Der Ehrenmord

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Der Ehrenmord
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Jan Eik

Der Ehrenmord

Kappes dritter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Jan Eik geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. «Der siebente Winter» (1989), «Der Geist des Hauses» (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998) und «Trügerische Feste» (2006). Im Jaron Verlag erschienen von ihm «Schaurige Geschichten aus Berlin» (2007) und «Der Berliner Jargon» (2009) sowie in der Reihe «Es geschah in Berlin …» «Der Ehrenmord» (2007) und «Nach Verdun» (2008, mit Horst Bosetzky).

Originalausgabe

2. Auflage 2010

© 2007 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520021

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

Widmung

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NACHBEMERKUNG

Es geschah in Berlin…

Ebenfalls bei Jaron: Die Reihe «Berliner Mauerkrimis»

Für Clara (1886–1976) und Klärchen (1902–1985)

als später Dank für die Geschichten aus der Adalbertstraße

EINS

BRUNO ZWIETASCH fuhr mit einem unterdrückten Stöhnen aus einem unruhigen Albtraum. Normalerweise schlief er tief und traumlos. Normalerweise aber goss er sich auch abends keine acht Gläser Bier und ein paar Kümmel hinter die Binde. Das konnte er sich nicht leisten, schon gar nicht, wenn er mit seiner Wanda seit vierzehn Tagen festlag und noch immer keine Ladung in Sicht war. Drüben im Urbanhafen hatten sie ihn auch am Sonntag nur zum Besten gehalten, und aus Ärger darüber war er dann in einer der hundert Kneipen versackt und hatte kaum den Weg zurück zum Kanal gefunden. Erst allmählich war ihm aufgegangen, dass die dreisten Kerle im Hafen ein Schmiergeld erwarteten, und das und die Hitze dazu hatten seinen Groll so weit gesteigert, dass er noch mehr trinken musste, und sei es für die letzten Notgroschen.

Ein verrückter Sommer war das, mal heiß, mal kalt und mit Sturzregen, und seine einzige Hoffnung, dass der Wasserstand weiter fallen würde und die größeren Kähne nicht mehr genug Wasser unter dem Boden haben würden, war längst dahin. Seine Wanda, ein kleiner Oderkahn von gut 21 Meter Länge und kaum drei Meter Breite, tauchte voll beladen nur 78 Zentimeter tief ein. So viel Wasser führten Spree und Oder allemal, zumal vierzehn Tonnen Ladung erst einmal aufgetrieben sein wollten. Es schien, als brauche Schlesien in diesem Sommer keinerlei Stück- oder Schüttgut aus Berlin.

Die schmutzige Brühe in dem enggemauerten Kanal, in den sie ihn mit der Wanda abgeschoben hatten, stank vor sich hin. Normalerweise störte ihn auch das nicht. Als Schiffer war er an jede Art von Wassergeruch gewöhnt, und an den Mief in seiner engen Koje ebenfalls. Das Bullauge ließ sich ohnehin nur schwer öffnen. Als er es jetzt dennoch beinahe mit Gewalt aufriss, weil ihn der schwüle Dunst zu ersticken drohte, drang auch nicht der Hauch eines frischen Lüftchens zu ihm herein.

Ein Weilchen lag er noch schwer atmend, dann zwang er sich, an Deck zu steigen. Das Bier drückte auf die Blase.

Als er den spärlich behaarten Kopf aus der Luke schob, meinte er doch so etwas wie eine leichte Morgenbrise wahrzunehmen. Wie spät es sein mochte, war schwer auszumachen. Die Feder seiner Uhr war vor Wochen gesprungen, und Geld für eine Reparatur wollte er nicht aufwenden, solange Antek an Bord war, der nichtsnutzige Schwager, der stolz eine vergoldete Taschenuhr sein Eigen nannte. Aber jetzt war Anton Gomolla schon die dritte Nacht nicht heimgekehrt, hatte sich irgendwohin verdrückt, der Schubiak, und ihn und die Wanda alleingelassen im Unglück. Aber so war das eben mit den Katholischen, verwandt oder nicht - sie waren falsch von Natur aus.

Schwankend trat Bruno an die Bordwand, brachte mit Mühe sein steifes Glied aus der Hose und pisste mit weitem Strahl in das blasige Kanalwasser, auf dem allerhand Unrat schwamm. Er hustete, schickte dem Urin noch einen gehörigen Batzen Schleim hinterher und wollte sich gerade umwenden, als ihm etwas Größeres, Helles auffiel, das da in der trüben Brühe vor sich hin dümpelte.

Um es genau zu erkennen, war es noch zu dunkel. Bruno hob den Blick. Über den vierstöckigen Häusern an der breiten Uferpromenade glühte der erste rötliche Schein. Irgendwo klapperte ein einsamer Droschkengaul über das Pflaster. Zeit zum Aufstehen eigentlich auch für einen rechtschaffenen Schiffer, der sein Tagewerk vollbringen wollte. Aber nicht für einen, der nicht wusste, ob er heute oder übermorgen oder vielleicht nie mehr eine Ladung ins heimatliche Schlesien bekommen würde. Also ließ Bruno schwimmen, was da schwamm, und kroch schwerfällig in seine Koje zurück.

Zeiten waren das, dachte er im Einschlafen. Irgendwo auf dem Balkan hatten sie einen leibhaftigen Erzherzog erschossen. Die Männer in der Kneipe hatten von nichts anderem gesprochen und getan, als würden sie am liebsten morgen in den Krieg ziehen gegen Russland oder gegen wen auch immer. Von Paris war die Rede gewesen, obwohl das kaum auf dem Balkan liegen konnte.

Bruno hatte zu allem verständnislos geschwiegen. An seine Militärzeit dachte er ohne Freude zurück, und als ihm im Traum sein alter Spieß mit blutunterlaufenen Augen aus einem Jaucheteich entgegenglotzte, wunderte er sich nicht darüber.

Als er erwachte und mit dumpfem Schädel an Deck kroch, stand die Sonne hoch über den Häusern. In der Ferne ratterte die Hochbahn über den Viadukt. Hinter ihm bimmelte eine Straßenbahn über die nächste Brücke; Fuhrwerke ratterten beiderseits des Kanals über das Pflaster. Geschäftig rannten die Menschen die Straße entlang. Unter den Bäumen am Ufer spazierten Kindermädchen mit den ihnen Anvertrauten und achteten darauf, dass die Gören dem Gitter nicht zu nahe kamen, hinter dem die Mauer steil zum Wasser abfiel. Das war nicht tief, wie Bruno wusste, aber tief genug für ein Kind, um darin zu ertrinken.

 

Trotz der Hitze überlief Bruno unwillkürlich ein Schauer. Seine frühmorgendliche Beobachtung fiel ihm ein. Er hatte es nicht eilig, danach zu gucken, aber nach einem Weilchen ließ sich sein Unbehagen nicht länger unterdrücken, und er trat an die Bordwand. Das Bündel oder was immer es sein mochte, schwamm dicht unter dem Heck an der Oberfläche und war in all den Stunden kaum ein, zwei Meter weiter getrieben. Kein Wunder, dieser sogenannte Kanal besaß zwar einen hochgestochenen Namen und vertrackte Bögen und Ecken, um die man nur schwer herumgelangte, aber kein Gefälle für eine angemessene Strömung.

Das Bündel sah wie straff gespannter Stoff aus, zweifarbig, hell und dunkel, und ließ nichts Gutes vermuten. Dennoch griff

Bruno zögernd nach dem langen Bootshaken und fischte danach. Etwas Schwarzes durchbrach die schlierige Wasseroberfläche, dann etwas ehemals Weißes, und schließlich wehten gelbliche Strähnen in der trüben Brühe.

Bruno schluckte und zog eilig den Bootshaken ein. Seine böse Ahnung hatte ihn nicht getrogen. An der Kanalmauer, kaum drei Meter vom Rumpf seiner Zille entfernt, schwamm eine Frauenleiche.

ZWEI

HERMANN KAPPES ZIMMER lag zwar nach hinten raus, doch die Geräusche und die Gerüche, die aus dem engen Hof durch das weit offene Fenster hereinströmten, weckten ihn früh. Er würde nie begreifen, weshalb Hausfrauen sofort nach dem Aufstehen damit begannen, topf- und pfannenklappernd Kohl oder andere stark riechende Mittagsmahlzeiten zuzubereiten, aber es war eigentlich auch egal. Er war es gewohnt, früh aufzustehen, und er hoffte, dass ihn Mutter Mucke, seine Zimmerwirtin, nicht schon zu dieser Stunde mit ihrem Geschwätz und ihrer Neugier den Nerv rauben würde.

Nach seinem Geschmack ging man den Tag besser gemächlich an, frühstückte gut und machte sich rechtzeitig auf den Weg zur roten Burg am Alexanderplatz, um möglichst vor von Canow und Dr. Kniehase dort einzutreffen. Galgenberg, dem seine fünf Kinder sowieso wenig Schlaf gönnten, hatte dann bereits die Hälfte seines Tageblatts gelesen und fläzte sich hinter dem Schreibtisch, als hätte er die ganze Nacht im Präsidium verbracht. Kappe hatte den Kollegen im Verdacht, zumindest gelegentlich direkt aus der Kneipe zum Dienstantritt zu erscheinen, obwohl Galgenbergs korrekte Kleidung einen solchen Schluss eigentlich nicht zuließ.

Wie jeden Morgen stellte sich die Frage des Wegs, den er nehmen wollte. Seit die Kraftomnibuslinie 24 über den Moritzplatz, die Jannowitzbrücke und die Alexanderstraße direkt am Präsidium vorbeiführte, benutzte er diese am liebsten. Das kraftvolle Motorengeräusch erinnerte ihn an die Fliegerei, für die er schwärmte, obwohl er genau wusste, dass ihn schon auf dem Omnibusoberdeck ein seltsam beklemmendes Gefühl überkam. Deshalb blieb er lieber im Parterre stehen, und bei Regen stieg er gelegentlich in den Pferdeomnibus Nr. 7. Außerdem verkehrten direkt vor seiner Haustür in der Waldemarstraße drei Straßenbahnlinien, von denen die 22 und die 46 auf Umwegen ebenfalls zum Alex fuhren.

In letzter Zeit benutzte er sie nicht so häufig, bestand doch die Gefahr, dabei unverhofft auf Klara Göritz zu treffen. Dass er einmal Wert darauf legen würde, seiner großen Liebe möglichst nicht zu begegnen, hätte er sich selber nicht träumen lassen, aber im Augenblick war ihre Beziehung ein wenig getrübt, um es milde auszudrücken. Deshalb hatte er den vergangenen Sonntag draußen in Hoppegarten zuerst beim Galopprennen und später auf Börnickes Grundstück verbracht und sich von der todlangweiligen Hertha, seiner Cousine, anhimmeln lassen. Dann doch lieber Klara mit ihren Ansprüchen, lautete sein Fazit des verdorbenen Wochenendes, an dem ihm zudem Paul Börnicke mit seiner plumpen Kriegsbegeisterung auf die Nerven gegangen war. Den als Schwiegervater - nee!

Er und Klara waren ja nicht direkt verkracht miteinander, doch hatte der Dienst ihn in letzter Zeit einige Male gehindert, die Verabredungen mit ihr einzuhalten, und Klara hatte das prompt übelgenommen. Als er sie dann eines Abends unverhofft vom Kaufhaus Hertzog am Köllnischen Fischmarkt hatte abholen wollen, verließ sie den Personalausgang zu seiner Überraschung im trauten Gespräch mit einem stutzerhaft gekleideten Individuum, das Kappe mit seiner inzwischen gewonnenen Menschenkenntnis ohne zu zögern als einen Hochstapler oder Heiratsschwindler charakterisiert hätte, wäre der Kerl nicht zwangsläufig zum Personal des Kaufhauses zu zählen gewesen. Von seinem Platz im abendlichen Schatten der Petrikirche aus beobachtete er die beiden, die sich ganz ungezwungen gaben und lachend miteinander die Richtung zum Spittelmarkt einschlugen, wobei der Kavalier Klara beim Überqueren des Fahrdamms galant den Arm bot, den sie nicht ablehnte.

Ein heißer Stich durchfuhr Hermann Kappe. Für einen Moment war er versucht, den beiden im Eilschritt zu folgen, dem Stenz den steifen Hut vom Kopf zu schlagen und Klara zur Rede zu stellen - doch bezwang er sich rechtzeitig. Es geschah ihm ganz recht, dass sie sich so schnell tröstete, als wüsste sie von seinem jüngsten Abenteuer mit der reizvollen Zeugin eines brutalen Überfalls, das auf seinem Gewissen lastete. Wenn die Sache rauskam, war er außerdem seine Stellung im Präsidium los.

Wie hatte ihn diese niedliche Person aber auch angehimmelt und sich dabei alles andere als zurückhaltend erwiesen - ganz anders als Klara, die ihm ein wenig zu oft und ernsthaft von Verlobung und Ehestand sprach, statt ihm ihre Liebe mal eindeutig und praktisch zu bekunden. Auch andere Väter haben schöne Töchter, lautete eine der Galgenbergschen Weisheiten, deren tiefe Wahrheit Kappe bis dahin gerne bestritten hatte - zumindest was die Unfehlbarkeit der eigenen Person anging. Ihm wurde jetzt noch heiß, wenn er an die anschmiegsame Rieke dachte. Aber vielleicht war es nur der heiße Kaffee. ..

Da ihm Mutter Mucke nicht in die Quere kam, gelangte Hermann Kappe heute recht früh aus dem Haus und nahm gerade noch wahr, wie ein besonders korrekt gekleideter kleiner Herr das Nebenhaus verließ und die kurzen Beine zu eiligem Marschtritt auseinanderriss. Kappe kannte den Mann vom Sehen und wusste von seinem Nachbarn Trampe, dass er in der Ritterstraße im Keramikexport tätig war, weshalb ihn Trampe verächtlich als Nachttopp-Indianer bezeichnete. Der war bei den Preußen Spieß, behauptete Trampe außerdem, und die Kleinsten sind immer die Gemeinsten!

In letzter Zeit sprach Trampe noch häufiger und noch abfälliger vom Militär als sonst. Am Sonnabend hatte er versucht, Kappe zu überreden, ihn am Dienstag zu einer Massenversammlung gegen den Krieg zu begleiten. «Das klassenbewusste Proletariat erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen das verbrecherische Treiben der Kriegshetzer», hatte er aus seinem sozialdemokratischen Parteiorgan vorgelesen. «Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber geopfert werden!»

Kappe hatte für den Dienstag vorsichtshalber dienstliche Unabkömmlichkeit vorgeschützt. Er hielt nichts von dem ganzen Kriegsgerede, das von Tag zu Tag zunahm. Was gingen ihn Österreich und Serbien an? Der Balkan war weit, und der Kaiser rasselte gerne mal mit dem Säbel, den er mit seinem verkürzten Arm nicht zu führen imstande war. Waren nicht der Zar und der englische König seine Cousins? Mit der Verwandtschaft zankte man sich bestenfalls, führte doch aber nicht gleich Krieg!

Es war ein sonniger Morgen, und so beschloss Kappe, den Weg zum Alex ausnahmsweise per pedes zurückzulegen. Er war kein großer Fußgänger vor dem Herrn - auch das ein ständiger Streitpunkt zwischen ihm und Klara, die am liebsten jeden Sonntag eine andere Wandertour in der Berliner Umgebung absolviert hätte, möglichst in Begleitung noch anderer Pärchen oder Leute, die Kappe durchweg gleichgültig, wenn nicht sogar unsympathisch waren. Am Ende lief es immer darauf hinaus, ihn mit neugierigen Fragen über seine Arbeit zu behelligen und ihn später, nach dem Genuss etlicher Gläser Bier, seiner berufsbedingten Schweigsamkeit wegen zu uzen.

Mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass alles, was Klara liebte - ins Theater Gehen, Tanzen, Wandern oder Schwimmen – Kappes Geschmack nur begrenzt traf. Im Theater, wenn es nicht gerade das Thalia oder das Rose-Theater waren, ermüdeten ihn langstielige Monologe, beim Tanzen ärgerte ihn, dass Klara sich von anderen Kerlen auffordern ließ, statt zu wandern, lief er sich in der Riesenstadt oft genug im Dienst die Hacken ab, und Schwimmen - er war der Sohn eines Fischers, der das Wasser nie höher als bis zu den Knien an sich heranließ. Sich in einer Badeanstalt anderen Menschen halbnackt zu präsentieren, wäre ihm alleine nie in den Sinn gekommen.

Dennoch ging er gerne mal am Luisenstädtischen Kanal entlang. Er warf dem dicklichen Nachttopfhändler, der nach rechts zum Elisabethufer abbog, einen letzten Blick hinterher, bevor er die Waldemarbrücke überquerte und der faulige Geruch des stehenden Gewässers ihm in die Nase stieg. Ein paar nach Teer und Unrat riechende Lastkähne schmorten in der Morgensonne. Kappe verlor alle Lust, seinen Weg zum fauligen Wasser des Engelbeckens fortzusetzen, und ging lieber gleich an der Rückfront der Markthalle vorbei zur Dresdener Straße. Hier war es ein wenig schattiger. Trotzdem wischte er sich erst mal den Schweiß aus dem Genick, als er in die breite Prinzenstraße einbog. Geschäft reihte sich hier an Geschäft, und dazwischen war jeweils eine Kneipe. Traute man den Reklametafeln, so befanden sich in manchen Häusern ein halbes Dutzend und mehr Läden, von den Werkstätten in den Höfen und von den Kellerlokalen, aus denen es muffig stank, ganz zu schweigen.

Mein Gott, wie viele Menschen schon am frühen Morgen auf so einer Straße herumwuselten! Die vollbesetzten Straßenbahnen bimmelten sich ihren Weg frei, Fuhrwerke ächzten knarrend daher, Droschkenkutscher knallten mit der Peitsche, der Pferdeomnibus bahnte sich seine Spur, und die Kraftwagen knatterten stinkende Wölkchen aus dem Auspuff, die sich mit dem warmen Mief der Stadt vermischten. Und dazwischen Händler mit ihren Karren und Hunderte von Fußgängern, die in alle Richtungen strebten, nur nicht in die von Kappe gewählte. Das versprach ja wieder ein Tag zu werden!

Wie oft hatte er sich danach gesehnt, wenigstens mal einen Sonntag alleine mit Klara zu verbringen, und seine Pläne dafür waren weit gediehen, denn jeden Sonntag besuchte die ebenso gestrenge wie neugierige Mutter Mucke den Gottesdienst in der Emmauskirche am Lauseplatz - eine einzigartige Gelegenheit, Klara in sein Zimmer zu schmuggeln. Doch Klara sperrte sich wider Erwarten mit aller Entrüstung, zu der so ein hochgekommenes Dorfmädchen fähig war. Wie anders dagegen die blonde Rieke, eine echte Berlinerin, die wusste, was einem im besten Saft stehenden Mann guttat. Dabei war sie verlobt, wie sich zu Kappes Kummer bald herausgestellt hatte. «Aber deswegen können wir uns doch trotzdem gelegentlich mal ein paar schöne Stunden miteinander machen», hatte sie ihm unverblümt angeboten, und er hatte empört abgelehnt. Eine Eselei, wie er inzwischen wusste. Was ging ihn der Verlobte an? Kümmerte sich Klaras Stenz vielleicht um Hermann Kappe?

Eine Unmutsfalte über der Nase, stiefelte Kappe die Neanderstraße hinauf in Richtung Janovenbrücke. Es hatte ein Weilchen gedauert, bis er sich Galgenbergs Ausdrucksweise angewöhnt hatte, aber inzwischen fiel es ihm schwer, wenigstens von Canow gegenüber die korrekten Bezeichnungen wie «Lausitzer Platz» oder «Jannowitzbrücke» zu gebrauchen. Als er diese überquerte, bereute er längst, zu Fuß gegangen zu sein, denn die Alexanderstraße zog sich noch einmal ein ganzes Stück bis zum Präsidium.

Dort angelangt, war er anscheinend tatsächlich der Erste in der Abteilung und fand noch drei Minuten Ruhe, sich von dem Weg zu erholen, bevor Galgenberg munter und kregel hereinstürmte, seinen Strohhut quer durch das Amtszimmer segeln ließ und ihn mit einer seiner öden Scherzfragen begrüßte: «Na, Kappe?

’N Satz mit Kandelaber?»

Genervt verzog Kappe das Gesicht.

«Meine Olle kann de Laberwurscht nich vertraren!»

Kappe grinste verkniffen. Hatte er nicht neulich in einer Kneipe auch so einen Spruch vernommen?

«’N Satz mit Telefonstangen», forderte er. «Na, Herr Kollege?»

Ratlos sah ihn Galgenberg an. «Was ist denn mit Ihnen los, Kappe? Meinen Sie den? Der Hund von mein Nachbarn hat Junge bekommen. Da kriege ich och ’ne Töle von.»

Kappe schüttelte den Kopf. «Die besten Teele von Stangenspargel sind die Köppe!», sagte er stolz.

Galgenberg schien beeindruckt. «Donnerwetter! Hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Kappe. Sie machen sich!»

 

«Hat er wieder eine seiner genialen kriminalistischen Eingebungen?» erkundigte sich Dr. Kniehase, der im Hereinkommen Galgenbergs Lob vernommen hatte. «Oder wollen Sie sich etwa als Kriegsfreiwilliger stellen? Beim Portier fragen dauernd Männer an, wo man sich melden muss.»

«Is denn schon Kriech?», fragte Galgenberg scheinheilig. «Ich habe das Tageblatt heute noch nicht gelesen.»

Er warf die Zeitung auf den Tisch. Die Bemühungen zur Lokalisierung des Krieges. .., las Kappe. Das klang nicht sonderlich beunruhigend. Und die Überschriften, die Galgenberg gleich darauf zitierte, auch nicht: Günstigere Auffassung in Petersburg - Prestigepolitik, aber keine besondere Angriffslust. England vollkommen desinteressiert - Appell der französischen Presse an Kaiser Wilhelm.

Ein paar Seiten weiter fand Galgenberg etwas, das Kappe entschieden intensiver lesen würde als das Kriegsgetöse: Der Flug über den Atlantik. Er reichte Kappe das Blatt, der sich sofort in die ausführliche Meldung über den Leutnant Porte vertiefte, der in der nächsten Woche mit seinem Curtiß-Flugboot Amerika von Neufundland aus starten sollte.

Mit einem unerwarteten Ruck öffnete sich die Tür, und von Canow spazierte herein. «Na, meine Herren? Was meldet unsere vaterländische Presse?», erkundigte er sich jovial.

Nun gehörte die Zeitungslektüre nicht unbedingt zu den dienstlichen Obliegenheiten der Kriminalwachtmeister, doch Galgenberg wusste nur zu genau, was von Canow am liebsten hörte, und las wie aus der Pistole geschossen: «Kaiser Wilhelm hat gestern Abend sechseinhalb Uhr Bergen auf dem Kreuzer Rostock ohne vorherige Ankündigung verlassen. Er wird heute Nacht in Kiel erwartet. Die deutsche Flotte erhielt Befehl, sich an einer bestimmten Stelle. ..»

Von Canow hob die Hand. «Unsere stolze Flotte!», sagte er.

«Die wird den Engländer noch das Fürchten lehren!»

Er griff nach dem Tageblatt, das Galgenberg ihm eilfertig reichte. «Steht da gar nichts über die gestrigen Kundgebungen in Berlin?»

Er blätterte um und war beruhigt. «Ah ja, hier: Die Skandalszenen vor der russischen Botschaft. Massenansammlungen und Verkehrsstockungen Unter den Linden und in der Friedrichstraße. Das hätten Sie sich ansehen sollen, meine Herren! Kann sein, dass wir auch noch zur Bereitschaft abkommandiert werden, falls diese Begeisterung anhält. Und davon gehe ich aus. Jeder deutsche Mann kennt eben seinen Platz!»

Und schritt erhobenen Hauptes hinaus.

Keiner der drei sprach es aus, aber Kappe fiel nichts anderes ein als einer von Galgenbergs frechen Sprüchen: Hohle Köpfe trägt man leicht hoch.