geschaffen, die junge Leute in lange, schlechtbezahlte Praktikumsphasen zwingen, um die etablierten Freiberufler vor der jungen, frischausgebildeten Konkurrenz zu schützen.

Obschon der Begriff »Prekariat« zur Bezeichnung von sozial schlecht abgesicherten Arbeitenden erst seit einigen Jahren zum Wortschatz der Wissenschaft und der Medien gehört, gab es immer schon prekäre Arbeitsverhältnisse. Allerdings waren diese meist an den unteren Rändern der Gesellschaft zu finden, in der ungelernten Unterschicht, dem Taglohnproletariat. Heute sind diese Ränder überall, selbst die Zugehörigkeit zur Mittel- oder Oberschicht schützt nicht mehr vor unstabilen Arbeitssituationen.

Dieser Umstand hat Auswirkungen von großer volkswirtschaftlicher Tragweite, denn unsere Sozialversicherungssysteme fußen auf der Vorstellung einer relativ stabilen Wirtschaft, in der jeder seinen mehr oder weniger sicheren Platz hat. Die Arbeitgeber haben zwischen den 1880er und 1980er Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Beschäftigung zu stabilisieren, und sie waren in diesem Bestreben so erfolgreich, dass wir erst wieder lernen müssen, dass die relative Stabilität in der Zeit des Nachkriegswirtschaftswunders die Ausnahme und nicht die Regel war. Ungeachtet dieser Tatsache wurden die sozialen Sicherungssysteme in der sozialen Marktwirtschaft auf stabile Wirtschaftsmodelle hin ausgelegt. In den letzten 30 Jahren ist diese Stabilität jedoch so stark erodiert, dass die Vorstellung, das Leben und die berufliche Karriere planen zu können, für breite Bevölkerungskreise ins Wanken geraten ist. Die Idee einer lebenslangen Anstellung im selben Betrieb – für die Generation unserer Väter noch eine Selbstverständlichkeit – ist in den Hintergrund getreten, Laufbahnen ohne Brüche und Lücken werden seltener. Die Sozialversicherungssysteme versuchen hier aufzufangen, was möglich ist. Sie stoßen jedoch an ihre finanziellen Grenzen, da sie auf stabile Wirtschaftssysteme mit kurzfristigen Ausfällen ausgerichtet sind. Langfristige Abkoppelungen von ganzen Bevölkerungsschichten vom Arbeitsmarkt können sie finanziell nicht verkraften. Hinzu kommt, dass die einzelnen Sicherungssysteme kaum miteinander vernetzt sind; dadurch entstehen kostspielige Paralleladministrationen, die rasche zielorientierte Maßnahmen erschweren.

Vor dem Umstand massenhafter und langfristiger Arbeitslosigkeit müssen die sozialen Sicherungssysteme, wie wir sie heute kennen, kapitulieren. Seit einigen Jahren sind in ganz Europa Bestrebungen im Gang, die Leistungen der Sozialversicherungssysteme zu reduzieren, die finanziellen Absicherungen im Falle längerer Arbeitslosigkeit zu senken und die Unterstützungszeiträume kürzer zu gestalten, um damit Kosten zu sparen.

In der Schweiz ist diese Entwicklung erst im Ansatz spürbar. Hierzulande kennt man die in Deutschland zu beobachtende Entwicklung der Einkapselung der sozial sehr gut abgesicherten Arbeitsplätze in einem Meer von kaum abgesicherter Arbeit weniger. Der Kündigungsschutz ist auch für Tariflohnbeschäftigte (Beschäftigte, die unter einem Gesamtarbeitsvertrag stehen) deutlich schwächer ausgebaut als in Deutschland, Beschäftigungsgarantien sind wenig verbreitet. Wer eine Stelle hat, kann diese auch wieder verlieren. Selbst Anstellungen im öffentlichen Dienst sind beidseitig kündbar, Beamtenstellen auf Lebenszeit gibt es nicht mehr. Die Kündigungsfrist beträgt in der Regel zwei bis sechs Monate. Die Schweiz kennt weniger soziale Absicherung zum Erhalt eines Arbeitsplatzes als Deutschland, zudem ist das Gefälle der sozialen Sicherung zwischen den verschiedenen Anstellungsformen deutlich geringer.

Die Gründe für diesen markanten Unterschied liegen in der Geschichte. Während die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise wenig mit Beschäftigungseinbrüchen zu kämpfen hatte und immer wieder lange Perioden der Vollbeschäftigung kannte, war Deutschland mit massiven Arbeitslosenwellen konfrontiert. Drohende Arbeitslosigkeit war viel bestimmender für die deutsche Sozialpolitik als für die schweizerische: Die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts brachten den ersten markanten Einbruch in der Folge der Ölkrise. Es folgten die konjunkturell eher schwachen 80er Jahre und ab den 90er Jahren die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Während die sozialistische Wirtschaft in der ehemaligen DDR fast gänzlich zusammenbrach, blieb die ostdeutsche Arbeitskultur deutlich länger bestehen. In der DDR gab es 40 Jahre lang eine staatlich gelenkte Vollbeschäftigung. Nach dem Zusammenbruch des Staates erfolgte ein abrupter Wechsel in die westliche Leistungsgesellschaft mit hoher Arbeitslosigkeit. Im wiedervereinigten Deutschland trafen also zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander. Die Regierung war jedoch entschlossen, an den sozialen Errungenschaften der BRD grundsätzlich festzuhalten. Sie hatte sich nicht nur für eine Währungs- und Wirtschaftsunion entschieden, sondern auch für eine Sozialunion. Dies, obwohl damals schon abzusehen war, dass dieser Entscheid die sozialen Sicherungssysteme überlasten würde. Allerdings folgten rasch Leistungskürzungen, um die Kosten in den Griff zu bekommen.

 

In Deutschland hat sich eine soziale Absicherung der Arbeit erhalten, die sehr ungleichmäßig erodiert ist; unkündbare Lebensstellen und Beschäftigungsgarantien charakterisieren das System ebenso wie Minijobs, Ein-Euro-Jobs, Zeit- und Leiharbeit. Für die Gewerkschaften bilden unkündbare Lebensstellen und Beschäftigungsgarantien immer noch wichtige Ziele ihrer Politik, während die Entwicklung und auch die Chancen für mehr Durchlässigkeit und Perspektiven in der Erwerbsarbeit ganz woanders liegen. 2006 wandte Deutschland etwa ein Drittel seines Bruttoinlandproduktes für Sozialleistungen auf, und die Ausgaben sind in den letzten Jahren trotz aller Reformen und Sparbemühungen markant gestiegen.8

Seit dem Ersten Weltkrieg sind in Europa die Sozialstaaten stark auf- und ausgebaut worden. Strukturelle Risiken der Armut wurden mit Sozialleistungen abgefedert; so wurden beispielsweise in den meisten europäischen Staaten für Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Invalidität staatliche Absicherungen geschaffen, die sich bislang als recht tragfähig erwiesen haben. Gut ausgebaute Wohlfahrts- und Sozialleistungen und ein vergleichsweise tiefes Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich sind seither zum wichtigsten Merkmal der europäischen Länder geworden. Dies mag uns Europäerinnen und Europäern nicht immer als Vorteil erscheinen, denn die hohen Sozialleistungen, die mit hohen Sozialabgaben auf den Löhnen verbunden wurden, sind in den letzten Jahren oft verantwortlich gemacht worden für Firmenschließungen und Produktionsverlagerungen nach Osteuropa oder Asien, wo sowohl Lohnnebenkosten als auch Steuern deutlich tiefer liegen. Der Ruf nach mehr Deregulierung wurde lauter, und es schien, als ob die sozialen Abfederungen der Marktwirtschaft schuld wären an den globalisierungsbedingten Verschiebungen. Dabei ist der Umstand in Vergessenheit geraten, dass das europäische Modell der Sozialversicherungssysteme zwar bei Weitem nicht optimal ist, die soziale Absicherung jedoch eine Stärke Europas darstellt, an der es anzuknüpfen gilt. Soziale Sicherungssysteme sind nie perfekt. Sie müssen laufend den wechselnden gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden; und es ist wichtig, sie so auszugestalten, dass für Menschen, die an den Rand gedrängt werden, wieder Möglichkeiten und Handlungsperspektiven entstehen. Denn: Undurchlässige Systeme und starre Abgrenzungen zwischen Stellenbesitzenden und Arbeitslosen bergen nicht nur ein enormes politisches Konfliktpotential, sie blockieren auch die Innovationskraft und die Lebendigkeit einer Gesellschaft.

Die Schweiz wird von der aktuellen Wirtschaftskrise in Folge der Subprime Crisis in den USA nach einer Phase mit einer Arbeitslosigkeit von unter 2% getroffen. Die Krise erschüttert auf der Arbeits- und Wohlstandsinsel Schweiz nicht nur den Konsumgütersektor, sondern trifft den bisherigen Kern der Prosperität, den Finanzdienstleistungssektor, empfindlich. Es zeigt sich, dass auch Stellen in der scheinbar so sicheren und bislang hochangesehenen Bankenwelt, die vorzügliche Karrieremöglichkeiten und höchste Löhne bot, plötzlich bedroht sind. Das Prekariat in Form einer ungewissen Arbeitsstelle ist auch in der Schweiz angekommen; Manager, Banken- und Versicherungsangestellte sind davon ebenso betroffen wie Hilfsarbeiter, Langzeiterwerbslose, Bauhandwerker oder allein erziehende Mütter. Es sieht so aus, als ob die Einkommenssicherung durch Vollbeschäftigung auch in der Schweiz, die tatsächlich Jahrzehnte der Vollbeschäftigung kannte, in Zukunft vollends aus dem Bereich des Möglichen fällt.

Diese Entwicklung verunsichert auch die politisch Verantwortlichen: Es ist viel Ratlosigkeit und Aktivismus im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu spüren. Die Aufgeregtheit vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es wenige zukunftstaugliche Modelle für die Arbeitsintegration gibt. Mehr vom Gleichen ist zu teuer und die Integrationswirkung des bisherigen Modellcocktails ist umstritten. Verschiedene Untersuchungen in Deutschland und in der Schweiz belegen, dass gutausgebildete jüngere Arbeitslose recht gute Chancen haben, wieder eine Stelle zu finden. Schwieriger ist die Situation für die Gruppe der kaum beruflich qualifizierten und der älteren Arbeitnehmer. Berufliche Qualifikation kann nur sehr schlecht nachgeholt werden; auch sehr teure Umschulungsprogramme oder Praktika zeigen oft nicht die gewünschte Wirkung.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat in der Arbeitsintegration spielen soll. Während linke und gewerkschaftliche Kreise in Deutschland Sozialpolitik in Form einer klassenkämpferischen Anspruchshaltung betreiben, die sich an der Idee eines grundsätzlich einklagbaren Rechts auf Arbeit beziehungsweise auf einen Arbeitsplatz orientiert, greifen konservative und liberale Politiker zu Begriffen wie mehr Eigenverantwortung, Anreizsysteme und Leistungsförderung. In der Schweiz werden die linken Positionen etwas weniger heftig vertreten, der Ton ist versöhnlicher, und Themen wie Arbeitsplatzgarantien und Kündigungsschutz werden nicht so vordringlich diskutiert wie in Deutschland. Dennoch wird auch in der schweizerischen Sozialpolitik versucht, mit den sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepten des 20. Jahrhunderts politische Lösungen für das 21. Jahrhundert zu finden. Dies hat immer wieder zu unbefriedigenden politischen Entscheidungen geführt. So wurden etwa die Leistungen der Arbeitslosenversicherung etwas reduziert, oder die Verpflichtung, Beschäftigungsmaßnahmen für Sozialhilfebeziehende zu schaffen, in schweizweit gültige Richtlinien eingeschrieben. Diese Maßnahmen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass keine nachhaltigen Lösungen in Sicht sind für die anstehenden sozialpolitischen Probleme, die sich darin zeigen, dass alle Sozialversicherungen mit Überlastungen zu kämpfen haben, die ihre Finanzierung schon mittelfristig in Frage stellen.

Eines steht fest: Wir können uns den Sozialstaat, wie er im 20. Jahrhundert angedacht war, nicht mehr länger leisten. Es stellt sich daher die drängende Frage, was für einen Sozialstaat wir in Zukunft wollen, welche Rolle die Bürger in diesem Sozialstaat spielen sollen, wie die Aufgaben zwischen den leistungsfähigeren und leistungsschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft verteilt werden sollen und was mit der wachsenden Zahl von Menschen geschieht, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Arbeit in der freien Wirtschaft verdienen können, weil sie wahrscheinlich keine Stelle mehr finden.

Die Schere: Vermehrung der arbeitsfreien Einkommensquellen für die einen, nichts als prekäre Arbeit für die anderen

In allen EU-Ländern, wie auch in der Schweiz, sind die sozialen Sicherungssysteme immer noch eng an die Erwerbsarbeit geknüpft. Dies ungeachtet der Tatsache, dass eine steigende Zahl von Menschen in den letzten Jahren andere Einkommensquellen erschlossen hat. Diese kennen keine Sozialabgaben, oft sind sie sogar steuerfrei, denn die Chance wurde verpasst, die sozialen Sicherungssysteme breiter abzustützen. Es gab zwar in Europa einige Vorstöße, die versucht haben, Steuern auf diese Geldquellen zu erheben; die Sozialwerke finanzieren sich jedoch immer noch fast ausschließlich über Lohnprozente.

In einer Art der Sozialpolitik vorauseilenden Anpassungsleistung haben viele Menschen ihre Einkommenssicherung diversifiziert. Heute droht ob der vielen Klagen über die Krise vergessen zu gehen, wie erfolgreich diese Strategien für viele Menschen waren. Der individuelle Versuch, das Erwerbseinkommen durch andere Einkommensquellen abzusichern oder aufzustocken, ist in den letzten Jahren zu einem eigentlichen Trend geworden. Am oberen Ende der Sozialskala ist diese Entwicklung ebenso deutlich ablesbar wie am unteren Ende. Im Finanzsektor, wo traditionell gut bis sehr gut verdient wird, sind die Löhne mit hohen Bonuszahlungen aufgestockt worden, was teilweise dazu führte, dass die Höhe des Einkommens nicht mehr mit einer Leistung zu korrelieren war. Dies führte zu grotesken Einkommensverzerrungen zwischen den Angestellten der kleinen und mittleren Unternehmen, die in vielen Ländern Europas die Wirtschaft prägen, und den Mitarbeitern von Finanzdienstleistungs- und anderen Großunternehmen. Diese Entwicklung hat gerade in wirtschaftsnahen Kreisen politische Gräben und Entfremdungen geschaffen, die noch zu wenig Beachtung gefunden haben.

Eine zweite Quelle bildeten die hohen Einkommen aus Kapitalgewinnen; »Aktiensparen«, wie das Geldverdienen durch Börsenspekulation etwas irreführend genannt wird. Dieses erfreut sich gerade in höheren Einkommensklassen in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit. Hinzu kam eine dritte sprudelnde Geldquelle, die besonders in den oberen Einkommensschichten zu einem massiven Einkommens- und Vermögenszuwachs führte: die Erbschaften. Die Zahl derjenigen, die ihr Arbeitseinkommen mit beträchtlichen Erbschaften aufstocken konnten, ist in den letzen Jahren in den reicheren Ländern Europas markant gestiegen. Das Ausmaß und die Anzahl der Erbschaften sind in den europäischen Industrieländern seit den 1990er Jahren in eine bis dahin ungekannte Höhe geschnellt, zudem sind vorgezogene Erbschaften zum Normalfall geworden. Allein in der Schweiz wurden im Jahr 2000 35 Milliarden CHF (rund 23 Milliarden EUR9 ) vererbt, das sind rund zehnmal mehr als die Gesamtkosten für die Sozialhilfe.10

Während in den oberen Einkommensligen Schwankungen der Zusatzeinkommen zum Risiko gehören und dank der hohen Erwerbseinkommen auch ausgesessen werden können, sind Menschen mit tieferem Erwerbseinkommen auf stabilere und kontinuierlichere Einkommen angewiesen. Außerdem können sie die Zusatzeinkommen der oberen Lohnklassen meist gar nicht nutzen. So gibt es meist nur wenige oder sehr kleine strikt gewinn- und somit konjunkturabhängige Boni für niedrige Einkommensstufen. Wer wenig verdient, hat statistisch eine weitaus geringere Chance auf eine Erbschaft als jemand, der gut verdient. Arbeitnehmende mit niedrigen Einkommen können auch nicht das Geld für sich arbeiten lassen; für das Aktiensparen fehlt ihnen häufig nur schon das Startkapital. Naturgemäß müssen sich Arbeitnehmende aus tieferen Lohnklassen meist mit einer Absicherung ihres Arbeitseinkommens begnügen. Aufstocken können sie es nur, wenn es ihnen gelingt, noch eine Zusatzbeschäftigung zu finden. Allerdings schaffen es nur die stärksten und engagiertesten Geringverdiener, über längere Zeit zwei Stellen zu bekleiden. Menschen, die mit den wachsenden Anforderungen der Erwerbswelt nicht mithalten können, haben diese Möglichkeit nicht. Sie werden oft mehrmals im Leben entlassen; und selbst wenn sie sich nach jeder Kündigung wieder mit voller Kraft für einen neuen Arbeitsplatz engagieren, wird die Hürde zur Wiederbeschäftigung mit jedem Mal höher. In vielen Fällen helfen jedoch auch größte Anstrengungen nicht mehr, da die Voraussetzungen für eine Stelle nicht mehr erfüllt werden können. Selbst für Hilfsarbeiter ist das Anforderungsprofil gestiegen. Neben körperliche Belastbarkeit und Zuverlässigkeit tritt die Anforderung der Flexibilität und der ständigen Lernbereitschaft.

Diese Gründe führen dazu, dass Personen mit Leistungsschwankungen oder schwächere Arbeitnehmende über Jahre hinweg ohne Erwerbsarbeit bleiben. Sie müssen damit rechnen, dass sie zu Sockelarbeitslosen werden, die kaum mehr Chancen haben, je wieder eine Stelle im Ersten Arbeitsmarkt zu finden. So ist es denn verständlich, dass sie versuchen, eine zusätzliche Absicherung für ihren Lebensunterhalt zu bekommen, und über eine Sozialversicherung an eine Rente gelangen möchten, die ihnen ein garantiertes regelmäßiges Einkommen beschert und sie von der meist aussichtslosen und frustrierenden Stellensuche entlastet.

Hier haben jedoch die Sozialversicherungen, die in der Schweiz Renten oder Taggelder zahlen an Personen, die aus arbeitsmarktlichen, körperlichen oder psychischen Gründen nicht mehr oder nicht mehr voll erwerbstätig sein können, einen Riegel geschoben. Für schwer Vermittelbare ist es aufgrund verschiedener Gesetzesrevisionen erheblich schwieriger geworden, zumindest vorübergehend mit Taggeldern der Arbeitslosenversicherung oder auf Dauer mit einer Rente der Invalidenversicherung (IV) aufgefangen zu werden.

 

Seit dem Jahr 2003 ist in der Schweiz die Zahl der Neurenten bei der IV um ein Drittel zurückgegangen. Die IV-Gesetzesrevision, die 2008 in Kraft getreten ist, wird diesen prohibitiven Prozess weiter verstärken. Die Sozialhilfe wird so für immer mehr Menschen zum langfristigen Auffangnetz. Die Gesamtkosten für soziale Sicherheit betrugen 2007 in der Schweiz rund 138 Milliarden CHF (rund 90 Milliarden EUR). Davon machen die Kosten für die Sozialhilfe nur einen Bruchteil, nämlich rund 3,2 Milliarden CHF (rund 2,1 Milliarden EUR), aus.11 Die Kosten sind jedoch deutlich steigend, und sie bestimmen die sozialpolitische Debatte stets von neuem. Die Sozialhilfe ist in der Schweiz als vorübergehende subsidiäre finanzielle Hilfe in Notlagen eingeführt worden. Die aktuelle Entwicklung geht jedoch in eine andere Richtung: Für immer mehr Menschen wird die Notlage zur Dauersituation. Obwohl viele konjunkturabhängig immer wieder einen Einstieg ins Erwerbsleben finden, bleibt ein Sockel zurück, eine wachsende Gruppe von Menschen, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. In den schweizerischen Arbeitslosenstatistiken werden diese Personen nicht mitgezählt, da sie keinen Versicherungsschutz durch die Arbeitslosenversicherung mehr genießen. Gemäß der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) werden jährlich rund 250 000 Personen durch finanzielle Leistungen der Sozialhilfe vor Armut bewahrt, darunter eine große Anzahl Kinder und Jugendliche. Wenn man davon ausgeht, dass rund ein Drittel dieser Personen erwerbsfähig ist, aber keine Stelle mehr im Ersten Arbeitsmarkt bekommt, dann gibt es im Moment circa 83000 Personen in der Schweiz, die zumindest teilerwerbsfähig sind und die durch das soziale Hilfssystem in der Schweiz meist zur Untätigkeit verdammt sind.

Die Invalidenversicherung hat im Jahr 2007 rund 11,7 Milliarden CHF (rund 7,7 Milliarden EUR) für die Absicherung der Erwerbsunfähigkeit in Folge einer Invalidität ausgegeben. Im Januar 2008 wurden 295 000 Renten ausbezahlt. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl der Schweiz bedeutet dies, dass 5,3% aller Einwohner im erwerbsfähigen Alter eine IV-Rente beziehen.12 Die Arbeitslosenquote beträgt 3,5%, und etwa 4% sind ausgesteuert und leben von den Geldern der Sozialhilfe. Zusammengezählt kann man also auch in der Schweiz davon ausgehen, dass deutlich über 10% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.

In Deutschland betrug die Arbeitslosenquote im Januar 2009 8,3%, also rund 3,8 Millionen Personen, dazu kommen über sieben Millionen Personen, die über Hartz IV finanzielle Unterstützung erhalten.13 In den EU-Ländern lebten 2004 rund 100 Millionen Arme, also Menschen mit einem Einkommen, das weniger als 60% des europäischen Durchschnittseinkommens beträgt. Diese Zahl umfasst 22% der Gesamtbevölkerung der EU. Die Armut ist in der EU zwar hauptsächlich in den neuen Beitrittsländern wie Polen oder Estland vordringlich, aber auch in Deutschland leben 13% aller europäischen Armen, deutlich mehr als in Großbritannien, Spanien oder Frankreich. Armutsbedrohung korreliert stark mit Erwerbseinschränkungen, so ist laut der europäischen Armutsstudie in allen europäischen Ländern die Armutsbedrohung in vier Bevölkerungsgruppen am größten:

— Alleinerziehende im erwerbsfähigen Alter

— alleinstehende, nicht erwerbstätige Personen über 65 Jahren

— allein lebende Arbeitslose

— Familien mit nur einer erwerbstätigen Person.

Der Staat kann es sich nicht leisten, Arbeitslosigkeit nur zu verwalten

Die sozialpolitischen Systeme der europäischen Staaten haben sich national recht unterschiedlich entwickelt, und die Wissenschaftler sind sich noch uneinig, welche Typeneinteilung der verschiedenen Ausprägungen der Sozialstaaten in Europa wirklich zutreffend ist. Generell kann man sagen, dass sich entlang der drei wichtigsten politischen Strömungen auch drei Typologien von Wohlfahrtssystemen herausgebildet haben. So gibt es sozialdemokratisch, liberal und konservativ geprägte Systeme, die von unzähligen nationalen und historischen Eigenheiten des jeweiligen Landes spezifisch überformt wurden. Die europäischen Wohlfahrtssysteme entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrer Blüte. Bis zur Mitte der 1970er Jahre kann man in Westeuropa von einem goldenen Zeitalter der Wohlfahrtsstaaten sprechen. Unzählige soziale Absicherungen wurden eingeführt, diversifiziert, ausgebaut, gesetzlich verankert und allgemein zugänglich gemacht. Nach den Entbehrungen und Schrecken des Zweiten Weltkriegs sollten die Sicherungssysteme soziale Risiken wie Alter, Armut, Krankheit, Unfallfolgen oder Arbeitslosigkeit finanziell mildern.

Gerade im Bereich der Arbeitslosigkeit zeigte sich jedoch, dass eine finanzielle Abfederung allein nicht genügte. Eine Stelle zu haben heißt auch, an regelmäßigen Sozialkontakten und menschlichem Austausch teilzuhaben. Vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden bedeutet somit auch, von der Gesellschaft ein Stück weit ausgeschlossen zu sein. Die meisten sozialen Beziehungen laufen über den Arbeitsplatz; wer keine Arbeit hat, hat meist auch einen eingeschränkten Kreis an Sozialkontakten. Gerade bei Personen, die nicht in einem Familienverband leben, gehen Einsamkeit und Arbeitslosigkeit oft Hand in Hand. Soziale Vereinsamung führt häufig zu Krankheiten oder unkontrolliertem Suchtverhalten. Damit sind nicht nur viel persönliches Elend, sondern auch massive Folgekosten verbunden.

In unzähligen Studien wird aufgezeigt, dass es ungleich billiger ist, Arbeitsintegrationsmaßnahmen bereitzustellen, als für die sozialen und finanziellen Folgen von Ausgrenzungen aus dem Arbeitsmarkt aufzukommen. Ein Rechenbeispiel mag zeigen, was damit gemeint ist: Ein Mann in den mittleren Jahren schaffte es nicht mehr, seine Leistungsfähigkeit den steigenden Anforderungen des Betriebes anzupassen. Ein Teil seiner bisherigen Tätigkeiten wurde automatisiert, und dennoch konnte der Arbeitgeber rund 1000 CHF (rund 655 EUR) weniger Ertrag generieren, als er für Lohn und Arbeitsplatz aufwenden musste. Kurz: Der Mitarbeiter wurde entlassen, die Abteilung neu organisiert.

Es gelang dem Mann nicht mehr, eine neue Stelle zu finden. Nachdem er zwei Jahre lang 75% seines letzten Lohnes über die Arbeitslosenversicherung bekommen hatte, wurde er ausgesteuert und Teil der Gruppe der über 200 000 ausgesteuerten Langzeitarbeitslosen, die von der Sozialhilfe leben müssen. Für seine vierköpfige Familie bekommt der Mann rund 2000 CHF (rund 1315 EUR) Grundbedarf pro Monat plus 1500 CHF (rund 985 EUR) für die Wohnungsmiete. Die lange Arbeitslosigkeit hat dem Mann psychisch stark zugesetzt, er musste sich in psychotherapeutische Behandlung begeben; diese kostet monatlich zusätzlich rund 1000 CHF (rund 655 EUR), die sich die Krankenkasse und die Sozialhilfe teilen.

Der Fall dieses Mannes kostet die Allgemeinheit heute rund 4500 CHF (rund 2955 EUR) pro Monat; das ist bedeutend mehr als der Fehlbetrag von 1000 CHF (rund 655 EUR), der bei seinem Arbeitgeber bestand und zu seiner Kündigung führte. In den drei Jahren seit seiner Kündigung sind Kosten im Umfang von fast 180 000 CHF (rund 118 000 EUR) aufgelaufen. Wenn sich seine Frau von ihm trennt, müssen zwei Haushalte unterhalten werden, und die Kosten für die Sozialhilfe steigen nochmals kräftig an. Wenn wir davon ausgehen, dass der mittlerweile 54-jährige Mann wahrscheinlich keine Stelle im Ersten Arbeitsmarkt mehr findet, so wird allein die Sozialhilfe bis zu seinem Pensionsalter über 500000 CHF (rund 328000 EUR) kosten. Danach werden Zusatzleistungen zur Altersrente nötig sein, da die Rente und die verbliebene Pensionskasse für ein existenzsicherndes Einkommen im Alter nicht reichen werden. In diesem Beispiel sind keine negativen Nebenwirkungen auf die beiden Kinder einkalkuliert, die durch die Langzeitarbeitslosigkeit ihres Vaters und die damit verbundenen familiären Probleme auch mitbetroffen sind. Es ist zu erwarten, dass sie sich mit schulischen Schwierigkeiten auseinandersetzen müssen und dafür zusätzliche Unterstützung benötigen.

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