Das helle Gesicht

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Sie war sehr ruhig. Es ging in den Kampf.

Hanska ritt den Schecken, Rote Krähe den Appaloosahengst, Ite-ska-wih die Appaloosastute, Hetkala die Fuchsstute. Zuerst hielt sich Hanska an Ite-ska-wihs Seite. Er freute sich darüber, wie sie lernte, mit dem Pferd umzugehen, und über ihre anmutige Haltung. Später schwärmten die Reiter in einer losen Gruppe durch die Nacht, um weniger aufzufallen. Die Gruppe ritt im Schritt, wenn sie nicht gehört werden wollte; sie ging zum Galopp über, sobald sie sich sicher fühlte. Die Straßen mied sie ganz.

Gegen Morgen versteckten sie sich in einem kleinen, mit Kiefern bestandenen Tal. Hier sollte Hetkala mit den Pferden bleiben. Des Abends wollten die anderen zu Fuß gehen. In der Gegend des Bigfoot-Trail wollten sie weiterwandern, in jener Richtung, in der Häuptling Bigfoot Männer, Frauen und Kinder vor fast einem Jahrhundert geführt hatte, damals, als die Watschitschun, die Geister, die Milahanska, die Langmesser, das Land geraubt und die Männer, die Frauen, die Kinder der Stammesgruppe Bigfoot niedergemetzelt hatten. Hetkala träumte des Nachts nach den erschreckenden Berichten ihrer Großeltern noch von den Schreien der Kinder, die aus ihren Verstecken hervorgelockt und erschossen wurden. Oben auf dem Hügel war das große Grab der Ermordeten. Oben auf dem Hügel stand die kleine Holzkirche, die über das geraubte Land und über das große Grab mit ihrem Weiß leuchtete.

Dort hatten sich jetzt die »Aufständischen« gesammelt, die nach dem Recht der Menschen mit brauner Haut schrien, die die amerikanische Erde besiedelt und mit Ehrfurcht vor ihr als erste bewohnbar gemacht hatten. Sie verlangten nicht viel, nicht mehr als ihr Recht; nur dass die Verträge, die man nach fast vier Jahrhunderten Kampf endlich mit ihnen geschlossen hatte, wiederhergestellt und eingehalten wurden und dass der Killer-Chief sein Amt aufgeben müsse. Auf dem Hügel wollten sie aushalten, wollten der Kälte, den Entbehrungen trotzen, bis dem Indianer sein Recht wurde. Die kleine weiße Kirche war Unterkunft für sie geworden. In der Nacht, wenn der Mond nicht schien und die Wolken die Sterne verdüsterten, sah auch die Kirche dunkel aus.

Hanska führte. Er kannte sich aus. Der Hügel war von einer flachen Talsenke umgeben; es war ein guter Platz, um sich zu verteidigen, die Senke war aber auch ein der Sicht ausgesetzter Platz, von Freund und Feind leicht zu überblicken. Das weite Prärietal stieg ringsumher zu Bodenwellen auf, die vom Feind besetzt waren. Das Gras der Wiesen war kurz. Gebüsch und Bäume gab es wenig. Es hieß somit, günstige Nächte auszuwählen, wolkige, finstere Nächte. Es hieß auf dem Bauche kriechen wie eine Schlange, etwa einen Strauch vor sich herschieben, Meter für Meter, mit Pausen; es hieß die Augen überall haben, jeden Schatten erkennen, der einen Menschen, daher einen Feind, andeutete. Wenn man durch den Belagerungsring der Feinde hindurchgelangt war, war das Ziel noch nicht erreicht, denn zwischen dem Ring der Militärpolizei und dem Lager der »Aufständischen« auf dem Hügel befand sich das freie Gelände der Talsenke.

Immer wieder wagten Frauen den gefährlichen Weg, um den Eingeschlossenen Nahrung und Medikamente zu bringen. Es gab nicht nur Hunger, es gab auch Kranke und Verletzte unter ihnen. Aber sie wollten nicht aufgeben, bis ihnen ihr Recht zugesagt wurde.

Hanska kroch ein kleines Stück allein als Kundschafter voran. Er trug den schwarzen Kordanzug Inya-he-yukans und die schwarzen Stiefel. So war er der Nacht am besten angepasst.

Er horchte. Sein Gehör war so scharf wie das eines Wolfes. Die Belagerer verhielten sich ruhig, aber nicht so still, dass ein geübtes Ohr nicht ein Laufen, eine Wachablösung, eine geflüsterte Parole aufgefangen hätte. Ein Teil der Belagerer dachte offenbar ans Schlafen, und die Wachen für die weiteren Nachtstunden bezogen ihre Plätze.

Hanska war zu der Stelle geschlichen, an der er vier Wochen früher den Ring der Feinde mit Inya-he-yukan zusammen zweimal durchschlichen hatte, einmal auf dem Weg hinein zu den Aufständischen, einmal zurück, um auf die große Reise zu gehen und mehr Mitkämpfer zu werben.

Hier – ja – hier hingen noch die beiden entlaubten Büsche, wie sie im Herbst über die Prärie zu wirbeln pflegten; sie waren von Hanska und Inya-he-yukan als Deckung genommen und wieder zurückgebracht worden und waren an einem festsitzenden Strauch verhakt. Hanska gab die losen Sträucher Ite-ska-wih und Rote Krähe, die hinter ihm herkamen. Er spannte alle Sinne an, auch den Geruchssinn, um Feinde in der Nähe zu wittern. Es schien, dass die von Inya-he-yukan ausgemachte Stelle auch jetzt kaum bewacht wurde. Doch auf einmal fiel es einer Patrouille ein, diesen Weg zu nehmen und nicht weit von Hanska anzuhalten. Er rührte sich nicht, lag da wie ein Stein und atmete unhörbar.

Noch schauten die zwei Mann über die Senke weg nach dem Hügel der Belagerten. Hanska vergrub das Gesicht im Gras, damit auch seine Augen möglichst nicht zu sehen waren; sein loses schwarzes Haar konnte in der Dunkelheit wie Gras wirken.

Zwei Schüsse fielen, einer von seiten der Belagerer, ein Antwortschuss von der Seite der Belagerten. Die Aufmerksamkeit der Patrouille war von der nächsten Umgebung abgelenkt. Sobald sie weiterging, wollte Hanska mit seinen Begleitern sofort durch den Ring hindurch.

Die beiden Polizisten setzten sich eben in Bewegung, als sie schon wieder stockten. Es erklang ein schwer definierbarer Laut, dann leuchtete auf dem Hügel ein Feuerschein auf. Die beiden gestikulierten, riefen und liefen zu irgendeinem Ziel rasch fort.

Das war der Moment. Hanska wand sich geschwind am Boden voran; Ite-ska-wih und Rote Krähe folgten, Ite-ska-wih nicht mit derselben Sicherheit und Gewandtheit, aber doch geschickt genug, ihren Strauch als Tarnung vor sich herschiebend.

Der Feuerschein vergrößerte sich schnell.

Die kleine Kirche brannte. Das alte, trockene Holz knisterte und krachte im Feuer; in der stillen Prärienacht war das Geräusch weithin zu hören. Die Flammen loderten hoch und immer höher. Als eine Fackel stand die kleine Kirche in der Nacht; der Turm war die zum Himmel reichende, glutrot flimmernde Spitze.

Niemand achtete auf die Stelle, an der Hanska mit Ite-ska-wih und Rote Krähe weiterwollte; sie konnten sich fast ungehindert bewegen. Rufe ertönten, auch ein paar scheinbar ziellose Schüsse. Das Feuer in der Nacht beschäftigte alle.

Hanska, das Mädchen und Krähe nutzten den Moment mit aller Kraft und Zuversicht auf das Gelingen ihres Vorhabens. Aber es schauderte sie auch. Denn das Feuer verzehrte die größte und beste der Unterkünfte für die Belagerten. Schutzlos war nun die Mehrzahl von ihnen der Kälte, der Nässe, den Märzstürmen ausgesetzt. Das Feuer konnte nicht gelöscht werden. Das Wasser dafür fehlte den Eingeschlossenen. Ohne Hemmung fraßen die Flammen sich weiter. Die Funken stoben schwefelgelb und blutrot, sie tanzten Wirbeltänze in der Nacht und sanken; die Balken flammten, glühten, verkohlten schwarz wie die Nacht. Die lohende Fackel, der Turm, brach zusammen. Das Knistern und Knacken wurde vom Getöse des Berstens übertönt.

Ite-ska-wih erreichte mit Hanska und Krähe zusammen die Belagerten, die die brennende Kirche in weitem Kreise umringten. Sie hockten und lagen am Boden, wollten nicht von dem Feuerlicht erreicht werden, in dem sie ein allzu gutes Ziel für den Feind abgaben. Keiner sprach. Was sich vor ihren Augen und Ohren vollzog, war Wunder und Schauer. Wie seit Jahrtausenden das Feuer unheimlich und großartig, Verderben bringend und Leben erhaltend auf Menschen gewirkt hatte, so stand jetzt die Flamme wieder vor ihnen, und sie standen ohnmächtig davor. Ite-ska-wih hatte, ebenso wie ihre Brüder, in der Schule gelernt, dass ein Feuer kein Zauber, sondern ein chemischer Prozess sei, den man verstehen und regeln könne; sie glaubten, das verstanden zu haben, aber wenn sie jetzt in die Glut schauten, in der die kleine weiße Kirche versank, in der sie zu Asche wurde, zu einem grauen Etwas, das sich mit der feuchten Erde vermählen und bald verschwunden sein würde, so wussten sie nichts mehr von Schulbank, Lehrer, Stock und Formeln, auch nicht von Ofen, Herd und leise knisterndem Holzfeuer im Tipi, sondern nur noch von etwas, was geheim war, groß und drohend, Vater Feuer über der Mutter Erde. Die Belagerten dankten dem Regen, der Gras und Erde nass gemacht hatte; das Feuer fraß nicht weiter und konnte nicht zu einem der Präriebrände werden, die mit ihrem chemischen Prozess alle Lebewesen entsetzt in die Flucht trieben und Menschen und Tiere, Gras und Baum zu Kohle machten. Das Haus am Bach, Hetkala mit den Pferden, jenes kleine Blockhaus der Kings im Tal der weißen Felsen blieben unberührt in Nebel und feuchtem Wind, unsichtbar in der Dunkelheit, nicht bedroht.

Allmählich näherte sich einer der Umstehenden nach dem andern der Brandstelle, fischte sich glühendes Holz heraus und machte sich aus schwindenden Vorräten eine ersehnte kleine warme Mahlzeit.

Hanska hatte Wasescha entdeckt, den indianischen Lehrer und letzten Häuptling vor dem Killer-Chief, Cousin und Freund Inya-he-yukans, neben ihm seine Frau Tatokala. Bei ihnen packten er selbst, Ite-ska-wih und Krähe im Freien aus, was sie in ihren Beuteln für die Belagerten mitgebracht hatten. Unterdessen verglühten die Balken, und nur hin und wieder schoss noch eine Feuergarbe hervor.

Wasescha, ein großer Mensch von auffallender Familienähnlichkeit mit Joe Stonehorn, verteilte sogleich Medikamente für die Kranken, Verbandszeug für Verletzte, Bohnen, Speck und Brot für die Hungernden. Es war viel zu wenig, und doch war es mehr als eine Gabe, die man brauchte; es war Bruderliebe, Aufrechtbleiben, es gab Mut.

Tatokala, deren magere, sorgengequälte, aber unnachgiebig wirkende Züge einmal in einem Feuergeflacker sichtbar wurden, umarmte Ite-ska-wih lange, fest, beinahe heftig. Helles Gesicht hatte Medikamente und Kräuter mitgebracht für Gerald, Tatokalas Bruder, der von schweren Herzanfällen gequält wurde. In seiner Gefängniszeit hatte er sich dieses Leiden zugezogen; bei Hetkala und auf der King-Ranch hatte es sich gebessert, nun warf es ihn wieder nieder. Aber nichts hatte ihn davon abbringen können, mit in den Ring zu gehen, und wenn es ihn das Leben kosten würde. Er wollte bei seinem Volk sein, wenn es sein Recht verlangte.

 

Ite-ska-wih war noch benommen. Sie ging, als ob sie nicht sie selbst sei, mit Hanska, Krähe, Wasescha und Tatokala zwischen den Belagerten umher. Es war ein Geschwirr um sie von leisem Sprechen, hin und wieder einem Ruf, einem Bewegen in langsamen und schnelleren Schritten. Man ordnete sich neu, da die Kirche als Unterkunft verloren war. Es gab sonst nicht viel brauchbare Herberge.

Ite-ska-wih hatte verstanden, dass am nächsten Tag eine Beratung stattfinden sollte. Die Männer waren bereit, auf den Geheimnismann Crow Dog zu hören.

Waseschas, Tatokalas und Geralds Behausung war ein Hüttchen aus Wellblech und Brettern. Sie nahmen die drei Ankömmlinge für den Rest der Nacht bei sich auf. Die Wolken am Himmel verzogen sich im aufspringenden Wind; es wurde noch kälter als in den vergangenen Märznächten. Die Sterne glänzten klar, ehe sie im ersten Morgendunst erloschen. Tatokala schlug ihre Decke um Ite-ska-wih. Das Mädchen zitterte in Frostschauern, die von innen kamen. Es war fast über ihre Kraft gegangen bei dem Durchschleichen des Belagerungsringes; es war eine ungewohnte Aufgabe gewesen, auf die sie nur kurz vorbereitet worden war. Jeder Fehler, den sie etwa machte, hätte nicht nur sie selbst, sondern auch Hanska und Krähe in Lebensgefahr gebracht. Nachdem alles geglückt war, fiel sie in sich zusammen, ohne jedoch Schlaf zu finden. Die Erinnerung an den Augenblick, in dem die Entdeckung durch die Patrouille gedroht hatte, und an den Anblick des Feuers, die Begegnung mit den Belagerten, das Wissen, nun im innersten Kreis des Widerstands sein zu dürfen, zusammen mit Hanska Mahto und Rote Krähe, ließen ihre Nerven immer wieder aufwogen wie Wellen unter dem Wind.

Sie war bei den Aufrechten, bei den Männern, die sich von keiner Furcht überwältigen ließen, sie war bei dem Geiste Inya-he-yukan Stonehorns, unter seinen Augen; ein Kind der Großen Bärin war sie geworden und die künftige Frau des jungen Mannes mit der Bärenseele.

Hanska schlief schon. Rote Krähe lag still mit offenen Augen. Gerald war ruhig geworden nach seinem beinahe tödlichen Anfall. Wasescha fühlte von Zeit zu Zeit nach dem Herzschlag des Kranken. Über Ite-ska-wih begann sich die beste Decke zu legen, die Decke der Ruhe, die Decke der Gewissheit, dass sie da sei, wo sie hingehörte. Einen Tag hatte sie Zeit, bei denen zu bleiben, die sie mit Hanska zusammen gesucht hatte. In der nächsten Nacht sollte sie sich mit Tatokala und zwei jungen Frauen namens Alice und Melitta Thunderstorm zusammen hinausschleichen, um mit neuem Proviant wiederzukommen. Die Rinderherde, die die Belagerten in der ersten wirren und dadurch leichteren Zeit zu sich hereingetrieben hatten, war längst geschlachtet und aufgegessen.

Ite-ska-wih schlief ein.

Sie schlief nicht lange. Als sie erwachte, hörte sie einen unerwarteten Ton. Wasescha hatte sein kleines Radio angestellt. Alle zusammen lauschten. Der Zorn machte sie noch wacher. Es wurde im Lande verbreitet, dass die Belagerten die Kirche selbst in Brand gesteckt hätten. Brandstifter waren sie, Kirchenschänder. Sie gehörten hinter Gefängnismauern.

»Die andern haben es getan.« Tatokala war sehr bitter. »Wenn wir nur erst sagen könnten, wie.«

Wasescha eilte hinaus, um zu besprechen, auf welche Weise man den Verleumdungen am raschesten begegnen könne.

Unterdessen waren einige Männer dabei, Schutt zu räumen. Der Keller der Kirche bestand noch. Er war jetzt nach oben offen. Der Himmel schaute hinein, kalter Wind fing sich darin. Aber man konnte dort Schutz finden, wenn geschossen wurde oder wenn man aus anderen Gründen vom Feind nicht gesehen und nicht gezählt werden wollte. Draußen brauchten sie nie zu wissen, wieviel Frauen und Mädchen des Nachts wieder als Boten den Ring durchbrochen hatten.

Fremde, Ungeübte kamen längst nicht mehr durch die Absperrung. Aber die Ätherwellen ließen sich auf ihren Wegen weder von Geweben noch von automatischen Maschinengewehren behindern.

Was sie für einen Aufwand treiben, um uns abzusperren, die Watschitschun und Milahanska, dachte Ite-ska-wih. Diese paar Wörter Dakota hatte sie mit einigen anderen Wörtern zusammen schon gelernt. Was für einen Aufwand! Soviel schwerbewaffnete Polizei. Als ob sie Räuber und Mörder gefangenhalten müssten. Wir aber wollen nur unser Recht und die Verträge, die sie beeidet haben. Wir bleiben hier, bis sie eingestanden haben, dass wir im Recht und die alten Verträge heilig sind. Aber was ist solchen Menschen überhaupt heilig? Sie sind auch nicht anders als die schlimmsten Gangster in der großen Stadt. Vielleicht fällt es ihnen eines Tages ein, uns zusammenzuschießen, wie sie unsere Ahnen zusammengeschossen haben. Hanska sagt, diese Zeiten sind vorbei. Einen Massenmord vor den Augen der ganzen Welt gibt es nicht. Wer weiß? Aber dann möchte ich im Ring bei Hanska sein, nicht draußen. Nur nicht zusehen müssen, eher mitsterben.

Ite-ska-wih traf sich mit Tatokala und Alice in dem offenen Kirchenkeller. Sie hockten dicht gedrängt beieinander, um zu besprechen, wie sie in der kommenden Nacht vorgehen wollten. Ihr geplanter Gang war noch wichtiger geworden, da bei dem Kirchenbrand Vorräte verlorengegangen waren.

»Es ist aber sicher, dass sie jetzt noch schärfer auf uns aufpassen werden. Sie wollen uns niederzwingen«, sagte Alice. »Wie wollen wir uns einteilen? Ich denke, wir gehen getrennt, damit sie uns nicht alle auf einmal fassen können.«

»Ite-ska-wih, findest du den Weg zurück, den du gekommen bist – allein?« fragte Tatokala.

»Ich finde ihn. Es ist ein guter Schlupfweg. Inya-he-yukan Stonehorn hat ihn ausfindig gemacht.«

Die beiden anderen schauten freundschaftlich auf Helles Gesicht, als sie den Namen Stonehorn fast andächtig nannte. »Du hast ihn gesehen?«

»Ich habe ihn sterben sehen.« Ite-ska-wih bedeckte das Gesicht. Auch die beiden andern schwiegen lange. Ite-ska-wih schien ihnen mehr zu sein, als sie selbst waren, nicht aus eigenem Verdienst oder eigener Kraft, sondern weil sie den Blick des Sterbenden bewahren durfte.

»Nun ist diese Kirche weg«, sagte Ite-ska-wih auf einmal. »Gestern war sie noch da.«

»Die Kirche ist nicht wichtig, was auch immer die Weißen uns glauben machen wollen«, sagte Alice. »Ihr Holz brennt auch.«

»Zu Asche«, antwortete Tatokala nachdenklich. »Aber die bösen Taten der Watschitschun brennen ohne Unterlass, auch wenn sie sie mit Asche bedecken möchten. – Sie haben sie nicht wiedergutgemacht.«

»Sie wollen nichts wiedergutmachen, weil sie zu habgierig sind«, sagte Alice zornig.

»Die Kirchen haben uns aber auch Geld gegeben, um einige unserer Gefangenen freizukaufen. Wasescha hat es mir gesagt. Die Christen sind nicht alle schlecht. Wie denkst du, Ite-ska-wih?«

Ite-ska-wih überlegte lange, was sie auf Tatokalas Frage antworten solle. Sie kannte nur wenige Menschen und wusste nicht viel von der Welt. Wie sollte sie etwas Rechtes sagen? In der großen Stadt waren einmal zwei junge Männer in Ite-ska-wihs Keller gekommen. Sie hatten etwas zu essen gebracht, auch Eintrittskarten für ein großes Sportfest für Ray, und hatten manches erzählt, was Ite-ska-wih nicht verstand. Aber dass sie Christen sein wollten, hatte das Mädchen aus ihren Worten entnommen. Der eine von ihnen war später totgeschlagen worden, weil er einen jungen Burschen aus einer Gang hatte herausholen wollen.

»Es sind nicht alle schlecht«, bezeugte Ite-ska-wih. »Aber die Macht haben die Schlechten. Die anderen werden eher totgeschlagen.«

Die drei blieben noch eine Weile zusammen, dann machten sie sich auf, um überall zu helfen, wo sie gebraucht wurden.

Ite-ska-wih blühte auf. Es war eisig kalt im Wind, aber es wurde ihr warm um das Herz, weil alle, so verschieden sie auch waren und dachten, das Gemeinsame fühlten und wollten. Die zweifelnden, von Furcht um den Ausgang des Vorhabens angefressenen Männer und Burschen hatten sich längst wieder hinausgeschlichen. Wer jetzt noch da war, der stand fest. Ite-ska-wih begann sich so kräftig zu fühlen wie noch nie. Hin und wieder begegnete sie Hanska Mahto. Die beiden grüßten sich mit den Augen.

Rote Krähe saß bei Gerald. Er wirkte mit seiner großen Ruhe auf den Kranken ein, der im Schlaf lächelte.

Der Tag senkte sich zum Abend. Die Sonne wurde schwach, die Himmelsgrenze glänzte gelb. Ite-ska-wih, Tatokala und Alice machten sich für ihren gefährlichen nächtlichen Gang fertig. Hanska beobachtete schon seit zwei Stunden genau, was sich von den Vorgängen bei den Belagerern an der Stelle erraten ließ, an der sich Ite-ska-wih hinauswagen wollte.

»Was wirst du sagen, wenn sie dich abfangen?« fragte er Helles Gesicht.

»Dass ich Sehnsucht hatte, meinen Liebsten zu sehen.«

Hanska lächelte – wurde aber wieder sehr ernst. »Wenn dich einer anpackt?«

»Im Großen Tipi haben auch wir Mädchen Karate gelernt. Die Polizei vermutet das nicht. Einen kann ich überraschen und wegjagen. Dann muss ich flüchten.«

»Ja, Ite-ska-wih.«

Hanska hatte eine Decke umgeschlagen. Er öffnete sie und zog Ite-ska-wih darunter an seine Brust. Das war seine indianische Art, dem Mädchen seine Liebe zu zeigen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und wusste für diesen Augenblick nichts anderes mehr, als dass sie Hanskas eigen sein würde.

Eines Tages, eines Nachts, wenn die Tapferen gesiegt hatten.

Die äußeren Umstände waren für einen heimlichen Gang in dieser Nacht weniger günstig als in der vergangenen. Der Wind wollte keine Wolken mehr bringen; die Sterne leuchteten klar, der Mond zog auf. Es war, als ob Himmel und Prärie sich in ihrer nächtlichen Pracht zeigen wollten. Aber wer nicht mit Bewunderung, ja Ehrfurcht vor der Größe des Kosmischen beschäftigt war, sondern eine sehr genau festgelegte Aufgabe zu lösen hatte, bei der er keinen Lichtstrahl gebrauchen konnte, hegte gespannte, unzufriedene Gefühle.

Ite-ska-wih lauerte, wie der Mondschatten in den Bodenwellen sein Spiel weitertreiben würde. Hanska lag neben ihr am Boden und beobachtete mit ihr. Das Mädchen und die beiden Frauen waren auf drei Richtungen verteilt; an der vierten Seite stifteten ein paar Männer Unruhe, die die Aufmerksamkeit der Belagerer auf sich ziehen sollte.

Ite-ska-wih fasste als erstes Ziel den entblätterten Strauch ins Auge, mit dem sie in den Ring hereingekommen war. Als Hanska ihr das Zeichen gab, begann sie sich am Boden entlangzuwinden. Die Ablenkungsmanöver wurden mit zwei Schüssen verstärkt.

Ite-ska-wih erreichte den Strauch und begann, sehr langsam und vorsichtig damit weiterzukriechen. Da diese Sträucher von jedem Luftzug weitergewirbelt wurden, konnte es niemandem auffallen, wenn sie den Ort veränderten.

Ite-ska-wih hatte ihren Gang mit mutig bezwungener Angst begonnen. Mit jedem Meter, den sie unentdeckt vorankam, wurde sie sicherer, obgleich die Gefahr wuchs, je näher sie dem Belagerungsring kam. Sie wollte durch, sie musste durch, sie würde durchkommen.

Ite-ska-wih kam aus dem offenen Gebüsch hinaus in den Schutz der Gesträuchgruppe, die sie kannte. Sie horchte, aber sie hörte nur das Klopfen des eigenen Herzens.

Also weiter.

Das Ablenkungsmanöver schien Erfolg zu haben. Ite-ska-wih fühlte sich unbeobachtet.

Hatte sie die letzten Posten schon hinter sich?

Sie blieb liegen, um alle ihre Sinne spielen zu lassen.

Nichts.

Sie verhakte den losen Strauch.

Da stand er im Nachtschatten vor ihr, die Maschinenpistole bereit. Es gab kein Ausweichen mehr.

»Hallo, Miss Indian!«

Ite-ska-wih war aufgesprungen und versuchte, einfach weiterzugehen.

»Stopp.« Die Maschinenpistole war auf sie gerichtet. Sie hatte einen Sergeant vor sich.

»Hallo!« rief sie so laut, wie ihr die Stimme noch gehorchen wollte. »Was wollen Sie? Mädchen einfangen? Schämen sollten Sie sich.«

»Nicht so ganz, kleine Miss. Was tun Sie hier in der Nacht bei den Soldaten?«

»Soldaten? Ist hier Krieg? Bad boys seid ihr, schlechte Kerle! Ist das eine Arbeit für einen Amerikaner? Herumliegen, ein paar Indianer aushungern, Frauen fangen, in die Luft ballern – lasst mich laufen und geht nach Hause. Das ist besser.«

 

Der Sergeant lachte.

»Nettes Mädchen mit scharfer Zunge! Warst du bei deinem Liebsten? Lauf, lauf! Aber komm nie wieder! Es könnten hier ein paar Appetit auf dich haben.«

Ite-ska-wih zögerte eine Sekunde. Wenn sie ihm den Rücken drehte, konnte er sie von hinten erschießen.

Sie wagte es und lief. Sie rannte, sie stolperte, sie fiel, sie war wieder auf.

Wie sie bis zu Hetkala und den Pferden gekommen war, wusste sie später selbst nicht mehr. Aber sie erinnerte sich, wie Hetkala sie in die Arme nahm und vorsichtig auf den Boden bettete, bis ihr keuchendes Atmen sich beruhigte, wie sie bald wieder aufstand und auf den Schecken kletterte.

Der Hengst warf sie nicht ab, was ein Leichtes für ihn gewesen wäre, aber er ging mit seiner Reiterin durch, und sie konnte nur versuchen, oben zu bleiben, wenn sie das Pferd nicht verlieren wollte. Sie verlor die Steigbügel, die nicht auf die für sie passende Länge eingestellt waren, und hing schließlich vor der Brust des Hengstes, die Arme und Beine um seinen Hals geschlungen. Die Gegend, durch die das Tier raste, war ihr in ihrer Lage und zudem in der Nacht kaum bewusst. Krampfhaft hielt sie sich am Hals fest.

Einmal hielt der Hengst an. Ite-ska-wih erkletterte wieder seinen Rücken. Sie begriff, dass sie sich auf einer ansteigenden Wiese neben einem alten kleinen Blockhaus befanden; der Blick ging von da über ein Tal zu Hängen, die im Licht der Mondsichel weiß schimmerten. Männerstimmen brüllten, Reiter mit Lassos erschienen wie Nachtgespenster. Der Hengst stieß einen schauderhaften Schrei aus, als ob er von Wölfen angegriffen werde. Dann trieb er sein Kampfspiel mit den Verfolgern. Die Männer schrien, das Mädchen solle anhalten oder abspringen, aber Ite-ska-wih klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an der Mähne fest.

Der Hengst wagte den Durchbruch durch den Ring seiner Verfolger. Er sprang den Hang hinunter wie ein wilder Mustang, gelangte auch an den schnellsten seiner Feinde vorbei und verschwand in den Schatten der Nacht. Das Gepolter seiner Hufe verklang für die von der King-Ranch. Ite-ska-wih wusste nicht, wohin er nun mit ihr galoppieren würde. Doch als es heller Morgen war und sie schweißüberströmt, halbohnmächtig, aber die Hände noch immer an der Mähne verkrampft, auf einem fröhlich trabenden Pferd hing, erkannte sie den kahlen Berg und die anderen Tiere.

Sie ließ los und fiel ins Gras. Der Hengst tänzelte um sie herum, ohne sie mit seinen Hufen zu treten, und begrüßte die Stuten, nicht ohne dem Appaloosa zu bedeuten, dass er sich nicht etwa wegen seines Anfangserfolges vermessen benehmen solle. Die Hunde umbellten den Schecken. Ite-ska-wih kam irgendwie auf die Füße und ließ sich von Ray in das Blockhaus führen. Hetkala wickelte sie in Decken und machte ihr Kaffee.

Ite-ska-wih zitterte und röchelte. Aber nachmittags hatte sie sich so weit erholt, dass sie leise und langsam berichten konnte. Alle saßen um sie herum und lauschten.

»Er ist zu der ehemaligen King-Ranch gelaufen und hat Inya-he-yukan gesucht«, erklärte Hetkala. »Er wird ihn nie mehr finden.«

Der Frau kamen die Tränen.

Aber sie überwand sich, wie auch Inya-he-yukan es erwartet hätte, sie lächelte, und endlich lachten alle gemeinsam herzlich, wenn sie daran dachten, wie Ite-ska-wih den Sergeant gescholten und mit dem tollsten Pferd im ganzen Stamm glücklich zurückgekommen war.

Das Mädchen konnte jetzt ein paar Löffel essen. Dann sank sie in einen todesähnlichen Schlaf bis zum nächsten Morgen.

An den folgenden Tagen ging jeder seiner Beschäftigung nach. Hetkala suchte die Kräuter, die als erste aus dem Boden sprossen. Ihre alte Freundin Dorothy kochte und nähte ein Geistertanzgewand; es war das zweite, ein erstes lag schon fertig da. Ite-ska-wih ahnte, dass die beiden Kultgewänder für Rote Krähe und Hanska bestimmt waren. Das Mädchen war noch immer erschöpft, obgleich sie es nicht zugeben wollte. Sie saß still auf der Bank und bestickte ein Stirnband mit Stachelschweinborsten; sie ging auch zu den Pferden, sprach mit ihnen und mit den wachsamen Hunden. Sogar der alte Biber kannte sie und schaute aus dem Bau, wenn sie am Bachufer stand und die kalte Aprilluft einsog.

Ray schien überhaupt nicht mehr zu schlafen. Nachts hielt er Wache, das Sportgewehr griffbereit. Die Killer mordeten nachts; tagsüber wagten sie sich kaum hervor. Eine Ausnahme machten dabei die indianischen Polizisten in Uniform, die der Amtsgewalt des Killer-Chiefs unterstanden und bei den nächtlichen Mordzügen auf Befehl teilnahmen. Der eine davon, hieß es, wolle seit Queenies Tod nicht mehr gehorchen. Der Chief habe ihm drohen lassen, seinen Sohn zu töten, wenn er abspringe. Falls es ihm noch gelinge, werde er mit seinem Sohn die Reservation verlassen. Diese Nachricht hatte Ray mitgebracht. Keiner wusste, woher er sie hatte. Er schwieg darüber. Aber oft machte er tagsüber Streifzüge. Mit Pferden hatte er nichts im Sinn; er konnte auch keinen Wagen steuern. Doch er hatte sich sehr rasch daran gewöhnt, lange Strecken im leichten Dauerlauf zurückzulegen. In der großen Stadt war er von früh bis spät auf den Beinen gewesen, bei der Arbeit als Verlader und in seiner freien Zeit mit der Gang. Er hatte kräftige Muskeln, zudem tat der Wiesenboden seinen Füßen wohler als das Stadtpflaster.

Einmal hatte er sich als Anhalter bis zu Krause gewagt und brachte von dort ein kleines japanisches Radio mit. Die Frauen lauschten. Hin und wieder wurde erwähnt, dass die Aufständischen noch immer nicht aufgegeben hätten. Ray hatte erfahren, dass Tatokala und Alice glücklich durch die Absperrung durchgekommen waren. In einer Woche sollte Ite-ska-wih sich wieder mit ihnen treffen. Ray brachte schon Vorräte mit, die seine Schwester den Belagerten bringen konnte.

Oft schauten die Frauen fragend und bewundernd auf ihn, aber sie sprachen ihre Fragen nicht aus. Ray war vergnügt, rauchte eine Zigarette oder summte und pfiff vor sich hin. Er war auf seine Weise sehr erfolgreich, und vielleicht wusste er von größeren Plänen, ohne sie anzudeuten. Wie man organisierte, sich wehrte, beobachtete, erfuhr, was andere vorhatten, das alles hatte er in der Stadt gelernt. Im übrigen war Yvonne eine patente junge Frau.

Ite-ska-wih war die einzige unter den Blockhausbewohnern, die zu den Belagerten schleichen durfte. Sie träumte von Hanska Mahto und von dem Sieg der Indianer über die Ungerechtigkeit der Watschitschun.

Endlich kam der Tag.

Am Abend zuvor berieten die Frauen und Ray alle Einzelheiten. Es gab eine Schwierigkeit. Dorothy wollte durchaus, dass Hanska und Krähe die Geistertanzgewänder erhielten. »Sie haben darum gebeten«, sagte sie immer wieder.

»Dann gehe ich mit«, entschied Hetkala. »Ich war schon einmal da droben.«

Die anderen stimmten zu. Ite-ska-wih war es lieb.

Die beiden wählten diesmal den braven Braunen und die Fuchsstute, um sich den Anmarsch zu verkürzen. Iliff saß bei Ite-ska-wih mit auf. Man ritt mit Sattel einen mäßigen Trab; Hetkala hatte auf einen frühzeitigen Aufbruch gedrängt.

Als die Frau und das Mädchen den ihnen bekannten Rastplatz erreicht hatten, schickten sie Iliff mit den Pferden wieder nach Hause, denn sie wussten nicht, ob sie selbst heimwärts den gleichen Weg nehmen konnten.

Als sie allein waren und die Sonne schon ermattet zum Horizont niedersank, überkam beide ein schwerer Ernst. Seit Wochen hielten die Belagerten aus als Vorhut aller jener Indianer, die unermessliches Unrecht wieder gutgemacht sehen wollten, zum wenigsten in den engen Grenzen der vor einem Jahrhundert abgeschlossenen Verträge. Immer wieder sagten sie es, immer wieder. Immer wieder dachte es Ite-ska-wih, und sie dachte sich immer tiefer hinein. Als die ersten Amerikaner, jederzeit zur Verteidigung des großen Landes Amerika bereit – wie sie mehr als einmal bewiesen hatten –, wollten sie frei auf dem ihnen verbliebenen Boden siedeln, ohne Vormunde im Nacken, die sie wie »Wilde« und unerzogene Kinder behandelten, wollten ihre Kinder frei heranbilden zu Menschen, die miteinander, nicht gegeneinander lebten, die die Mutter Erde liebten und ehrten, sie nicht verschmutzten, nicht die Tiere töteten und die Wälder ausrotteten. Ein Vorbild für Menschen wollten sie auf ihrem Boden werden und sie vor dem Untergang in Selbstsucht und Zerstörung bewahren. So hatten Untschida und Hanska das Mädchen gelehrt. Würden die weißen Menschen, deren Blut auch rot war, endlich sich selbst erkennen und den Indianern Leben, Freiheit und Recht lassen?

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