Das helle Gesicht

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Liselotte Welskopf-Henrich

Das helle Gesicht

Roman

Mit der Erzählung Ité-ská-wí von John Okute Sica

Palisander

Der Verlag dankt den Töchtern John Okute Sicas, Margaret Schmaltz und Grace Peigan, für die Erlaubnis zum Abdruck der Erzählung »Ité-ská-wí«.

Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

1. Auflage März 2013

© 2013 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erstmals erschienen 1980 im Mitteldeutschen Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Schutzumschlaggestaltung: Claudia Lieb

Einbandgestaltung: Claudia Lieb

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783938305683

www.palisander-verlag.de

Das Blut des Adlers

Pentalogie

1. Band: Nacht über der Prärie

2. Band: Licht über weißen Felsen

3. Band: Stein mit Hörnern

4. Band: Der siebenstufige Berg

5. Band: Das helle Gesicht

Rot ist das Blut des Adlers.

Rot ist das Blut des braunen Mannes.

Rot ist das Blut des weißen Mannes.

Rot ist das Blut des schwarzen Mannes.

Wir sind alle Brüder.

Der Medizinmann von Alcatraz (1970)

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Das helle Gesicht

Ité-ská-wí

Ite-ska-wih, vierzehn Jahre alt, trug diesen Namen in der vierten Generation. Ihre Eltern hatte sie verloren; die Mutter war bei der Geburt gestorben, der Vater einige Jahre später erschlagen worden. Ihre Welt blieb Untschida, die Großmutter. Untschida hatte den Arm um das Mädchen Ite-ska-wih gelegt, als es acht Jahre alt war, und hatte ihm von der Frau erzählt, die als erste diesen Namen getragen hatte, mit Würde und nicht ohne Gefahren. Ihre Haut war von einem sanften, hellen Braun gewesen, und manche glaubten, dass sie darum den Namen Helles Gesicht erhalten habe. Die aber mehr und Tiefergehendes wussten, konnten auch diesen Namen besser deuten: Das Antlitz Ite-ska-wihs war wie die Sonne, die das Herz wärmt und dem Auge Licht gibt.

Untschida und ihre Enkelin kauerten miteinander in einer Kellerecke. Die Luft zwischen den Wänden war dumpf; es roch nach den faulenden Abfällen und dem Branntweindunst der Straße; der Gestank kam durch die Kelleröffnung herein. Es war aber ein Vorzug dieser Kellerbehausung, dass sie der Straße zu lag und nicht nach den fensterlosen Innenhöfen des Hauses. Man konnte durch die Kelleröffnung, die nicht verglast war, auf die Straße hinausklettern und von der Straße aus durch diesen Spalt hereinkriechen. Die Straße erschien den Kellerbewohnern anziehend und abstoßend, bunt, wild, gefährlich; wenn man auf der Straße stand, den Kopf in den Nacken legte und senkrecht in die Höhe starrte, vermochte man durch den Dunst einen Streifen Himmel zu sehen. Auf dieser Straße, die man in Europa eine Gasse genannt hätte, gab es Kinder, Halbwüchsige und Erwachsene, Weiße, Schwarze und Indianer, gute und böse Menschen, Betrunkene und Nüchterne, Gangster, Banditen, Prostituierte, Arbeiter. Es gab Streit, Blut und Tote. Nur reiche, gut angezogene Leute gab es nicht. Sie ekelten sich vor solchen Straßen, sie mieden sie und sie fürchteten sie, aber sie fürchteten sie auf andere Weise als die Bewohner. Denn für die Bewohner war die Straße ihr Leben, für die gut angezogenen Leute war sie nicht einmal ein Gegenstand der Neugier; sie war nicht so berühmt wie die Slums und Ghettos von New York. Sie stank, dämmerte und moderte abgeschieden vor sich hin. Ite-ska-wih kannte die Straße und hatte Angst vor ihr. Ihre Zuflucht waren die Kellerhöhle und die Großmutter; ihr Ernährer war seit dem Tode des Vaters ihr Bruder. Er war achtzehn Jahre alt. Tags arbeitete er unter Tarif für 230 Dollar im Monat. Wenn die Geschwister und die Großmutter Hunger hatten, stahl er des Abends in den offenen Läden der Geschäftsstraßen. Ite-ska-wih und die Großmutter hockten in der auch am Tag düsteren Ecke und träumten. Die Großmutter hatte als Kind noch die Prärie gesehen. Das musste ein seltsames Land sein. Dort gab es keine hohen Häuser, und darum gab es auch keine Straßen. Dort gab es wundersamen Duft von Gras und weither wehendem Wind. Still war es rings.

In der Prärie hatte einst die Frau gelebt, die als erste den Namen Ite-ska-wih erhielt. Schön war sie gewesen, ein prächtiges, besticktes Kleid aus weichem Leder hatte sie besessen. Damit ging sie zum Tanz in der Sternennacht der Prärie, zusammen mit den Kriegern, Frauen und Mädchen des Stammes. Auch Ite-ska-wih, das Kellerkind der Stadt, war schon mit der Großmutter zum Tanz der Indianer gegangen. Heute wollten sie wieder miteinander dorthin gehen.

Ite-ska-wih hatte ihr Kleid zurechtgelegt. Es war nicht aus Leder gemacht, sondern aus dünnem Baumwollstoff. Das Mädchen hatte es ein wenig bestickt, mit einem Muster, das die Großmutter ihr bei anderen Indianern gezeigt hatte. Ite-ska-wih stand auf und reckte sich, während sie ihr schwarzes Haar glatt strich und das Stirnband anlegte. Sie war ebenmäßig gewachsen, mit abfallenden Schultern, mit einem Nacken, der den Kopf stolz tragen konnte. Ihre mit dem Reiz der ein wenig betonten Wangenknochen gebildeten Züge waren regelmäßig. Doch ihr Körper war von Hunger gezeichnet; was sie zu essen erhielt, hatte weder Kraft noch Frische. Ihre Haut, rein und von einem sanften, hellen Braun wie das ihrer Urgroßmutter, entbehrte der Sonne; ein grauer Kellerschein lag darüber. Nur die dunklen Augen waren klar geblieben. Ite-ska-wih hielt sie mit den Lidern halb bedeckt; sie gab nie einen nackten Blick frei.

Obgleich das Mädchen schmal, feingliedrig und mager war, schwanden ihre Muskeln und Sehnen, die sie als Kind zu Lebzeiten des Vaters hatte üben können, noch nicht. Sie war ein wildes Kind gewesen, Gespielin des Bruders, Gefährtin seiner Streiche, in der Horde anerkannt, auch den Jungen gewachsen, ohne Furcht unter dem Schutz und Schirm des Vaters. Mit dem gewaltsamen Tode des Vaters und dem Heranwachsen Ite-ska-wihs hatte sich das geändert. Zwar sorgte der Bruder dafür, dass sie an den Karatekursen für indianische Frauen teilnehmen konnte, um sich im äußersten Notfall zu wehren, aber auf der Straße musste er sich als vaterloser Bruder selbst erst durchsetzen, ehe er Angreifer von seiner Schwester fernhalten konnte. Die Nahrung war sehr karg, seit der Verdienst des Vaters fehlte, die Gefahren wuchsen; Ite-ska-wih verkroch sich in der Kellerecke bei Untschida.

Es war Nachmittag. Untschida und Ite-ska-wih hatten sich festlich gekleidet und warteten nun auf den Enkel und Bruder, ihren einzigen Ernährer und Beschützer. Mit ihm zusammen wollten sie zu dem Großen Tipi gehen, wo der Tanz der Stadtindianer stattfinden würde. Von einigen wenigen vermögend gewordenen Indianern, zwei Kirchengemeinden, der Stadtgemeinde und drei weißen Gönnern war es für die Stadtindianer als eine Art Klubhaus, als ein Indian Center, gestiftet worden. Auch städtische Busse stellte die Verwaltung zur Verfügung, um Indianer in Gruppen zu den Veranstaltungen und Indianerkinder zur Schule und zurück zu bringen. Auf diese Weise hatte Ite-ska-wih die Schule besuchen können. Aber den Weg zur Tanzveranstaltung brauchte sie nicht wie andere mit dem Bus zurückzulegen. Das Haus, in dessen Keller sie mit Bruder und Großmutter wohnte, befand sich in einer Seitengasse der großen, breiten, stinkenden, lärmenden und nicht weniger gefährlichen Straße, in der das Große Tipi stand. Das Große Tipi war in einem älteren, aber geräumigen Gebäude untergekommen, das lange unbenutzt geblieben war und vom Eigentümer für ein Spottgeld vermietet wurde. Spelunken für Brandy und Go-go-Girls bevorzugten niedrige, kleine Lokale.

Ite-ska-wih brauchte nur um die Ecke zu gehen, um das Große Tipi zu erreichen.

Ray war noch immer nicht nach Hause gekommen. Er arbeitete in dieser Woche in der Frühschicht und hätte schon längst da sein müssen. Vielleicht war er aber erst zu seiner Gang gelaufen. Die Gang war sein einziger Schutz. Ohne sie wäre er wahrscheinlich auch nicht mehr am Leben, dachten Ite-ska-wih und Untschida. Es gab aber eine Gefahr, von der Ray, wie Ite-ska-wih glaubte, nur mit ihr gesprochen hatte. Die Großmutter wollte er damit sicher nicht ängstigen. Es hatte sich eine neue Gang in der Gegend gebildet; rüde Burschen, alles verkommene Weiße, Ku-Klux-Klan darunter. Sie hatten an die kahlen Wände geschrieben: »We hate colored people« – »Wir hassen Farbige«. Sie besaßen Gewehre und Dynamit, also mussten sie von irgendwoher Geld erhalten. Zu Rays Gang gehörten nur arme Burschen, viele Schwarze und wenige Indianer; um des Überlebens willen hielten sie zusammen. Sie mussten jetzt beraten, wie sie sich gegen ihre neuen Feinde verhalten sollten. Vielleicht war die Beratung auf den heutigen Nachmittag angesetzt, und Ite-ska-wih hatte sich vergeblich auf den Bruder und den Tanz gefreut.

 

Die Großmutter nahm den großen Schal um die Schultern, das einzige gute Kleidungsstück, das sie besaß.

»In einer Stunde gehen wir und warten nicht länger auf Ray. Im Großen Tipi ist auch eine Beratung; ein Häuptling ist gekommen und wird zu uns sprechen. Er kommt aus der Prärie.«

»Auch« hatte Untschida gesagt. Also wusste sie »auch« von Rays Beratung. Die Großmutter kannte viele Indianer der Stadt, Nachbarn, Freunde, Alte und Junge, die zum Großen Tipi zu kommen pflegten; sie fürchtete sich nicht vor der Straße. Als ihr Sohn, Ite-ska-wihs Vater, an der nahe gelegenen Straßenecke erschlagen worden war und sie ihn des Morgens, in seinem Blut liegend, gefunden hatten, hatte Untschida nicht gezittert. Ite-ska-wih hatte sie niemals weinen sehen. Untschida hasste. Sie hasste nicht glühend, sie hasste mit einem eingetrockneten, harten, rissigen, nicht mehr auflösbaren Hass.

»Also, dann gehen wir ohne Ray«, sagte sie nach einer Stunde. »Er wird schon noch kommen. Er weiß, dass es wichtig ist. Ich habe es auch ihm gesagt.«

Nachdem die Entscheidung gefallen war, gab Ite-ska-wih sich nicht mehr mit besonderen Gedanken und Ängsten ab. Untschida hatte gesprochen, und ein Häuptling der Prärie kam.

Als Indianerin ging Ite-ska-wih mit Untschida zum Großen Tipi.

Unterwegs befand sie sich in einer Stimmung, wie sie den Menschen der Wildnis beim ersten Goldzeichen der Morgenröte am nachtgrauen Himmel und beim fernen Grollen in der schwarz lastenden Wetterwolke erfüllen kann. Ite-ska-wih hatte solche Himmelserscheinungen voller Zuversicht und voller Drohung in ihrer Straße nie erleben können. Sie erlebte die überwältigende, zum Verstummen bringende Pracht und die Gefahr, die schauern lässt, ganz in das Menschliche eingeschlossen. Während ihre Füße in der gefährlichen Straße zum Tipi liefen, schaute ihr inneres Auge den Häuptling der Prärie, der zu den Elenden, Verlassenen, vom Gestank der weißen Stadt fast Erstickten kommen wollte, und sie fühlte das Dunkle, das wider ihn heraufzog. Groß und jung war er, kühn, bereit, zu helfen und die Gefahr auf sich zu ziehen. Der Atem der Prärie wehte mit ihm in die Straße herein und in das Große Tipi. Wenn er sprechen würde, sollten es Worte sein, wie sie in dieser Straße und in diesem Tipi noch nie vernommen worden waren. Wenn er den Kriegstanz mittanzte, so konnte Ite-ska-wih die Augen schließen und hörte doch das schnelle Stampfen seiner Füße, den schrillen Gesang der Trommler und die Trommeln, die im Wirbel geschlagen wurden; sie brauchte die Augen nur zu öffnen, dann sah sie die stolze Gestalt, das braune, scharfe Gesicht, den in Gelb und Blau, den Farben von Erde und Himmel, gestickten Rock, die Krone aus erbeuteten Adlerfedern.

Ein neues, unbekanntes Leben kam; die alten Mythen wurden Wirklichkeit. Ite-ska-wih hatte heiße Hände. Sie blieb stehen, weil Untschida sie anhielt.

»Sieh hin. Das ist er. Sein Name ist Stonehorn. Aber neben ihm steht sein Wahlsohn Hanska.«

Ite-ska-wihs Traumbild war erschienen.

Ihre Augen öffneten sich weit. Dunst, Gestank und schmutzige Fassaden schwanden für sie; sie schaute Himmel und Wiesen bis zum fernen Horizont. Davor standen der Indianer und sein Sohn, der ihm glich. Die Stadtindianer, die sich in Gruppen in der Nähe der beiden vor dem Großen Tipi eingefunden hatten, waren für Ite-ska-wih nur undeutliche Schemen des Elends.

Sie hätte später nie zu sagen gewusst, wie lange dieser Augenblick gedauert hatte; er war nach seiner Tiefe zu messen, die keine Grenze hatte, nicht nach der Länge einer Zeit, die von Weißen mit Instrumenten in Teile zerrissen wurde.

Ite-ska-wihs Bruder Ray stand neben Stonehorn und Hanska. Als das Mädchen ihn erkannte, schüttelte die Freude sie.

Da gellte ein Schrei Rays, ein gedämpfter Schuss fiel, Stonehorn brach zusammen. Ray war verschwunden, als ob das Pflaster ihn verschluckt habe. Ite-ska-wih und Hanska knieten bei dem Gestürzten. Die Gurgel war durchschossen, die Nackenwirbel waren verletzt. Das Blut sickerte auf die Straße, der Staub wurde rot. Der Sterbende konnte nicht mehr sprechen und den Kopf nicht mehr bewegen. Seine Augen waren noch lebendig. In seinem Blick lag die Klage eines Volkes, sein Großes Geheimnis und seine Kraft, nicht zu ergründen, nicht zu überwinden, und das Vertrauen auf zwei junge Menschen, die seinen Tod mit ihm zusammen erfuhren und ihn aufbewahren würden für ihr ganzes Leben und das ihrer Kinder.

Die Augen Inya-he-yukan Stonehorns brachen. Er war tot.

Über die Straße kam Ray zurück. Er hatte ein Gewehr in der Hand und gab es Hanska.

»Damit hat der Killer geschossen«, sagte er und wies auf ein Fenster im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses. »Er lebt nicht mehr.«

Ray zeigte Hanska das Messer, mit dem er den Mörder getötet hatte.

Um den Ermordeten hatte sich ein dichter Kreis der Stadtindianer gebildet. Sie sagten nichts. Was sollten sie sagen? Sie waren ein verlorenes Volk.

»Bringt Decken«, befahl Untschida. »Damit wir Stonehorn in unser Tipi tragen können, wie es sich gebührt.«

Das geschah.

In dem Saal, in dem die Menschen froh miteinander hatten sein wollen, war nun der Tote aufgebahrt. Er lag auf zwei aneinander gerückten Tischen. Ein Toter sollte nicht auf dem Boden liegen. Die Trommler stellten ihre Trommeln auf und schlugen sie mit den Lederschlegeln, so dass die Trauer aus ihnen laut wurde.

Inya-he-yukan war tot. Auch die Rache konnte sein Leben nicht zurückrufen. Aber noch waren sein Antlitz und seine Hände durchblutet. Unruhe und Spannung schwanden daraus; Wille war noch da.

Ite-ska-wih erschrak. Ihr war plötzlich gewesen, als ob der Tote neben ihr stehe. Es war aber Hanska in seinem bescheidenen Festrock.

Er legte die beste der Decken, eine alte Büffelhaut, die sie selbst mitgebracht hatten, über seinen ermordeten Wahlvater; dann nahm er Ite-ska-wih, deren Bruder den Toten gerächt hatte, bei der Hand und führte mit ihr zum Schlag der Trommler den langsamen Tanz der Trauernden an. Alle, die im Saal waren, gingen im Kreise mit.

Als auch das getan war, berieten die Ältesten der Stadtindianer mit Sixkiller, dem Vorsteher im Großen Tipi.

Noch hatte sich kein Polizist gezeigt. Die Polizisten hielten sich nicht gern in dieser Straße auf. Von selbst würde sicherlich keiner kommen, niemand dachte daran, einen Polizisten zu rufen. Wozu auch? Der Tote war gerächt, und die Kumpane des Mörders konnten kaum den Wunsch nach legalen Gerichten hegen.

Sixkiller und der Rat der Stadtindianer berieten und beschlossen, dass Hanska sagen solle, was der Tote nicht mehr sagen konnte.

Hanska trat vor; er sprach klar und einfach. Es war kein Zweifel in seinen Worten. Die erbeutete Waffe des Mörders hielt er in der Hand. Ray und Ite-ska-wih standen bei ihm. Wo es um den Kampf des Indianers für Kinder und Kindeskinder ging, konnte die Frau neben dem Manne stehen, und der Mann stand neben der Frau.

»Er wollte euch rufen, Väter und Brüder«, begann Hanska in englischer Sprache, damit ihn alle verstehen konnten. »Unsere Verträge sind vom weißen Mann gebrochen worden, unser Land ist geraubt bis auf einen kärglichen Rest. Wir stehen auf und verlangen unser Recht. Wir versammeln uns an der Biegung des Flusses, wo einst Big Foot mit Kriegern, Frauen und Kindern niedergemetzelt worden ist. Wir sollten unserer viele sein, damit unsere Stimme Kraft bekommt und gehört wird. Wir brauchen unser Land für Kinder und Kindeskinder; sie sollen besser leben im Land ihrer Väter, als ihr hier leben müsst. Joe Inya-he-yukan Stonehorn King ruft euch. Der Mörder konnte ihn aus dem Hinterhalt töten, aber seine Stimme kann er nicht ersticken. Sie ruft euch. Ich habe gesprochen.«

Sixkiller trat neben Hanska.

»Wir haben gehört. Morgen werden wir beraten, wer geht. Jetzt berate ich mit unseren Söhnen Hanska und Ray, mit Untschida und Ite-ska-wih, was sie zu tun haben. Ich habe gesprochen.«

Hanska und Ray schlugen den Toten in die Decken ein und trugen ihn, wohin Sixkiller sie wies. Untschida und Ite-ska-wih folgten. Sie blieben miteinander und mit dem Toten in einem kleinen Raum ohne Fenster.

Sixkiller sprach zuerst.

»Die Mörder warten draußen auch auf euch, Untschida und meine jungen Freunde. Das ist gewiss. Sage uns, Ray, was vorgegangen ist, damit wir richtig entscheiden können, wie ihr euch verhalten werdet.«

»Wir gehen mit Hanska«, antwortete Ray, »heute noch. Ich muss meine Gang verlassen und zu meinem Volk heimkehren; Joe Stonehorn hat mich gerufen. Das Haus drüben steckt voll von den Gangstern, die farbiges Volk hassen. Es war Zufall, dass ich den Mörder allein fassen und gleich wieder verschwinden konnte. Er hatte den Platz gewechselt, um aus einem leeren Raum am günstigsten zum Schuss zu kommen. Aber nun haben sie seine Leiche längst gefunden, und sie wissen, wer allein ihn getötet haben kann. Ich bin der Boss meiner Gang, und mein Messer ist schnell.« Ray sprach so ruhig, als ob es nicht um ihn selbst gehe, und mit soviel Vertrauen, als stehe er inmitten von Vater, Mutter, Bruder, Schwester.

»Habt ihr einen Wagen da, Hanska?« fragte Sixkiller.

»Ja. Bei Freunden.«

»Es geht also darum, Hanska, wie ihr mit dem Toten zu eurem Wagen gelangen könnt, ohne dass die Killer euch abfangen. Wieviel Platz ist im Wagen? Du kannst Ray, Ite-ska-wih und Untschida nicht hier zurücklassen, das hieße sie den Killern ausliefern.«

»Ich am Steuer, Stonehorn neben mir. Der Tote ist nicht tot. Die Frauen auf der Rückbank, eng umschlungen, Ray im Kofferraum. Wir gehören jetzt zusammen. Das ist wahr. In der Waffe sind noch fünf Schuss.« Hanska untersuchte das Präzisionsgewehr, das Ray ihm gegeben hatte.

»Ich sehe, der Geist und der Mut Joe Inya-he-yukan Kings sind in dir, Hanska. Ich verlasse das Große Tipi mit euch durch eine geheime Tür und bringe euch mit meinem Wagen zu deinem Wagen. Kannst du mit diesem Ding schießen, Ray?«

»Ja. Der Kofferraum bleibt etwas offen; ich schieße mit diesem Gewehr auf Verfolger. Gib her.« Ray entlud, lud, legte an, setzte ab.

Eine halbe Stunde später glitt ein alter Jaguar durch die Straßen. Es war noch immer Tag. Niemand schien auf einen überfüllten Zweisitzer zu achten, auch nicht darauf, dass der hochgewachsene Indianer auf dem Sitz festgebunden war. Der junge indianische Fahrer war gewandt; er schlüpfte mit seinem schlanken Gefährt zwischen den Straßenkreuzern in den Avenues, zwischen Lastwagen in den Geschäftsvierteln, zwischen Fußgängern in den Slums und Vorstädten hindurch. Ray hielt seine Schusswaffe wohlverborgen.

Ite-ska-wih sah ein letztes Mal den großen, schmutzigen See, den sie ein einziges Mal als Kind mit ihrer Schulklasse gesehen hatte.

Dieses Leben lag hinter ihr. Ein neues Leben begann. Es stand unter dem Schutz und dem Schatten, den der Tod eines Häuptlings darüberlegte.

Hanska erinnerte sich der Straßen, durch die er mit seinem Wahlvater Joe Inya-he-yukan in die große Stadt gefahren war. Aber als er im Rückspiegel Verfolger erkannte, wurde es schwierig für ihn, sie zu narren, ohne sich in der Stadt zu verirren. Ray sollte nach Möglichkeit nicht gezwungen sein zu schießen. Hanska wollte sich nur auf die Schnelligkeit seines Jaguars und auf seine eigene Geschicklichkeit im Fahren verlassen, die er jedoch noch nie in einer Großstadt mit Verkehrsampeln hatte üben können. Er gewann und er verlor Abstand. Endlich konnte er aus dem Gewirr der Straßen hinausgelangen, ehe die Verfolger ihn rammten oder ihm in die Reifen schossen. Auf der Ausfallstraße ging er auf die höchste Geschwindigkeit, die er aus seinem Wagen herausholen konnte. Sechzig Meilen in der Stunde waren erlaubt, hundertfünfundzwanzig fuhr er. Polizei begegnete ihm nicht; er verursachte keinen Unfall. So blieb er unbehelligt. Als er den Abstand zu den Verfolgern gehörig vergrößert hatte, bremste er ab und nahm einen Seitenweg.

Der Abend sank herein. Weit reichte der Blick über flaches Land bis zu dem gelbglühenden Horizont, der keine Grenze war, der nichts als Lockung war, denn seine Unendlichkeit würde bald auch am Himmelsrand der fernen Prärie im Sonnenfeuer des vergehenden Tages aufflammen.

Sobald es dunkel geworden war und die Sterne der mondlosen Nacht flimmerten, hielt Hanska abseits des Weges an. Er band den toten Inya-he-yukan Stonehorn los und legte ihn mit Rays Hilfe auf die Wiese zwischen Gebüsch, geschützt von der Decke aus Büffelhaut. Ray verstand und ging zu den Frauen, um Hanska mit Joe Stonehorn, seinem Wahlvater, allein zu lassen. Der Tote trug noch Krone und Schleppe aus Adlerfedern und ein spitzes, zweischneidiges Messer in der Scheide. Den Schulterriemen mit zwei Pistolen hatte Hanska schon vor der Fahrt abgenommen und selbst angelegt. Diese wollte er behalten. Das Messer sollte mit dem Toten gehen; es war seine Waffe. Alle hatten davon gewusst und sie geachtet.

 

Als Hanska sich mit Stonehorn allein wusste, warf er sich auf den Boden, verbarg sein Gesicht an der Mutter Erde, verkrampfte seine Hände im Gras, das aus der Erde wuchs. Sein Stöhnen blieb erstickt, er biss auf Stein.

Stonehorn war tot. Nacht war über dem Land.

Hanska hatte zum zweiten Mal seinen Vater verloren. Der erste war an einer heimtückischen Krankheit gestorben, die aus der kümmerlichen Ernährung herrührte. Hanska hatte zum zweiten Mal seine Mutter verloren. Der Geist der ersten hatte sich umnachtet. Queenie Tashina, seine Wahlmutter, die schöne und sanfte, war verschwunden, ermordet und verschleppt, damit niemand den Mord beweisen könne. Hanska war entschlossen, Joe Inya-he-yukan, den Toten, zu verbergen, so, wie einst Häuptling Crazy Horse von seinen Eltern begraben und verborgen worden war. Niemand hatte ihn je gefunden; niemand hatte das Geheimnis verraten; niemand konnte den Toten schänden.

Hanska war auf einmal nicht mehr allein. Mit dem Toten zusammen hatte er Bruder, Schwester und Mutter, die große Mutter, gefunden. Leise waren sie herbeigekommen, als die Sterne anzeigten, dass die Hälfte der Nacht vorüber sei. Sie saßen bei ihm, gekrümmt von Schmerz wie er um Inya-he-yukan. Sie verließen Hanska nicht, und er konnte sie nicht verlassen.

Aber ehe sie mit ihm weiter einen dornigen Weg gingen, sollten sie genauer wissen, wohin der Weg führte.

»Lasst uns noch einmal beraten«, sagte er, und er saß wieder aufrecht im Kreise der anderen, die Mordwaffe, die Ray ihm gegeben hatte, auf den Knien. »Ich habe kein Tipi mehr. In unserer Prärie wütet ein Häuptling, Mordbruder unserer weißen Feinde. Er ist ein Feigling und tötet nicht selbst. Sonst hätte Joe Inya-he-yukan ihn längst niederschießen können. Er schickt seine Killer des Nachts, auf einsamen Straßen. Er hat …« Hanska stockte. Seine Zunge wollte versagen, aber er nahm sie wieder in seine Gewalt. »Er hat meine Wahlmutter Queenie Tashina jenseits der Grenze unserer Reservation überfallen und misshandeln lassen; sie starb in den Händen der Killer, unter den Augen ihrer kleinen Kinder. Sie hat sich gewehrt, meine kleinen Geschwister konnten flüchten. Die Tote haben die Killer verschleppt und verscharrt. Aber eines Tages werde ich sie finden. Meine jüngeren Geschwister leben jetzt verstreut bei Freunden. Mein großer Bruder Wakiya-knaskiya ist in Kalifornien und hilft einem Manne, der das Recht der Indianer vertritt. Ich bin allein.«

»Nicht mehr«, antwortete Untschida. »Du weißt, wir bleiben bei dir, wenn wir dir nicht zur Last sind.«

»Ihr kommt mit mir, wie es beschlossen ist. Wir wollen Gerechtigkeit für alle Indianer, und den Verräter und Mordhäuptling in unserem Stamm werden wir nicht länger dulden.«

Die vier Lebenden machten sich mit dem Toten auf den Weg.

Sie mussten sich fühlen wie gejagtes Wild. Jeder kleine Zwischenfall, jede Kontrolle, aus welch nichtigem Anlass auch immer, konnte sie dem Verdacht ausliefern, selbst Mörder zu sein. Im Wagen ein Erschossener, der nicht gemeldet war, im Wagen die Mordwaffe – dazu vier Indianer, ein Reservationsindianer als Tramp, drei Slumbewohner ohne Gepäck. Eine Begegnung mit der Polizei konnte nur ein einziges Ergebnis haben: Todesurteile, Zuchthausurteile.

Hanska fuhr trotzdem mit unerlaubter Geschwindigkeit. Er konnte mit einem Toten nicht unterwegs sein, bis der Körper in Verwesung überging, und je länger die Fahrt dauerte, desto größer wurden die Gefahren unerwünschter Zufälle.

Ite-ska-wih verstand das, ohne dass Worte darüber gemacht wurden. Auch war sie keinen verschwommenen Gefühlen zugänglich. Sie musste alles, was um sie war und geschah, mit genauester Aufmerksamkeit in sich aufnehmen, denn es ging um Leben und Tod, und wenn das Leben siegte, ging es um seinen Inhalt für alle Zukunft. Nicht mehr lange würde sie Inya-he-yukan Stonehorn sehen können; sie nahm ihre Wahrnehmungen tief in sich hinein bis in jene Region der Seele, in der sie unauslöschlich werden. Der Körper des Toten lehnte zurück, der Kopf lag etwas zur Seite. Ite-ska-wih schaute wieder und immer wieder den Häuptling der Prärie, wie sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen hatte und jetzt zum letzten Male sah. Im vorübergleitenden Licht der Scheinwerfer entgegenkommender Wagen wurde das fahle Antlitz wie ein Steinbild sichtbar, das gequälte, standhaft gebliebene, kühne, von hohem Verstand geformte Gesicht, der zynische Zug, der Leidenschaft, Liebe, Hass, Enttäuschung ein Leben lang unter die Maske der Selbstbeherrschung gezwungen hatte. Ite-ska-wih schaute auch nach Hanska am Steuer. Er war nicht Inya-he-yukans Sohn, er war sein Wahlsohn und doch oder eben darum ihm gleich und ungleich. Jünger war er, bitter schon und tieftraurig, aber auch voller Kraft und ungebrochener Zuversicht. Er besaß Mut und Klugheit, Stolz und Hilfsbereitschaft; ein echter Dakota war er, groß, schlank, scharfgesichtig. Ite-ska-wih fühlte, wie die Liebe zu Hanska sie ansprang, sie mit Heftigkeit ergriff, so wie ein junger Berglöwe zupackt. Inya-he-yukan und Hanska wurden eins für sie; sie konnte sie nicht mehr trennen. Sie dachte Hanska unter dem Namen Inya-he-yukans. Nichts konnte er von ihrer Liebe wissen; vielleicht würde er niemals davon erfahren, aber sie konnte auch niemals mehr davon lassen, das war gewiss. Sie durfte jetzt mit ihm gehen. Er hatte kein Tipi, aber er vertraute ihr, das war ihr Tipi. Sie würde sein Geheimnis um Inya-he-yukan teilen und mit ihm ohne Aufhören um Inya-he-yukan trauern und seinen Willen erfüllen. Sie hatte keine Angst. Woher sollte Angst kommen in dieser Stunde? Das Entschiedene musste getan werden.

Hanska war vielleicht nicht älter als Ray. In Großvaterzeiten hätte er aber schon an der Büffeljagd teilgenommen, er war ein Mann.

Gegen Morgen geschah es dann. Ein entgegenkommender Polizeiwagen hielt und gab das Stoppzeichen für den Jaguar. Einer der beiden Beamten kam herüber. Hanskas Falkenaugen hatten die Polizei im flachen Gelände längst erspäht. Er war auf die zugelassene Geschwindigkeit heruntergegangen und hatte Ite-ska-wih zugewinkt, sie möge Ray das Zeichen geben, den Kofferraum zu schließen. Er selbst hatte dem Toten die Decke ins Gesicht heraufgezogen. Auf das Polizeizeichen hin hatte er sofort gehalten.

»Euer Wagen?« fragte der Polizeibeamte. Er mochte sich nicht wenig wundern, dass Indianer einen ausländischen Wagen fuhren.

Hanska antwortete: »Ja.«

»Und wer ist das?«

»Chief Inya-he-yukan, mein kranker Vater.«

»Woher habt ihr den Wagen?«

»Gehört meinem Vater. Geschenk meines Großvaters. Altwagen.«

»Das kannst du wohl sagen, junger Indianer. Läuft aber noch gut. Papiere?«

»Nein.«

»Woher kommt ihr?«

»Chicago.«

»Ah. Und wohin?«

»Kalifornien.«

»Warum?«

»Besserer Verdienst.«

»Ihr habt ja viel vor. Mit den Weibern?«

»Mit meiner Frau und meiner Großmutter.«

»Habt ihr Geld?«

»O ja, genug bis Kalifornien.« Hanska zog seine Börse hervor und zeigte soviel von dem Reisegeld, das er mit Stonehorn zusammen mitgenommen hatte, wie er für zweckmäßig hielt.

»Wieviel Meilen sind erlaubt?«

»Sechzig die Stunde.«

»Also fahrt jetzt vernünftig.« Der Beamte, nicht feindselig gestimmt, schien mit Hanskas Antworten zufrieden. Er ging zu seinem Polizeiwagen zurück und fuhr in Richtung Osten weiter. Hanska startete nach Westen zu.

Ray öffnete den Gepäckraum wieder.

Es wurde heller Tag. Ite-ska-wih fühlte sich sehr müde. Die Glieder waren ihr und der Großmutter in der unbequemen Lage eingeschlafen. Sie schaute auf Hanskas Hände am Steuer. Er war der einzige, der fahren konnte. Ray hatte es nicht gelernt. Hanska musste die gesamte Fahrt am Steuer durchhalten. Er schien nicht erschöpft zu sein. Noch immer fuhr er sicher und nun schon wieder mit hoher Geschwindigkeit, wenn auch noch umsichtiger als zuvor. Der Weg war ihm bekannt. In der kommenden Nacht, sagte er, wollte er sein Ziel erreichen. Wenn es die Gegend und die Umstände zuließen, würde er vorher noch eine Pause einlegen.