Joseph

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John C. Lennox

Joseph

Eine Geschichte der Liebe, des Hasses,

der Sklaverei, der Macht und der Vergebung



Impressum

© 1. Auflage 08/2020 der deutschen eBook-Auflage 2020 by Daniel-Verlag

Gewerbegebiet 7, 17279 Lychen

www.daniel-verlag.de

Autor: John C. Lennox

Übersetzung aus dem Englischen: Ricarda Colditz

Lektorat: Thomas Gutjahr

Cover: Lucian Binder, Marienheide

eBook-Erstellung: Alexander Rempel, www.ceBooks.de

Titel der englischen Original-Ausgabe: Joseph: A Story of Love, Hate, Slavery, Power, and Forgiveness

Copyright © 2019 by John C. Lennox

Published by Crossway

a publishing ministry of Good News Publishers

Wheaton, Illinois 60187, U.S.A.

This edition published by arrangement with Crossway.

All rights reserved.

Die Bibelzitate sind in der Regel der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen), 3. Auflage 2009, entnommen.

ISBN: 978-3-95893-269-2 (eBook)

ISBN: 978–3–945515-35-8 (Buch)

Verlags-Seite und Shop: www.daniel-verlag.de

Kontakt: info@daniel-verlag.de

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Inhalt

Impressum

Einleitung

TEIL 1 Der Gesamtzusammenhang im ersten Buch Mose

1 Der Aufbau des ersten Buches Mose

2 Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs

3 Isaak und seine Söhne

4 Jakob und seine Familie kehren in das verheißene Land zurück; Begegnung mit Gott und Esau

5 Jakob in Sichem – die Schandtat an Dina

TEIL 2 Joseph, sein Vater und seine Brüder

6 Vorbetrachtungen

7 Der Ursprung des Hasses

8 Die Rache der Brüder

9 Judas Familienleben

10 Eine Einführung in die ägyptische Zivilisation

11 Joseph im Hause Potiphars

12 Joseph und Potiphars Frau

13 Joseph im Gefängnis

14 Josephs Aufstieg zur Macht

15 Der Weg der Vergebung und Versöhnung – Teil 1

16 Das Wesen der Vergebung

17 Der Weg der Vergebung und Versöhnung – Teil 2

18 Der Weg der Vergebung und Versöhnung – Teil 3

19 Israel kommt nach Ägypten

20 Die letzten Tage Israels und Josephs

Anhang 1: Grobgliederung der altägyptischen Geschichte

Einleitung

Die Geschichte Josephs, des Sohnes Jakobs, übt eine zeitlose und ungebrochene Faszination aus. Sie hat nichts von ihrer Fähigkeit verloren, die Höhen und Tiefen, die Sorgen und Freuden zu erforschen, die das komplizierte Gebilde der Beziehung zwischen Männern und Frauen und ihrer Beziehung zu Gott ausmachen.

In groben Zügen umrissen erzählt diese Geschichte, die viele Menschen von Kindheit an kennen, den komplexen Verlauf von Josephs außerordentlichem Leben von seinen Kindheitstagen an in einer ziemlich zerrütteten Familie – auf der einen Seite wird er von seinem Vater bevorzugt, wie man an dem bunten Gewand (Ärmelkleid) ersehen kann, und auf der anderen Seite muss er als Folge dieser Bevorzugung immer mehr verletzenden Spott und die Schikanen seiner Brüder ertragen. Seine seltsamen Träume, die ihn eine führende Rolle in seiner Familie besetzen lassen, entflammen den Hass seiner Brüder so sehr, dass sie beschließen, ihn zu ermorden, als er sie besucht, während sie weit weg von zu Hause das Vieh weiden.

Im letzten Moment wird der Brudermord vermieden, als einer der Brüder, Juda, vorschlägt, dass Joseph an die vorbeiziehende Karawane von midianitischen Sklavenhändlern verkauft wird. Der Handel wird abgeschlossen, und Joseph wird nach Ägypten gebracht, wo er als Haussklave an Potiphar verkauft wird, einen hohen Beamten im Gefolge des Pharaos.1 Joseph erweist sich als ein besonders guter Hausverwalter und wird bald damit betraut, Potiphars ganzer Hauswirtschaft vorzustehen. Doch das Verlangen von Potiphars Frau richtet sich auf Joseph, und als er ihre Annäherungsversuche ablehnt, beschuldigt sie ihn vor Potiphar, der ihn ohne eine Anhörung ins Gefängnis wirft.

Doch als Joseph sogar zu Unrecht eingesperrt ist, zeigen sich seine Führungsqualitäten, und schon nach kurzer Zeit wird er zum vertrauenswürdigen Verwalter des Gefängnisses unter seinem Direktor. Es passiert nicht viel, bis schließlich zwei Hofbeamte als Gefangene in seine Obhut gegeben werden: der Mundschenk und der Bäcker des Pharaos. Sie erzählen Joseph von ihren Träumen, der sie richtig deutet, dass der Erstere wieder in seine Stellung eingesetzt und der Zweite gehängt werden wird. Joseph ergreift die Gelegenheit und erklärt dem Mundschenk seine eigene ungerechtfertigte Inhaftierung und bittet ihn, nach dessen Freilassung Joseph positiv beim Pharao zu erwähnen. Doch der Mundschenk vergisst Joseph und erinnert sich erst zwei Jahre später wieder an ihn, als der Pharao selbst aufwühlende Träume hat.

Der Pharao lässt Joseph rufen, der dessen Träume als eine Botschaft Gottes deutet, dass sieben Jahre des Überflusses vor Ägypten liegen, denen sieben Jahre Hungersnot folgen. In diesem Zusammenhang rät Joseph dem Pharao, dass er Lebensmittelvorräte für das Volk anlegen soll. Der Pharao erkennt die Weisheit in Josephs detailliertem wirtschaftlichen Rat und ernennt ihn sofort zum Großwesir und Landwirtschaftsminister über Ägypten, der an zweiter Stelle direkt nach dem Pharao steht.

Joseph, vom Gefängnis in ein hohes Staatsamt katapultiert, beginnt sofort damit, seine ausgezeichneten Verwaltungsfähigkeiten und seine neue Macht einzusetzen, um große Getreidespeicher für das Volk zu errichten. Diese Vorgehensweise funktioniert so gut, dass die ägyptischen Getreidespeicher am Ende der sieben reichen Jahre so voll sind, dass sie fast überfließen.

Dann kommen die Jahre der Hungersnot, wie der Pharao es in seinen Träumen vorausgesehen hat. Der Mangel an Nahrungsmitteln betrifft nicht nur Ägypten, sondern auch die umliegenden Nationen, die gezwungen sind, sich für Hilfslieferungen an Ägypten zu wenden. Unter den Hilfesuchenden sind Josephs Brüder, die an einem Verteilzentrum ankommen, das von Joseph selbst betreut wird. Sie erkennen ihn nicht, obwohl er sie erkennt.

Es entfaltet sich nun ein faszinierendes und komplexes menschliches Drama, in dem Joseph, immer noch unerkannt von seinen Brüdern, hinter den Kulissen seine Macht und seinen Einfluss einsetzt, um ihr Gewissen aufzuwecken, damit sie ihren Taten ins Gesicht sehen. Als er schließlich überzeugt ist, dass sie Buße getan haben, offenbart er sich ihnen. Er vergibt ihnen öffentlich und umarmt sie in einer der bewegendsten Szenen der ganzen Weltliteratur.

Es ist ein Meisterstück der Erzählkunst. Der elegante Gebrauch der einfachen, fließenden Sprache trägt uns in eine Welt, die auf den ersten Blick unserer heutigen Welt völlig fremd ist; doch wenn wir uns in die Erzählung hineindenken, wird sie ganz schnell zu einem hell strahlenden Licht, das durchdringend in die komplexen Verwicklungen unseres eigenen Lebens scheint.

Josephs Geschichte hat die Weltliteratur inspiriert, zum Beispiel den vierbändigen Roman Joseph und seine Brüder des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, der von den meisten als seine größte literarische Errungenschaft angesehen wird. Ebenso hat die Geschichte Josephs zu großartigen Kunstwerken angeregt, wie zum Beispiel Friedrich Overbecks Freskenzyklus Der Verkauf Josephs; Giovanni Andrea de Ferraris mächtiger Darstellung von Josephs blutverschmiertem Ärmelkleid, das seinem entsetzten Vater gezeigt wird; Philipp Veits Interpretation, wie Joseph vor Potiphars Ehefrau flieht; und vielleicht das berühmteste Gemälde von allen, Rembrandts Gemälde von Jakob als altem Mann, der Josephs zweiten Sohn vor dessen Erstgeborenem segnet.

 

Es ist eine Geschichte von zwei Kulturen – der Nomadenkultur Kanaans, in der Joseph seine ersten siebzehn Jahre lebt, und der ägyptischen Hochkultur, wo er den Rest seines Lebens verbringt. In dieser und in vielerlei anderer Hinsicht zeigt Josephs Geschichte Parallelen zu Daniel auf. Daniel verbrachte seine ersten fünfzehn Jahre in dem kleinen Stammesgebiet von Juda und den Rest seines Lebens in der Hochkultur Babylons. Beide Männer kamen als Gefangene in das neue Land und stiegen schließlich zu ähnlich wichtigen Regierungspositionen in ihren jeweiligen Ländern im Exil auf. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen ihnen. Joseph kam als Sklave zu einem mächtigen Hofbeamten des Pharao, dem Obersten der Leibwache, nach Ägypten, während Daniel, obwohl er ein Gefangener war, an der Universität von Babylon die dortige Kultur, die Sprache und die Gesetze studieren musste, um einmal als Regierungsbeamter zu fungieren. Es wird nicht berichtet, dass Joseph irgendeine formale Ausbildung erhielt, obwohl auch das nicht unmöglich ist.

Es gibt sechs wichtige Großreiche, die die biblische Geschichte umfassen: Ägypten, Assyrien, Babylon, Medo-Persien, Griechenland und Rom. Joseph spielte eine wichtige Rolle im ersten Großreich, Daniel im dritten. Ihre Gabe, Träume zu deuten, war wesentlich für diese Rollen.

Die Bedeutung der polytheistischen Kultur und Ideologie Babylons für das Buch Daniel ist ziemlich einfach zu erkennen, wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe.2 Es ist etwas schwieriger, die Bedeutung der Kultur des gleichsam polytheistischen Ägyptens für die Geschichte Josephs zu erkennen, aber es gibt sie nichtsdestoweniger.

Der Bericht von Josephs Leben nimmt die letzten Kapitel des ersten Buches Mose ein. Er beginnt ziemlich unvermittelt in 1. Mose 37,2: „Dies ist die Geschichte Jakobs: Joseph, siebzehn Jahre alt, weidete die Herde mit seinen Brüdern.“ Dieser Ausdruck „Dies ist die Geschichte …“ (in den deutschen Übersetzungen später auch „Dies sind die Geschlechter …“) taucht einige Male im ersten Buch Mose auf und wird als literarische Kennzeichnung allgemein anerkannt, die der Autor des Buches einsetzt, um seine lange Erzählung in größere Abschnitte zu unterteilen.

Dass die Betonung hier auf Jakob und nicht nur auf Joseph liegt, erinnert uns daran, dass dieser letzte Teil dieses Bibelbuches nicht einfach nur die Geschichte Josephs ist. Es handelt sich nach wie vor um die Geschichte Jakobs. Denn obwohl das Buch mit dem Tod Josephs endet, wird im vorletzten Kapitel der Tod Jakobs festgehalten. Ebenso ist es auch nicht einfach nur die Geschichte von Joseph und Jakob. Sie muss richtigerweise als die Geschichte von Jakob und seinen Söhnen angesehen werden – den Geschlechtern Jakobs. Josephs Schicksal ist untrennbar mit dem seiner vielen Brüder verbunden.

1 Das Wort pharao ist die griechische Form des ägyptischen pero oder per-a-a. Es war die Bezeichnung der königlichen Residenz und bedeutet „Großes Haus“. Der Name der Residenz wurde mit dem Herrscher assoziiert und im Lauf der Zeit ausschließlich für den Anführer des Volkes verwendet.

2 John C. Lennox, Against the Flow: The Inspiration of Daniel in an Age of Relativism, Oxford/GB (Lion Hudson) 2015.

TEIL 1 Der Gesamtzusammenhang im ersten Buch Mose

1
Der Aufbau des ersten Buches Mose

Komplexe Leben haben komplexe Hintergründe, und das Leben Josephs bildet da keine Ausnahme. Bevor wir also die Geschichte Josephs in Einzelheiten betrachten, müssen wir einen Schritt zurücktreten und sie in den Gesamtkontext des ersten Buches Mose stellen, um sie wirklich umfassend zu verstehen. Da die Erzählung des Lebens Josephs am Ende dieses Bibelbuches steht, ist diese Vorgeschichte von großer Bedeutung. Meiner Ansicht nach bereichert der Hintergrund des ersten Buches Mose die Geschichte erheblich, da das Buch eine Einheit ist. Schließlich erwartet der Autor des ersten Buches Mose, dass man das ganze Buch liest und nicht nur den letzten Teil.

Joseph wuchs sicherlich mit den Erzählungen der großen Helden der Stammesgeschichte Israels auf, wie es in diesem Teil der Welt Brauch ist. Er wurde mit hineingenommen in die faszinierenden Erzählungen über seinen Vater, Jakob, seinen Großvater Isaak und seinen Urgroßvater Abraham. Aber nicht nur das – er war vertraut mit ihrer Vorgeschichte bis hin zum Anfang. In anderen Worten, er muss einen großen Teil der Ereignisse des ersten Buches Mose gekannt haben. Deshalb müssen wir dort beginnen, denn wir müssen etwas davon wissen, was Joseph wusste und kannte.

Das erste Buch Mose ist mehr als eine Erzählung. Es ist eine Erzählung auf der Metaebene, die uns den großen Rahmen für unser Verständnis des Universums und des Lebens vorgibt.

Um seine Geschichte zu erfassen – 1. Mose ist schließlich ein langes Buch – ist es hilfreich, eine Vorstellung von seiner literarischen Form zu haben. Der Autor hat sich eines einfachen literarischen Mittels bedient, um den Inhalt zu strukturieren, und zwar die regelmäßige Wiederholung des Ausdrucks: „Dies ist die Geschichte … / Dies sind die Geschlechter …“ (der Ausdruck findet sich in 1. Mose 2,4; 5,1; 6,9; 10,1; 11,10.27; 25,12.19; 36,1; 37,2). Die sechs Hauptabschnitte, die von diesem Ausdruck unterteilt werden, sind: 1,1–2,4; 2,5–4,26; 5,1–9,29; 10,1–25,11; 25,12–35,29 und 36,1–50,26. Bei einigen dieser Abschnitte wird der Ausdruck mehrmals wiederholt, um Unterabschnitte einzuleiten.

Der erste Teil des Buches besteht aus drei Abschnitten, die von der Erschaffung der Menschen im Bild Gottes berichten. Der zweite Teil des Buches besteht aus drei Abschnitten, die das Leben der Urväter behandeln. Der erste Abschnitt des zweiten Teils endet mit dem Tod Abrahams, der zweite Abschnitt mit dem Tod Isaaks und der dritte Abschnitt mit dem Tod Jakobs und Josephs.

Vor allem berichtet das erste Buch Mose uns von dem Gott, an den Joseph glaubte und dem Er zu vertrauen lernte.

Abschnitt 1: Schöpfung (1. Mose 1,1–2,3)

Das Buch beginnt mit dem Ursprung des Universums im Willen und in der schöpferischen Kraft Gottes: „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde“ (1,1). Dieser erste majestätische Satz verleiht der sich entwickelnden Geschichte, die nun folgt, ihre Bedeutung und untermauert sie. Er bestätigt, dass das Universum, in dem wir leben, eine Schöpfung ist. Die Welt hat sich nicht selbst erschaffen. Sie ist nicht spontan aus dem Nichts entstanden. Gott war die Ursache für ihre Existenz.

Durch die Bestätigung der Existenz eines Schöpfers stellen die Eröffnungsworte im ersten Buch Mose einen direkten Angriff auf die materialistische, atheistische Philosophie dar, die die westliche Welt heute so sehr dominiert. Diese Philosophie hat eine lange Geschichte, die über den Atomismus der altgriechischen Denker Demokrit und Leukipp hinaus bis hin zu den im Grunde materialistischen Theogonien1 des altertümlichen Nahen Ostens reicht – dem Entstehungsort der Genesis-Geschichte.

Das erste Buch Mose war schon niedergeschrieben, lange bevor die altgriechischen Philosophen begonnen hatten, die Ideen zu formulieren, die typischerweise als der Beginn der Philosophie betrachtet werden. Der erhabene Monotheismus der alten Hebräer ist um Jahrhunderte älter als die griechischen Philosophen. Diese Tatsache wird oft vergessen beim gegenwärtigen Versuch, Naturalismus oder Materialismus als die einzige Weltsicht mit intellektueller Glaubwürdigkeit für gültig zu erklären. Außerdem mussten die hebräischen Denker, im Gegensatz zu den Griechen, ihre Weltsicht nicht von einer Vielzahl an Gottes-Projektionen auf die Naturkräfte bereinigen, weil sie von Anfang an nicht an solche Götter glaubten. Der Gott der Hebräer war keine Projektion irgendwelcher Naturkräfte. Er war der Schöpfer, ohne den es keine Naturkräfte beziehungsweise erst gar keine Natur geben würde.

Dem gegenwärtigen naiven Trend, den Gott der Bibel nur als einen weiteren der alten mythischen Götter abzutun, entgeht diese Unterscheidung völlig. Werner Jaeger, ein Experte für die Götter des altertümlichen Nahen Ostens, betont, dass diese Götter von den Himmeln und der Erde abstammten, während der Gott der Bibel die Himmel und die Erde schuf. Dies gilt besonders für die Götter Ägyptens, wo Joseph die meiste Zeit seines Lebens verbrachte.

Diese kürzeste aller kurzen Geschichten beginnt mit einem eleganten und konzentrierten Bericht von der Schöpfung des Universums und des Lebens in all seiner prächtigen Vielfalt. Die Schöpfung und der Aufbau des Kosmos verlaufen in einer Reihe von Schritten, die jeweils durch Gottes Wort initiiert werden: „Und Gott sprach …“ Diese schöpferischen Sprechakte werden in der Einleitung des Johannesevangeliums zusammengefasst: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. … Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eins, das geworden ist“ (Joh 1,1.3). So sind die Dinge. Das Wort kommt zuerst; das materielle Universum ist eine Ableitung und nicht andersherum, wie der weit verbreitete Säkularismus es sich vorstellt.2

Der letzte Schritt, der den Höhepunkt dieser Reihe darstellt, ist die Schöpfung des Menschen in seinem eigenen Bild. Obwohl die Himmel Gottes Herrlichkeit widerspiegeln, sind die Menschen im Bild Gottes geschaffen. Nur die Menschen sind es. Die Menschheit ist einzigartig.

Und was es bedeutet, im Bild Gottes geschaffen zu sein, und wie besonders die Menschen sind, wird Schritt für Schritt als ein Hauptbestandteil des biblischen Handlungsverlaufs offenbart. Doch einige sehr wichtige Aspekte dieses „Bildes“ werden in den Anfangskapiteln des ersten Buches Mose dargelegt. Der erste Aspekt ist, dass wir nach mehrmaligen Wiederholungen des Ausdrucks „Und Gott sprach“ etwas völlig anderes lesen: „Und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch“ (1,28). Die Menschen sind eine Art Kreatur, zu der Gott sprechen kann. Sie können seine Worte hören und verstehen – und darauf antworten. Es ist diese verbale Beziehung, die so zentral für den biblischen Handlungsverlauf ist.

Abschnitt 2: Menschliches Leben und Sterben (1. Mose 2,4–4,26)

Im zweiten großen Abschnitt wird uns mehr von der Art des menschlichen Lebens berichtet. Die Menschen haben eine stoffliche Grundlage – sie sind aus dem Staub der Erde gemacht. Sie besitzen einen Sinn für Schönheit; sie leben in einer Welt, wo die Bäume so geschaffen wurden, dass sie gut anzusehen sind. Sie wohnen in einer Umwelt, die sie sowohl kultivieren als auch erforschen können. Sie können sich an dieser besonderen Beziehung zwischen Mann und Frau erfreuen, einer Beziehung von gleichwertigen Wesen, die einander ergänzen anstatt identisch zu sein.

Mit geschickten Strichen zeichnet uns der Autor ein Bild von den verschiedenen Merkmalen vor, die das menschliche Leben bemerkenswert machen. Aber noch ein weiteres Merkmal muss erwähnt werden. Es ist bei weitem das wichtigste und es hat wieder mit dem Wort Gottes zu tun. Gott sprach zu den Menschen über ihr Leben im Garten. Er gab ihnen die Erlaubnis, von allen Bäumen im Garten zu essen, außer von dem einen: dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Dieser Baum stand in der Mitte des Gartens neben einem anderen besonderen Baum, dem Baum des Lebens, zu dem sie ebenfalls freien Zugang hatten. Über den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sagte Gott: „… an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben“ (1Mo 2,17).

Es gibt viele Diskussionen unter den Gelehrten über den Status und die Bedeutung dieses Teils der Geschichte; und ich muss die Leser hierzu auf die Kommentare dieser Gelehrten verweisen. Ich möchte mich vielmehr darauf konzentrieren, was in solchen Diskussionen oft vergessen wird: nämlich was die Geschichte eigentlich sagt. Denn hier haben wir eine ganz klare, einfache und doch wichtige Aussage zum Kern der Moral – was es bedeutet, ein moralisches Wesen zu sein. Und Moral ist das Herzstück der Geschichte Josephs.

 

Erstens findet sich der Ursprung der Moral wie auch der Ursprung des Universums und der Menschheit in Gott. Das erinnert sofort an die berühmte Aussage des russischen Autors Fjodor Dostojewski in Die Brüder Karamasow: „Wenn Gott nicht existiert, so ist alles erlaubt.“3 Dostojewski wollte damit natürlich nicht behaupten, dass Atheisten nicht eines moralischen Verhaltens fähig seien. Das wäre eine beleidigende Lüge. Aus der biblischen Perspektive gesehen sind schließlich alle Menschen im Bild Gottes geschaffen und somit moralische Wesen, ob sie nun an Gott glauben oder nicht. Somit können Atheisten (oder jeder andere sonst) andere Menschen durch die Qualität ihres moralischen Verhaltens in den Schatten stellen. Dostojewski behauptete vielmehr, dass es keine rationale Grundlage für Moral gibt, wenn Gott nicht existiert; ein Thema, das heute genauso heiß debattiert wird wie die entsprechende Frage, ob das Universum selbst eine Schöpfung Gottes ist oder nicht. Dieses Buch ist nicht der richtige Ort, um diese beiden Themen zu diskutieren.4

Wichtig an dieser Stelle ist, dass zur Moral die Entscheidungsfähigkeit gehört, ob man einer Anweisung gehorcht. Das erste Buch Mose führt hier die moralische Ordnung auf Gott zurück, der die ersten Menschen in den Garten setzte und ihnen die Erlaubnis gab, von allen Bäumen im Garten zu essen, mit einer Ausnahme – dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.

Es ist offensichtlich, dass das Gebot, nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, bedeutungslos gewesen wäre, wenn die Menschen nicht die Freiheit gehabt hätten, sie zu essen. Obwohl die Menschen in vielfältiger Weise deutlich eingeschränkt sind (sie haben zum Beispiel nicht die Freiheit, mit 100 Kilometern pro Stunde zu rennen), ist es somit ganz offenkundig, dass sie nicht als vorherbestimmte Roboter geschaffen wurden. Sie hatten eine echte Wahl; sie konnten sich entscheiden, Gottes Wort zu gehorchen oder nicht, die verbotene Frucht zu essen oder nicht. Diese Fähigkeit zwischen Alternativen zu wählen wird oft (etwas irreführend) als „libertäre Freiheit“ beschrieben.

Das erste Buch Mose bildet die Grundlage für die uralte, komplexe und oft leidenschaftliche Debatte über Determinismus und freien Willen, oder für die entsprechende – obwohl nicht gänzlich identische – Debatte über das Verhältnis zwischen der Souveränität Gottes und der menschlichen Verantwortung.5 Es muss festgehalten werden, dass es hier zwei Einzelfragen gibt:

1. Lehrt die Bibel beides: dass Gott regiert und dass die Menschen einen bestimmten Grad an Freiheit haben?

2. Wenn die Antwort „Ja“ lautet, wie kann das sein?

Wenn wir zwischen diesen Fragen nicht unterscheiden, besteht die Gefahr, dass eine nicht zufriedenstellende Antwort auf Frage 2 zu einem Zögern führen kann, Frage 1 bejahend zu beantworten. Diese Reaktion ist etwas seltsam, denn es gibt viele Dinge in der Natur, die wir nicht vollständig verstehen. Zum Beispiel wird von Wissenschaftlern anerkannt, dass das Licht sowohl als Partikeln als auch als Wellen vorkommt. Doch genau zu verstehen, wie dies funktioniert, ist eine völlig andere Angelegenheit.

Wir sollten hierbei festhalten, dass die Annahme, dass menschliche Freiheit Teil der Menschenwürde ist, zum Kern aller zivilisierten Gesellschaften gehört. Dies zeigt sich ganz deutlich an der Tatsache, dass solche Gesellschaften die Menschen für ihr Handeln für verantwortlich und rechenschaftspflichtig halten; daher gibt es Rechtsinstitute und Verfahren für die Einhaltung der Gesetze. Die Analogie von der oben genannten Wissenschaft schafft vielleicht eine mögliche Herangehensweise an die Frage der göttlichen Souveränität und menschlichen Freiheit, und zwar, wie sich beides tatsächlich in den Details des täglichen Lebens auswirkt, wie es in der Bibel berichtet wird. Es ist kein Zufall, dass das Neue Testament in Bezug auf dieses Thema unsere Aufmerksamkeit direkt auf den späteren Teil des ersten Buches Mose und die Berichte von Isaak, Jakob und ihren Söhnen lenkt (siehe Römer 9–11). Es wird daher Teil unserer Geschichte sein.

Mehr zu gegebener Zeit. An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass das zentrale Merkmal der Moral, wie es hier in 1. Mose geschrieben wird, sich auf den Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes konzentriert. Damit meine ich, dass die Menschen nur Gottes Wort hatten, das ihnen sagte, dass der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen potenziell tödlich sei. Die wichtigste Frage für sie lautete einfach: Waren sie bereit, Gottes Wort zu vertrauen? Darauf zielte auch die Versuchung der Schlange ab: „Hat Gott wirklich gesagt …?“ (1Mo 3,1). Die Schlange stellte Gott unterdrückerisch und tyrannisch dar: „Ihr werdet durchaus nicht sterben, sondern Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (1Mo 3,4.5). Dies war eine teuflisch listige Halbwahrheit, die mit der anscheinend unwiderstehlich ästhetischen und intellektuellen Attraktivität der einen verbotenen Frucht in dem wunderschönen Garten reizte.

Die ersten Menschen nahmen die Frucht, aßen sie und starben – nicht zuerst im körperlichen Sinn, aber das würde schließlich folgen, denn der Tod ist die Auflösung des Lebens. Das Leben in seiner höchsten Form ist eine reine und geistliche Beziehung mit Gott, die verbunden ist mit dem Vertrauen und Gehorsam gegenüber seinem Wort. Nach einer unerbittlichen Logik begann der Tod also mit dem Bruch dieser Beziehung. Jedoch endete er damit nicht. Der Verfall und der körperliche Tod folgten zu gegebener Zeit, aber der Tod hatte seine grausame Tyrannei begonnen, und die Menschen flohen vor der Gegenwart Gottes. Und seitdem, so könnte man hinzufügen, sind wir weggelaufen und haben uns versteckt.

Das Thema der Täuschung durchzieht tatsächlich den gesamten biblischen Handlungsverlauf. Besonders in der Geschichte Josephs wird es eine wichtige Rolle spielen, dem Sohn Jakobs, dessen Name eigentlich „Betrüger“ bedeutet.

Der biblische Bericht, wie die Sünde in die Welt kam und Unheil mit sich brachte, blieb nicht ohne Kritiker. Tatsächlich weigern sich viele Menschen nicht nur, diesen ernstzunehmen, sondern sie denken auch, dass er Gott als jemanden darstellt, der gegen das Wissen und gegen den Intellekt sei, in der Absicht, die Menschen in einer naiven und unwürdigen Abhängigkeit versklavt zu halten. Ich behaupte, dass dies eine sträfliche Verdrehung der Tatsachen ist, die daher rührt, dass man nicht genau liest, was in 1. Mose eigentlich steht.

Nirgends sonst ist diese Falschdarstellung deutlicher zu sehen, als bei einem faszinierenden Kunstprojekt im Freien, auf dem Campus der Universität von Kalifornien in San Diego. Es nennt sich der Snake Path (Schlangenpfad) und wurde entworfen und verwirklicht von der namhaften Künstlerin Alexis Smith. Er ist Teil der Stuart-Kollektion, und auf der dazugehörigen Internetseite steht darüber:

Der Snake Path ist ein sich windender 170 Meter langer und 3 Meter breiter Fußweg in Form einer Schlange, deren einzelne Schuppen hexagonale farbige Schieferplatten sind und deren Kopf so ausgerichtet ist, dass er zum Eingang der Geisel-Bibliothek zeigt. Der Schwanz windet sich um einen vorhandenen Betonpfad, so wie sich eine Schlange um einen Baumstamm winden würde. Entlang des Weges verläuft der leicht erhobene Körper der Schlange im Kreis um einen kleinen „Garten Eden“ mit mehreren Fruchtbäumen und einem Granatapfelbaum. Dort steht eine Marmorbank mit einem Zitat von Thomas Gray: „Doch warum sollten sie ihr Schicksal kennen / Wenn Leid nie zu spät kommt / und das Glück zu schnell verfliegt / Nachdenken würde ihr Paradies zerstören / Wo Nichtwissen Seligkeit ist, ist es Torheit weise zu sein.“ Der Pfad verläuft dann entlang eines riesigen Granitbuches, auf dem ein Zitat von John Miltons Das verlorene Paradies eingraviert ist: „Und du wirst nicht abgeneigt sein, dieses Paradies zu verlassen, sondern sollst in dir selbst ein noch glücklicheres Paradies besitzen.“6

Auf der Webseite steht weiterhin:

Diese zugespitzten Anspielungen auf den biblischen Konflikt zwischen Unschuld und Erkenntnis markieren einen treffend symbolischen Weg zur Hauptbibliothek der Universität. Die Vorstellung, einen heiligen Zufluchtsort in sich selbst zu finden – außerhalb der idealistischen und geschützten Umgebung der Universität – spricht direkt zu dem Studenten, der kurz davor ist, in die „wirkliche Welt“ hinauszugehen.“7

Doch der Baum in dem biblischen Bericht vom Garten Eden war nicht einfach der Baum des Wissens oder der Erkenntnis. Es war der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, was eine völlig andere Sache ist. Die Schlange eröffnete nicht einen Pfad zu Unmengen an Wissen, die wir mit einer Universität in Verbindung bringen, die zu einem guten menschlichen Gedeihen führen könnte, sondern nur zu einer bestimmten Art von Erkenntnis – das Wissen um Gut und Böse. Dieses Wissen, das die ersten Menschen erlangten, war grauenhaft, düster und schmerzlich, und führte zu einem Bruch zwischen ihnen und Gott. Das war kein menschliches Gedeihen; es war der entstehende Tod. Wenn die Webseite behauptet, dass der Schlangenpfad „zugespitzte Anspielungen auf den biblischen Konflikt zwischen Unschuld und Erkenntnis“ enthält, so scheint der Gedanke hier zu sein, dass Gott die Menschen in einem Zustand von Unwissenheit gefangen hält und ihnen das Wissen vorenthält, das zur Entwicklung ihres vollen Potenzials führen würde. Diese verdrehte Vorstellung ist der Nährboden für viel Atheismus. Aber es ist eine völlig falsche Lesart von 1. Mose. Denn dass die Unschuld im Garten sei und die Erkenntnis außerhalb, ist das genaue Gegenteil der Wahrheit, wie der biblische Bericht ganz deutlich herausstellt.