Gommer Sommer

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Aus der Reihe: Ein Fall für Kauz #1
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Kaspar Wolfensberger

Gommer Sommer

Der erste Fall für Kauz

Kriminalroman

Kampa

Die Handlung dieses Romans ist reine Fiktion. Alle in der Erzählung auftretenden Figuren, auch wenn sie ortstypische Namen tragen, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und wahren Begebenheiten wären rein zufällig.

Einzelne Gebäude, Örtlichkeiten und Flurnamen, denen im Rahmen dieser Kriminalgeschichte eine Bedeutung zukommt, sind realen Objekten, Orten und Bezeichnungen im Goms nachempfunden, existieren in der beschriebenen Form jedoch nicht.

Prolog Gommer Sommer

Noch nicht ganz sechs Uhr in der Früh, ein neuer Tag bricht an. Über der Furka beginnt es golden zu leuchten. Wie Scherenschnitte heben sich die schwarzen Bergzacken vor dem heller werdenden Himmel ab. Ein erster Sonnenstrahl trifft auf den Gipfel des Brudelhorns. Gegenüber, hoch über dem Minstigertal, glänzen die Felswände im Morgenlicht. Im Westen, hinter dem nächsten Dorf, steht weiß auf grüner Matte die Feldkapelle. In der Ferne, im milchigen Rosarot des Morgens, das mächtige Weisshorn. Eine Nebelbank liegt über dem Rotten. Die Lärchen und Fichten an den Berghängen ruhen noch im Schatten. Aufrecht, stoisch und friedlich. Die Morgenluft ist frisch und rein. Tautropfen hängen an Blättern und Halmen. Es riecht nach dem am Vorabend gemähten Gras. In der Ferne tönen vereinzelte Kuhglocken. Vögel zwitschern in die Morgenstille hinein.

Die zwei Männer auf dem Parkplatz neben den Bahngleisen haben weder Augen noch Ohren für die Schönheit der Landschaft. Der Große flüstert in sein Handy, steckt es wieder ein, drückt dann lautlos die Beifahrertür zu. Die beiden ziehen los, der Kleine immer einen Schritt voraus. Sie sind wärmer angezogen als es, selbst zu dieser kühlen Morgenstunde, nötig wäre: dicke Jacken, Halstuch, Handschuhe. Der Große trägt einen Schlapphut, der Kleine eine Langläufermütze tief ins Gesicht gezogen. Bei einem Speicher am Dorfrand bleiben sie stehen und gehen in Deckung. Der Kleine steht an der Stallecke, Gasse und Speicher immer im Auge. Der Große lehnt sich gegen die Seitenwand des Nachbarstadels gegenüber und zündet in der hohlen Hand eine Zigarette an. Sie warten schweigend. Eine Viertelstunde später erscheint auf der Gasse ein dritter Mann. Seiner Kleidung nach ein Bauer auf dem Weg in den Stall oder aufs Feld. Er trägt eine papierene Einkaufstasche mit dem Schriftzug des Dorfladens. Vor dem Speicher stellt er die Tasche ab und zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche. Er schreckt hoch, als der Mann mit der Skimütze von hinten an ihn herantritt. Der hebt entschuldigend die Hände. Der Bauer lacht, sagt etwas und macht eine Kopfbewegung Richtung Tür. Der Skimützenmann hebt die Schultern und nickt. Der Bauer stößt die Tür auf und lässt den Mann eintreten. Bedächtig greift er nach der Einkaufstasche. Der Große mit dem Schlapphut hat seine Zigarette weggeworfen und ist mit ein paar raschen Schritten bei der Tür. Er drängt den Bauern in den Speicher hinein und stößt mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Kaum zwanzig Minuten später kommen die zwei Männer wieder aus der Speichertür, knöpfen eilig ihre Jacken zu und hasten zum Parkplatz. Sie steigen in ihren Pick-up und brausen davon.

Das Dorf erwacht.

Freitag, 30. Juni

Kauz war schon in Ferienstimmung. Zu Hause in Altstetten stand alles für die Abreise bereit. Auf acht Uhr fünfzehn war er zu seiner obersten Chefin zitiert worden, Punkt Viertel nach acht klopfte er an. Er war darauf gefasst, einen Rüffel, vielleicht sogar einen Verweis einstecken zu müssen. Was dann kam, darauf war er nicht gefasst gewesen.

Die Kommandantin, Frau van Hooch, empfing ihn im Stehen. Sulzer, Leiter der Human Resources, und Senn, Chef der Kriminalpolizei, sein direkter Vorgesetzter, standen neben ihr.

Kauz wurde es mulmig.

Mit eiskalter Miene stellte Frau van Hooch ihn vor die Wahl, in den administrativen Dienst versetzt zu werden oder das Arbeitsverhältnis im gegenseitigen Einverständnis mit sofortiger Wirkung aufzulösen.

Frau Dr. iur. Doris van Hooch, patentierte Rechtsanwältin, ohne jegliche Praxis in diesem Beruf, dafür aber mit einem Master of Business Administration dekoriert und Absolventin eines postdoktoralen universitären Lehrgangs in Applied Ethics, war einst die umstrittene, um nicht zu sagen berüchtigte Reorganisatorin im Volksschulamt gewesen. Seit einem Jahr war sie nun Kommandantin der Zürcher Kantonspolizei. Der graue Businessanzug saß perfekt. Sie war makellos geschminkt, das stylish getönte Haar war flott geföhnt.

Die Vertrauensbasis für eine weitere Zusammenarbeit sei nicht mehr gegeben, eröffnete Frau van Hooch ihm knapp.

Nicht mehr gegeben?, dachte Kauz. Gar nie vorhanden gewesen!

Dass er seine Mitarbeiter gegen sie aufwiegle, fuhr Frau van Hooch fort, könne sie nicht weiter hinnehmen.

In der Tat, Kauz hatte seine neue oberste Chefin nie riechen können. Und er hatte kein Hehl daraus gemacht, was er von ihrer hektischen, von einem McKinsey-Team am Reißbrett ausgeheckten Reorganisation des Polizeikorps hielt. Ohne die Meinung der gestandenen Polizistinnen und Polizisten, Dienstchefs und Offiziere auch nur anzuhören, ohne auf Einwände und Bedenken einzugehen, hatte sie wie ein Wirbelwind das ganze Korps auf den Kopf gestellt. Was sich irgendwie umstrukturieren ließ, wurde umstrukturiert. Bewährtes wurde über den Haufen geworfen, Neues mit großen Worten angekündigt und ohne Rücksicht auf Verluste implementiert. So lautete das Lieblingswort der Kommandantin. Titel, Diplome und CAS zählten mit einem Mal mehr als persönliche Eignung und Berufserfahrung. Die meisten kuschten oder machten die Faust im Sack. Fast alle hatten Familie und konnten es sich nicht leisten, ihren Job zu riskieren. Denn die Kommandantin hatte die Rückendeckung der neu gewählten Regierungsrätin, von der sie auf den Posten gehievt worden war. Aber Kauz hatte den Mund nicht halten können. Frau van Hooch hatte von Insubordination gesprochen, als er sich einmal etwas gar weit aus dem Fenster lehnte, und absolute Loyalität gefordert. Dass Kauz dagegen protestierte, mit seinen Leuten in ein Großraumbüro umzuziehen, und dass einzelne von ihnen sich auch selber dagegen auflehnten, war für Frau van Hooch wohl schon Aufwiegelung. Dass Kauz sich jetzt rundweg weigerte, die Konsequenzen, die sein Protest nach sich zog, zu akzeptieren und Hals über Kopf in eine neue Abteilung zu wechseln, das hatte das Fass für die Kommandantin offenbar zum Überlaufen gebracht.

Und dann erst seine Arroganz, hörte er sie jetzt sagen, seine überhebliche Art … Kauz war, als rede sie hinter einer gläsernen Wand.

Da sie unmöglich mangelnde berufliche Leistung ins Feld führen konnte – er hatte als Kriminalpolizist und als Dienstchef stets nur erstklassige Qualifikationen erhalten –, deutete sie an, dass eine Disziplinaruntersuchung gegen ihn eingeleitet werde, sollte er den Dienst nicht freiwillig quittieren. Dabei werde man natürlich auch seine Spesenabrechnungen, seinen E-Mail-Verkehr und die Festplatte seines Computers unter die Lupe nehmen. Kauz wusste selbst am besten, dass bei einer solchen Nachforschung immer irgendetwas zum Vorschein kam, das sich notfalls aufbauschen und sogar strafrechtlich verfolgen ließ.

Doch er war durch und durch Polizist, der administrative Dienst kam für ihn nicht infrage. Für die Frühpensionierung war er noch zu jung. Und eine Privatdetektei, wie manche ehemaligen Polizisten sie betrieben, war nicht nach seinem Gusto. Zwar war er ein findiger Fahnder und hartnäckiger Kriminalpolizist, mit einer sehr respektablen Aufklärungsquote. Und er war gut vernetzt – keine schlechten Voraussetzungen für einen Privatdetektiv. Aber er wusste, dass er die Polizeiarbeit vermissen würde. Also hatte er darauf spekuliert, dass irgendwann schon offensichtlich würde, welches Chaos die neue Kommandantin im Korps anrichtete und wie demoralisierend sich ihr Führungsstil auswirkte. Er hatte gehofft, dass das Wochenblatt die Sache aufgreifen würde und Frau van Hooch schließlich den Dienst quittieren müsse. Aber da hatte er sich wohl verrechnet.

Kauz stand in verwaschenen Jeans, abgewetztem Kordjackett und kariertem Hemd vor seiner piekfeinen Kommandantin. Frisch rasiert konnte man ihn nicht nennen, und ein Haarschnitt war auch längst überfällig. Doch dass er selbst in dieser Situation einen leicht hochmütigen Blick hatte, dafür konnte er nichts. Er litt an einer genetisch bedingten Ptose, wie ein Augenarzt diagnostiziert hatte: Seine Oberlider hingen immer leicht über die Augen herab. Auch mit größter Anstrengung vermochte er sie nicht ganz zu öffnen. Das verlieh ihm den Ausdruck einer verschlafenen Eule, selbst wenn er hellwach war. Diese Mimik hatte ihm schon bei den Pfadfindern seinen Spitznamen eingetragen. Der war ihm geblieben, und seit er erwachsen war, trug er ihn fast mit Stolz. Und weil ihn jeder als »Kauz« kannte, sah man ihm sein etwas eigenwilliges Sozialverhalten nach. Da das Symptom nicht sehr ausgeprägt war, hatte es bei der Rekrutierung keine Probleme gegeben. Und bei der Aufnahme in die Polizeischule auch nicht. Er war sogar ein ganz leidlicher Pistolenschütze. Aber wenn er seinem Gegenüber in die Augen sehen wollte, musste er ein klein wenig den Kopf heben, damit ihm seine Lider nicht in die Quere kamen. So machte er, wenn man ihn nicht kannte, ganz ungewollt einen hochnäsigen Eindruck.

Kauz fühlte sich wie von der Kommandantin geohrfeigt.

»Das kommt jetzt etwas unerwartet«, murmelte er, »nach dreiunddreißig Dienstjahren. Sie …« Er hatte nicht die Absicht, auf Mitleid zu machen. Vielmehr wollte er darauf anspielen, dass Frau van Hooch gerade mal ein einziges Dienstjahr vorzuweisen hatte. Nur fand er im Schock die Worte nicht.

 

»Werden Sie jetzt nicht pathetisch, Herr Walpen«, unterbrach ihn die Kommandantin.

»Geben Sie her«, sagte Kauz abrupt, obschon er wusste, dass er sich hatte provozieren lassen und jetzt möglicherweise den größten Fehler seines Lebens beging. Er streckte die Hand aus.

Frau van Hooch nahm Sulzer das Papier aus der Hand, das der von Anfang an für sie bereitgehalten hatte, und reichte es Kauz.

Kauz las die vorbereitete Vereinbarung durch. Nur kurz ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er einen Rechtsanwalt nehmen und die aufgezwungene Entlassung anfechten müsste.

Dann unterschrieb er.

»Tut mir aufrichtig leid, Herr Walpen«, flüsterte Senn.

Frau van Hooch sah den Kripochef tadelnd an.

Feigling, dachte Kauz. Opportunist.

»Wenn Sie wünschen, können wir Ihnen ein Coaching vermitteln«, sülzte Sulzer.

»Wofür? Ich bin ja entlassen.«

»Nun, für die berufliche Neuorientierung. Sie sind siebenundfünfzig, da …«

»Das weiß ich selber«, fuhr Kauz ihn an.

Sulzer sah ihn bekümmert an. Dann gab er sich einen Ruck: »Sie machen aber keine Dummheiten, nicht wahr, Herr Walpen?«, hakte er nach.

Kauz warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Ach ja, wenn wir gerade dabei sind«, sagte Frau van Hooch. »Herr Senn wird Sie jetzt an Ihren Arbeitsplatz begleiten. Dort nimmt er Ihnen den Badge und Ihre Dienstwaffe ab.« Mit einer hochgezogenen Augenbraue unterstrich sie den unausgesprochenen Auftrag an Senn, allfällige Dummheiten zu verhindern. »Bis neun Uhr müssen Sie Ihren Platz geräumt haben«, fuhr sie fort. »Danach erlischt Ihre Zugangsberechtigung zum Kommando. Das wars, Herr Walpen. Ich wünsche Ihnen alles Gute«, schloss sie, ohne eine Miene zu verziehen.

So viel Selbstbeherrschung brachte Kauz nicht auf.

»Wissen Sie was?«, fragte er, und jetzt versuchte er tatsächlich, ein bisschen herablassend zu klingen, »ich werde weder mich selbst noch sonst jemanden über den Haufen schießen. Nun, Frau van Hooch, Menschenkenntnis war noch nie Ihre Stärke. Sie sind eben kein Polizist. Nie gewesen. Und von der Polizeiarbeit haben Sie keine blasse Ahnung. Das weiß hier jeder! Vielleicht sogar Sie selber. Ich wünsche dem Polizeikorps alles Gute.«

Damit steckte er die Kopie des unterzeichneten Entlassungspapiers ein und ließ sie stehen.

Seine Mitarbeiter scharten sich um ihn, als er im Büro erschien und unter Senns Augen seinen Arbeitsplatz zu räumen begann. Sie verstanden die Welt nicht mehr.

»Lasst das bloß bleiben!«, raunzte er, als einzelne ankündigten, sie würden bei der Kommandantin vorsprechen und gegen seine Entlassung protestieren. Er fürchtete, es könnte ihnen sonst auch an den Kragen gehen.

Am Freitag, den dreißigsten Juni, Schlag neun Uhr morgens, stand Kauz auf der Straße. Seiner Funktion als Dienstchef Leib und Leben bei der der Zürcher Kriminalpolizei enthoben, per Ende Jahr entlassen und mit sofortiger Wirkung freigestellt.

Es regnete in Strömen, wie schon seit Wochen. Vom Zürcher Regenwetter hatte Kauz die Nase nun so richtig voll. Er schlug den Mantelkragen hoch, packte seine pralle Aktenmappe, die Sport- und die Einkaufstasche, die ihm zwei Kolleginnen mit Tränen in den Augen geliehen hatten, um seine Siebensachen zu verstauen, und ging aufs Tram.

*

Der Einsatz war zu Ende, was jetzt folgte, war nur noch Bürokram. Auf dem Rückweg von Münster wies Polizeikorporal Ria Ritz den Aspiranten Benjamin Carlen an, den Streifenwagen vor der Bäckerei in Fiesch zu parken. Carlen blieb am Steuer sitzen. Ria Ritz, ihres Zeichens Postenchef in Fiesch – es wäre ihr nie eingefallen, sich als Postenchefin zu bezeichnen –, stieg aus. Sie holte drei frische Brötchen, zwei extra große für Carlen, dick mit Schinken bepackt, und eines mit Kräuterquark für sich selbst. Sie hatten beide noch nicht gefrühstückt. Es war mittlerweile halb zehn Uhr geworden, der Einsatz hatte alles in allem fast drei Stunden gedauert. Sie fuhren zum Polizeiposten, setzten sich an ihre Arbeitsplätze, machten Kaffee und bissen in ihre Brötchen.

Eigentlich wäre die mobile Patrouille für diesen Einsatz zuständig gewesen, aber die war zu einem schweren Carunfall im Pfynwald gerufen worden. Ria hatte Pikettdienst gehabt. Sie war um halb sieben schon auf gewesen, hatte Benjamin per Handy aus den Federn geholt, sich in die Uniform gestürzt und war in ihrem Familienauto zum Posten gefahren.

Benjamin Carlen saß schon im Streifenwagen, als sie dort ankam, stellte Blaulicht und Sirene an und fuhr los. Mitten in der Ausbildung zum Gendarmen – so lautete die offizielle Bezeichnung – absolvierte er ein Praktikum auf dem Posten Fiesch. Als sportlicher Autofahrer war er ganz erpicht auf solche Einsätze. Er liebe Action – Äggschn –, sagte er bei jeder Gelegenheit.

»Schwerverletzter in Münster, mitten im Dorf«, sagte Ria Ritz knapp. »Verkehrsunfall. Vom Unfallfahrzeug keine Spur. Fahrerflucht.«

»Okay, Chef, dann mal Äggschn«, meinte der junge Polizeiaspirant erfreut und fuhr rassig, aber kontrolliert die engen Kurven hinauf.

Korporal Ria Ritz überlegte: Mit Blaulicht dauerte die Fahrt von Fiesch nach Münster zwölf Minuten. Der Zeitpunkt des Unfalls lag bestimmt länger zurück. Wenn der Unfallfahrer talabwärts flüchtete, dann wäre er schon bei Fiesch vorbei, unterwegs Richtung Brig und Visp. Nahm er aber talaufwärts Reißaus, dann wäre er bald über alle Berge. Die dritte Möglichkeit war, dass der flüchtige Fahrer aus dem Goms stammte, sich jetzt irgendwo versteckte oder zu Hause ins Bett legte und seinen Rausch ausschlief. So oder so, sie konnte sich jetzt nicht um die Fahndung nach dem Fluchtwagen kümmern. Das musste sie der Zentrale überlassen. Aber sie hielt die Augen offen. Beni fuhr wie der Teufel, aber gekonnt.

Ria ging davon aus, dass die Rettungssanitäter, die in Münster auf Pikett standen, und auch der Dorfarzt längst auf der Unfallstelle waren.

Benjamin Carlen gab Gas. Er kannte das Goms wie seine Westentasche. Einmal an der Abzweigung Fürgangen vorbei, hatte er freie Fahrt. Die Strecke blieb kurvig, wies aber kaum noch Steigung auf. Niederwald, Beni drückte das Gaspedal durch. Blitzingen, volle Pulle, immer Richtung Galenstock. In Selkingen nahm er den Fuß vom Pedal, in Biel bremste er leicht ab. Ab Ritzingen gab er wieder Vollgas. Jetzt passierte er Gluringen, die reinste Rennstrecke. Reckingen, Endspurt. Erst eingangs Münster lockerte er in der Steigung sein rechtes Bein und schaltete herunter.

»Nicht schlecht«, nickte Ria Ritz anerkennend, als er schließlich mit quietschenden Reifen hielt.

Die Unfallstelle lag tatsächlich mitten im Dorf an einer etwas engen Stelle, gleich nach einer unübersichtlichen Kurve. Ria hatte hier schon mehr als einmal Unfallrapporte erstellen müssen, aber bis anhin war es bloß um Sachschäden gegangen. Die schwereren Unfälle, mit Toten und Verletzten, passierten sonst eher auf den Strecken zwischen den Dörfern, wenn Auto- und Motorradfahrer Überholverbot oder Tempolimite missachteten.

Korporal Ria Ritz erfasste die Situation mit einem Blick: ein Verletzter, bewegungslos neben einer Hausmauer auf der Straße liegend, den Kopf in einer Blutlache; Bremsspuren, Lack- und Glassplitter auf der Straße. Zwei Einwohner, die früh unterwegs waren, hielten den Verkehr auf, der talaufwärts fuhr. Oberhalb stand das Ambulanzfahrzeug, das Blaulicht kreiste. Ritz gab dem Aspiranten Carlen Anweisung, die Unfallstelle comme il faut zu sichern, um Folgeunfällen vorzubeugen. Sie selber ging zum Dorfarzt und den Rettungssanitätern, die sich um den Verletzten kümmerten. Eben wurde entschieden, er müsse per Helikopter ins Spital Visp geflogen werden. Ritz meldete der Zentrale per Funk den Sachverhalt. Sie schaute auf ihre Uhr. Es würde mindestens vierzig Minuten dauern, bis die Spurensicherung aus Brig da war. So lange mussten sie hier ausharren. Sie markierte auf der Straße mit Kreidestrichen die Lage des Verunfallten. Dann beugte sie sich über die Scherben und Lacksplitter, die auf dem Asphalt lagen, ohne etwas anzurühren. Mattgrüne Lacksplitter, stellte sie fest. Ein Armeefahrzeug?, fragte sie sich.

Die Rettungssanitäter hatten die Taschen des Verunfallten durchsucht. Einen Notfallausweis konnten sie nicht finden, aber er trug seine Identitätskarte auf sich: Hubert Trapper war sein Name, achtundvierzig Jahre alt. Ria Ritz schaltete sofort: Das war doch der Gemeindeschreiber von Münster! Der Verletzte wurde auf die Bahre gehoben und ins Ambulanzfahrzeug geladen. Wenig später fuhren die Rettungssanitäter mit dem Bewusstlosen auf das Flugfeld am Rotten hinunter, wo der Rettungshelikopter landen würde.

Nun ging Korporal Ritz zu Doktor Kalbermatten. Er war ein Hüne mit weißem Vollbart und dicker Hornbrille, eine Figur wie aus einem alten Heimatfilm. Neben seinem Auto kniend packte er die Notfalltasche zusammen.

»Überlebt er?«, fragte sie.

Kalbermatten hob die Schultern. »Ich weiß nicht, Meggä«, sagte er. »Schädelbruch. Wahrscheinlich mehrfache innere Verletzungen. Vielleicht auch die Wirbelsäule. Ganz nüchtern ist er übrigens nicht.« Doktor Kalbermatten tippte mit dem Zeigefinger an seinen Nasenflügel, zum Zeichen, wie er den Befund erhoben hatte.

»Wer informiert die Angehörigen?«, fragte Ria.

»Das mache ich. Ich kenne die Familie«, sagte der alte Doktor.

Ria war heilfroh, dass er selbst anbot, die Familie Trapper über das Unglück zu informieren. Erleichtert drückte sie dem Arzt die Hand.

Nach weniger als vierzig Minuten waren die Leute von der Spurensicherung da. Die Unfallstelle wurde aus allen Richtungen fotografiert, die Lage des Verletzten, die Korporal Ritz markiert hatte, die Reifen- und alle übrigen Spuren, auch die an der Hausmauer, gegen die der Bedauernswerte geschmettert worden war, wurden dokumentiert. Was im Labor chemisch oder unter dem Mikroskop untersucht werden musste, wurde mit Wattestäbchen aufgetupft, mit Pinzetten gefasst oder mit Gummihandschuhen eingesammelt, in Reagenzgläser, Plastiktüten oder kleine Container gesteckt und in einem Koffer versorgt. Die Kleidung des Unfallopfers würden sie im Spital untersuchen, sagten die Kriminalisten. Die Rechtsmedizin werde natürlich auch eingeschaltet.

Als die Kriminaltechniker fertig waren, packten auch die zwei Uniformierten ihre Ausrüstung ein und schlugen die Heckklappe zu. Dann setzten sie sich in den Streifenwagen.

»Mach das Blaulicht aus, Beni«, sagte Ria, als Carlen losfahren wollte. »Und keine Sirene, klar?«, sie kannte die Vorlieben ihres Praktikanten.

»Setzt es dir zu?«, fragte sie ihn, als sie unterwegs waren, und sah ihn von der Seite an.

»Geht so«, gab der zu. »Hab nicht so genau hingeschaut.« Tatsächlich hatte er sich ziemlich auf Distanz gehalten und es seiner Chefin überlassen, sich in die Nähe des Verletzten zu begeben. »Was glaubst du«, fragte er. »Wer hat den auf dem Gewissen?«

»Ein Blaufahrer«, meinte Ria knapp.

»So früh am Morgen?«

»Für manche ist früh am Morgen spät am Abend.«

»Blau war wohl auch der Verletzte. Wenn das wirklich der Trapper Hubert war. Der hat alle paar Wochen einen gewaltigen Rausch.« Ä moorts Chischtä, nannte er den Zustand. Benjamin Carlen, gelernter Landwirtschaftsmaschinenmechaniker, war im Obergoms aufgewachsen und kannte hier jeden und jede. Für die Polizeiausbildung hatte er ins Waadtland ziehen müssen, aber während des Praktikums auf dem Posten Fiesch hatte er bei einer Tante im Ort ein Zimmer bezogen.

Für den Rest der Rückfahrt schwiegen beide.

»So«, meinte Korporal Ritz zum Aspiranten Carlen, als sie an ihren Schreibtischen ihr verspätetes Frühstück einnahmen, »für heute haben wir unsere action gehabt. Von mir aus darf der Rest des Tages etwas ruhiger verlaufen.«

*

Kauz fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Er saß an seinem Küchentisch, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn auf den geballten Fäusten. Dann rappelte er sich auf und tigerte durch die Wohnung, abwechselnd empört, gekränkt und gedemütigt. Genau wie damals, als Chantal ihn verlassen hatte. Sie hatte ihm ja auch ganz ähnliche Dinge gesagt wie heute die Kommandantin: Es fehle die gemeinsame Basis. Er sei ein schwieriger Mensch. Das Zusammenleben mit ihm sei eine Zumutung.

Muss wohl was dran sein, dachte er resigniert und legte sich im Schlafzimmer auf das frühere Ehebett. Chantal hatte das Möbelstück im dänischen Stil nicht haben wollen. Fast das ganze übrige Mobiliar aus der gemeinsamen Wohnung, lauter Schischi, hatte sie dagegen behalten, aber ihm war es nur recht gewesen.

 

Die Wohnung war nun eher karg eingerichtet. Er hatte ein paar schlichte skandinavische Möbel hineingestellt und moderne Fotokunst aufgehängt. Eine Sitzgruppe gab es in seinem Wohnzimmer nicht. Wozu auch?, er hatte kaum je Gäste. Dafür besaß er einen zweiteiligen Lounge Chair, auf dem er sich, die Beine auf dem Fußteil hochgelagert, am Feierabend ausstreckte. Dazu Musik aus der neuen, exquisiten Stereoanlage, am liebsten Blues und Jazz.

Sein Handy summte. Kauz ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Esstisch und schaute auf das Display. Es waren mittlerweile haufenweise Anrufe und SMS eingegangen: Das darf doch nicht wahr sein! – Was fällt der da oben bloß ein?! – Wir stehen zu dir, Kauz. Das lassen wir uns nicht gefallen. – Kopf hoch, Kauz, wir kämpfen für dich.

Anders als bei seiner obersten Chefin war Kauz bei seinem Team beliebt, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner kauzigen Art. Seine Polizistinnen und Polizisten wären für ihn durchs Feuer gegangen. Die Nachrichten taten ihm gut. Aber sie änderten nichts an der Tatsache, dass er entlassen war.

Vielleicht bin ich der Feigling, dachte er, nicht Senn. Ich hätte mich selbst wehren, nicht auf seine Rückendeckung warten müssen. Für die eigenen Interessen zu kämpfen war noch nie seine Stärke gewesen.

Eine Stunde lang haderte er mit sich und schwankte, ob er seine Ferienpläne fahren lassen, sich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen oder sich betrinken solle. Auf die Einladungen seiner Mitarbeiter zu einem Treffen in der Mittagspause oder einem Feierabendbier ging er nicht ein. Er hatte keine Lust, sich bemitleiden zu lassen oder einen Aufstand zu provozieren. Er würde sich mit ihnen treffen, wenn sich die Gemüter beruhigt hatten. Aber er hatte trotzdem das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Chantal wollte er auf keinen Fall anrufen. Und Xaver? Nein, der hatte seine eigenen Sorgen. Mit wem also reden?

Wendel! Ihm würde er sein Herz ausschütten. Heute Abend, bei einem Bier. Im Gommereggä.

Jetzt stand sein Entschluss fest: Er würde trotz allem in die Ferien fahren. Wie geplant, nur eben ein paar Stunden früher. Wieso auch nicht? Gewiss, er musste sein berufliches, nein, sein ganzes Leben überdenken. Aber das konnte er auch im Goms. Sogar besser als hier im Zürcher Regen.

Der Speicher stand für ihn bereit, darauf war Verlass. Den Mietvertrag hatte er vor einem Jahr per Handschlag abgeschlossen. So lief das mit Wendel. Wendelin Imfang war ein Mann etwa in seinem Alter, mit dem er sich bestens verstand. Ein alleinstehender, etwas schrulliger Landwirt mit ein paar Kühen, zwei Dutzend Ziegen, etwas Weideland und einigen gepachteten Wiesen. Er besserte sein Einkommen auf, indem er den alten Speicher, der als solcher längst nicht mehr in Gebrauch war, an Feriengäste vermietete, die keine hohen Ansprüche stellten. Vor Jahren hatte der Dorfschreiner das Dach isoliert, die Innenwände getäfert, Fenster eingebaut und zwei Betten, zwei Nachttische, ein Regal und einen Schrank in den Oberbau gestellt. Die Rosshaarmatratzen waren mit groben Leintüchern bezogen, darauf lagen hohe, karierte Federbetten. Für Kauz war es das höchste der Gefühle, in dieser altväterischen Kammer zu schlafen. Er hatte, als er den schlicht umgebauten Speicher zum ersten Mal betrat, augenblicklich Kindheitserinnerungen gehabt. Im Sommer nach seiner Scheidung war er auf einer mehrtägigen Motorradreise in Münster gelandet, hatte den Speicher entdeckt, an dem »einf. kl. Ferienwhg. zu vermieten, ideal für 1–2 Pers.« stand, und hatte ihn spontan für zwei Wochen gemietet. Fürs folgende Jahr hatte er dann gleich Sommerferien im Goms geplant.

Danach war es um ihn geschehen: Es zog ihn immer wieder in seine alte Heimat zurück. Genau genommen, in die Heimat seiner Vorfahren. Im Zürcher Stadtquartier Altstetten aufgewachsen, hatte er als Kind die meisten Sommerferien und manchmal die Winterferien bei den Großeltern in Reckingen oder bei Onkel und Tante in Ernen verbracht. Bis dann vor mehr als vierzig Jahren, er war gerade fünfzehn gewesen, alles mit einem Schlag zu Ende war. Danach hatte er nie mehr Sommerferien im Goms machen dürfen. Winterferien erst recht nicht. Überhaupt keine Ferien mehr im Goms. Mutter hatte es ihm strikt verboten. Dort hole man sich den Tod, hatte sie gesagt. Im Goms war eine gewaltige Lawine niedergegangen, viele Menschen, darunter einige seiner Verwandten, waren dabei ums Leben gekommen. Das Unglück hatte das ganze Land erschüttert.

Als Mutters Bann Jahrzehnte später seine Kraft verloren hatte, plante Kauz wieder einen Besuch im Goms. Doch diesmal machte ihm seine Frau einen Strich durch die Rechnung. Chantal weigerte sich, je mit ihm in die Berge, geschweige denn ins Goms zu fahren. Sie mochte Strandferien in Italien oder der Türkei. Vier-, lieber Fünfsternehotels, all inclusive, versteht sich.

Aber nun endlich konnte er tun und lassen, was er wollte. Im Wallis herrschte seit zwei Wochen prächtiges Sommerwetter, in Sitten wurden dreißig Grad gemessen, im Goms durfte man mit angenehmen vierundzwanzig Grad rechnen.

Kauz ließ in seiner Wohnung alles liegen und stehen, schnallte die schon gepackten Satteltaschen und den Rucksack auf den Gepäckträger seiner alten BMW. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Er kickte die Maschine an und ließ Altstetten hinter sich.

Wie jedes Mal, wenn das Wetter es erlaubte, nahm er sich für seine Reise viel Zeit. Er mied die Autobahnen. Die Fahrt ging durchs Sihltal, später über die Axenstrasse, dann immer auf der Kantonsstraße durchs Urnerland, die Schöllenen hinauf nach Andermatt. An der Baustelle des zukünftigen Golfplatzes und Luxusresorts vorbei nach Realp. Fast gemächlich tuckerte er über den Furkapass. Nach der Passhöhe hielt er am Straßenrand an und schaute lange ins Goms hinunter.

Gletsch, im Talkessel zwischen dem Grimsel- und dem Furkapass, übte wie immer einen zwiespältigen Reiz auf ihn aus, halb einladend, halb abweisend. Erst jetzt ging es wirklich ins Goms hinunter. Es war mittlerweile vier Uhr nachmittags geworden. Beim Gasthaus im Rank hielt er an. Hier sollte das Ritual stattfinden, mit dem er sich jedes Jahr auf die Sommerferien einstimmte.

Er stellte sein Motorrad neben das Haus, nahm den Helm ab und spazierte in den Wald hinein. Bedächtig sog er die Luft ein: Da war er, der Geruch, den er erwartet, ja erhofft, auf den er sich gefreut hatte. Der Wald stand an dieser Stelle lichter, der Boden war den ganzen Tag von der Sonne beschienen worden. Jetzt wurde der würzige Duft des Waldbodens durch die Wärme freigesetzt und schlug ihm voll entgegen. Warme Erde, Tannenzapfen, Lärchennadeln, Baumrinde, Harz, Kräuter und vielleicht Ameisensäure – ein Bouquet ohnegleichen. Er bückte sich, nahm eine Handvoll der mit Tannen- und Lärchennadeln vermischten Erde, zerrieb sie mit beiden Händen und roch dann an seinen Handflächen.

Nach einer Weile stand er auf, klopfte sich die Hände ab und ging zum Gasthof im Rank zurück. Glücklich stieg er wieder auf seine Maschine und fuhr nach Oberwald hinunter.

Um halb fünf Uhr nachmittags trudelte er in Münster ein. Jetzt überkam ihn endgültig das Gommer Feriengefühl: Er fühlte sich angekommen, ja fast ein wenig zu Hause. All die Zukunftsängste, die ihn am Mittag noch geplagt hatten, waren wie verflogen. Frau van Hooch mitsamt ihrer Führungsclique und der ganze verflixte Polizeikram konnten ihm gestohlen bleiben.

Ausspannen würde er. Abends oder bei schlechtem Wetter würde er lesen; er hatte ein paar Bücher eingepackt. Fotografieren vielleicht, auf alle Fälle hatte er seine Spiegelreflexkamera mitgenommen. Zwei-, dreimal würde er mit Wendel zu Abend essen. Oder sich wenigstens ein Feierabendbier genehmigen, vor dem Speicher oder in einer Dorfbeiz. Bergwandern, aber schön gemächlich. Den Rotten- und den ganzen Höhenweg hatte er sich vorgenommen. Eine Wanderung nach Ernen vielleicht. Oder ins Binntal. Höhenwege und Pässe lagen drin, Gratwanderungen und Berggipfel nicht. Er war weder besonders trittsicher noch schwindelfrei. Und mit seiner körperlichen Fitness stand es auch nicht zum Besten.