Der Ehrenmord

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DREI

MARTHA JUNGNICKEL, geborene Zeppenfeld, verwitwete Unrauh, war nahe daran, die letzten Nerven zu verlieren. Nur mit einer leichten Kittelschürze bekleidet, fegte sie schwitzend durch Flur und Küche ihrer düsteren Hinterhofwohnung und wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Wie jeden Morgen hatte Otto das Haus am frühen Morgen auf der Suche nach Arbeit verlassen, und auf der Chaiselonge in der einzigen Stube schlief Max grunzend seinen Rausch aus. Jedenfalls vermutete sie das, denn er war erst gegen Morgen hier aufgetaucht.

Im Flur - eigentlich nur ein totes Stück Gang zwischen Küche und Stube - stand Hugo quäkend in seinem Bettverschlag. Sie wusste nicht, womit sie ihn füttern sollte. Das Küchenspind war leer bis auf einen Mehlrest. Da half es nichts, dass sie zum x-ten Mal Tiegel und Tüten beiseite räumte. Sie hatte selber Hunger.

Durch das weit geöffnete Küchenfenster drang aus dem engen Hof nur der faulige Geruch der Müllkästen herein. Kein Hauch bewegte den feuchten Dunst, den die brodelnde Wäsche im Zinkbottich auf der Kochmaschine verbreitete.

Verzweifelt sank Martha auf den Küchenschemel. Was sollte nur werden? Sie hatte der Pankratzen in der Britzer Straße für heute die kleine Wäsche versprochen, konnte dort aber unmöglich mit dem quäkenden Gör anrücken. Die ehrpusselige Pankratzen wusste nicht einmal, dass Lina ein Kind hatte.

Dabei brauchte sie das Geld von der knickrigen alten Kuh.

Wenigstens ein paar lumpige Groschen! Max darum anzugehen war hoffnungslos. Wenn der erst am frühen Morgen in die mütterliche Wohnung fand, dann war das ein Zeichen dafür, dass er abgebrannt war bis auf den letzten Pfennig. Sonst nächtigte er lieber bei seinen Weibern oder wer weiß wo.

Max, den sie mit knapp siebzehn geboren hatte, war immer ihr Sorgenkind gewesen und geblieben, und auch jetzt, wo sie ihn am dringendsten gebraucht hätte, war wenig von ihm zu erwarten. Bei der Hitze verkaufte der Heringsbändiger, bei dem er gelegentlich aushalf, bestimmt keine Fische. Außerdem hätte Max dann längst mit dem in der Markthalle sein müssen.

Als Hugos Blöken die Schmerzgrenze ihrer Ohren überschritt, fuhr sie auf und hastete in den Flur. Halt’s Maul, hätte sie ihn am liebsten angeschrien und derb durchgeschüttelt, aber als das greinende Kind die dünnen Arme nach ihr ausstreckte und ein klägliches «Mam - mam» hören ließ, nahm sie den Jungen wortlos, wenn auch nicht gerade zärtlich, auf den Arm und ließ ihn an ihrem Finger saugen.

«Ja, brüll nur Mam-mam!», sagte sie. «Die hat dich längst vergessen, deine Mam-mam. Die sehen wir vorläufig nicht wieder.»

Ganz wohl war ihr bei diesen Worten nicht. Immerhin hatte sie selber die Tochter dazu gebracht, im Zorn die Wohnung zu verlassen. Nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal war sie drei Nächte lang nicht nach Hause zurückgekehrt.

Mit Hugo auf dem Arm betrat sie das Berliner Zimmer, in dem trotz der Größe des Raums die stickige Luft stand wie eine Wand. Sie schlängelte sich zum einzigen Fenster und riss es auf. Kaum drei Meter entfernt kramte Rataizik herum. Lauernd sah er zu ihr auf und grüßte spöttisch: «Morjen, Frau Jungnickel. Wolln Se Ihren Nachwuchs belüften?»

Der unverschämte Kerl hatte ihr gerade noch gefehlt. Ewig lungerte er vor ihrem Fenster herum mit seinen Glubschaugen. Und Lina hatte er schon ein paar Mal angefasst, wenn sie die Treppe saubermachte.

Wortlos wandte Martha sich ab und trat an Max’ Schlafstelle.

«Wach uff, du verlotterter Kerl!», fuhr sie ihn an. «Du jehst jetzt los und suchst Linan, hörste?»

Max hörte nicht oder tat wenigstens so. Dafür erschien für einen Augenblick Rataiziks Rundschädel unterhalb des Fensterbretts. Martha legte Hugo auf dem Fußboden ab, hastete zum Fenster und beugte sich weit hinaus. «Kümmern Sie sich man um Ihren eigenen Dreck, Herr!», fuhr sie den Mann an, der gebückt zwischen den rostroten Müllkästen unter dem Fenster stand, als suche er etwas. «Sonst fällt mir am Ende noch versehentlich der Inhalt von mein’ Nachtjeschirr aus’t Fenster!»

Rataizik richtete sich auf und grinste ihr frech ins Gesicht.

«Denn passen Se mal uff, dass Ihn’ nich noch wat andret aus’m Fensta fällt, junge Frau!», antwortete er mit einem anzüglichen Blick auf den Ausschnitt ihrer Schürze. Unwillkürlich raffte Martha den dünnen Stoff über dem üppigen Busen zusammen und knallte mit der anderen Hand das Fenster zu. Sein scheinheiliges «Was is denn man mit Ihre Lina los?» hörte sie gar nicht mehr.

Das hatte man davon, wenn man Parterre wohnte. Hochparterre nannte sich das hier, weil im Hausflur vier Stufen nach oben führten und unter den Fenstern deswegen noch Platz für die Müllkästen blieb.

«Du stehst jetzt uff!», brüllte sie den Sohn an und versetzte ihm eine derbe Kopfnuss. «Ick hab et satt mit euch! Eena immer fauler als der andere, und sich bei Muttan durchfressen, det könnta! Aber wo unsereins det Brot hernimmt, intressiert die Herren nich!»

Das war zumindest Otto gegenüber ungerecht, wie sie wusste, und aus Wut darüber schlug sie noch einmal zu, wenn auch nur mit halber Kraft.

«Steh uff, und such Linan!»

Max wehrte ihre Hand ab wie eine lästige Fliege, bevor ihm zum Bewusstsein kam, dass die eigene Mutter seinen Schlaf störte. Er stieß mit derber Faust nach ihr und murrte: «Such doch deine dämliche Lina aleene! Wirst schon wissen, bei wem se sich verkrochen hat.»

«Weiß ich eben nicht!», entgegnete Martha Jungnickel ungewohnt kleinlaut und weinerlich. Sie zog einen wackligen Stuhl mit durchgesessenem Korbgeflecht heran und ließ sich darauf nieder. Hugo kroch zu ihr, zog sich am Schürzensaum hoch und stieß wieder sein jämmerliches «Mam - mam» hervor.

«Maxe! Es handelt sich schließlich um deine eijene Schwester. ..», beschwor Martha ihren Ältesten.

«Höchstens zur Hälfte», brummte der. «Lass mir bloß mit die in Ruhe!»

Das fehlte Martha gerade noch, an den längst dahingegangenen Richard Jungnickel erinnert zu werden, der ihr außer Lina nur einen Batzen Schulden hinterlassen hatte und die böse Erinnerung an all die Weibsbilder, mit denen er sich abgegeben hatte, bevor er eines kalten Herbstabends besoffen vom Kutschbock gefallen und von dem Fuhrwerk überrollt worden war, das ihm nicht einmal gehörte.

Sie schluckte, weil der Unfall sie an die verschwundene Tochter erinnerte, und sagte zu Max: «Als sie klein war, hast du sie jemocht. ..»

«Ja, und wenn se uff mir jehört hätte, jings ihr heute blendend, und du brauchtest dir nich mit det Jör abzuplaren. Aber dämlich wie ihr Weiber seid, hat se den ersten besten uff de Treppe rübersteigen lassen. ..»

Mit einem Schritt stand Martha am Kanapee, und ihre Hand fuhr ein weiteres Mal in Max’ Gesicht. «Versündje dir nich, du Lude!», keifte sie. «Du wolltest sie uffn Strich schicken, du Strolch!»

«Na und?» Max richtete sich auf. Tiefe Kratzspuren zierten seinen ausgemergelten Oberkörper. «Da hätte se wenigstens ’n paar Sechser vadient bei ihr Vergnüjen. Aber sie macht’s ja lieber umsonst, die feine Dame! Wer weeß, vielleicht hat se ja ’n reichen Kober mit orntlich Asche erjattert. War doch immer ihr Traum!»

«Und lässt mir hier mit det Jör alleene? Nee, mein Lieba! So eene is meine Lina nich! Ick sahre dir, et is wat passiert, und wir müssen ihr suchen!»

«Denn such ma scheen.» Max schloss die Augen und ließ sich auf seine Schlafstätte zurücksinken, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nicht länger etwas an.

«Komm, mein Kleena.» Beinahe zärtlich hob Martha ihr greinendes Enkelkind auf und ging zur Tür. «Denn müssn wa uns ehm bei die Blauen nach deine Mutter erkundigen. Die wer’n schon wissen. ..»

«Biste meschugge?» Mit Schwung warf Max das Bettzeug von sich und stand auf. Nackt und bleich und drohend stand er da, die langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ängstlich klammerte sich Hugo an Marthas geschwollenes Bein und beguckte Maxens langgezogenes Glied.

«Bei die Blauen! Wat Bessret fällt dir wohl nich ein, wie? Willste, dass die hier komm’ und allet koppstellen, dein Spinde durchwühlen und inne Nachbarschaft rumhorchen?» Er äffte das Gerede nach: «Bei die Jungnickeln is nämlich de Tochter verschwunden! Wer weeß, wo die ihr hinjetan ham. .. Diese Leute is doch alles zuzetraun!»

«Na, wat soll ick denn machen? Du hilfst mir ja nich, det Mädel zu suchen.»

Max warf seine langen Locken nach hinten und strich sie mit beiden Händen glatt. «Mensch, wat gloobste denn, wat ick die janze Nacht jemacht habe? Überall bin ick rumjekrochen und habe rumjefraacht. ..»

«Nenn mir nich Mensch! Ick bin immer noch deine Mutta! Haste wenichstens wat rausjekricht?»

«Nich die Bohne. Keena will ihr jesehn ham.»

«Aber es war schon die dritte Nacht!», jammerte Martha. «So lange is se noch nie wechjebliem.»

«Eenmal is keenmal.» Ungeniert kratzte sich Max die Hoden.

«Noch sind ja die Nächte warm.»

«Und wer hat dir so zerschrammt in die warmen Nächte?» Anklagend wies die Mutter auf die Nagelspuren auf seiner Brust.

Max’ Miene verfinsterte sich. Doch dann überzog ein breites Grienen sein Gesicht. «Allet aus reine Liebe, nischt weiter», sagte er stolz. «Manchmal sind die Mädels wie doll und verrückt.»

Martha schüttelte den Kopf. «Doll und verrickt - det werd ick hier ooch noch mal.»

VIER

GEGEN MITTAG war die Temperatur so weit angestiegen, dass Galgenberg nicht nur sein Jackett ausgezogen, sondern sogar die Hemdsärmel zweimal umgeschlagen hatte - ein geradezu unerhörter Vorgang, wie Kappe fand. Sie hatten das Fenster geschlossen und die schweren Vorhänge vorgezogen, aber die Hitze war aus dem engen Hof längst eingedrungen und erschwerte jede Tätigkeit. Kappe hockte apathisch hinter dem Schreibtisch und tat, als brüte er über seinem Bericht. In Wahrheit dachte auch er darüber nach, sich wenigstens etwas Luft zu verschaffen, als Dr. Kniehase zur Tür hereintrat und ihn mit einem maliziösen Lächeln musterte.

 

«Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch immer in der Gegend des seines Geruchs wegen unrühmlich bekannten Luisenstädtischen Kanals wohnen, mein lieber Kappe?», fragte er anzüglich.

Kappe missfiel allein schon der Ton der Frage. Aber was half es? Er musste nicken. «Waldemarstraße», fügte er vage hinzu.

Kniehase griente und sah dabei aus wie ein Hamster, der ein Loch im Getreidespeicher entdeckt hat. «Na, dann kommen Sie mal», sagte er. «Da wollen wir beide mal einen netten kleinen Ausflug unternehmen. Ich hole nur meine Photo-Utensilien.»

Er überließ es Kappe, den schweren Photokoffer zu schleppen. Sie verließen das Gebäude durch die übliche Seitenpforte, und Kniehase schlug auch richtig den Weg nach rechts zur Jannowitzbrücke ein. Statt jedoch die nächste Haltestelle anzusteuern, überquerte er an der Ecke leise vor sich hin pfeifend die Alexanderstraße. Ob Kappe ihm folgte, schien ihn nicht zu interessieren.

Erst vor dem Postamt an der Magazinstraße wandte er sich halb um und sagte: «Habe noch ein paar dringende Briefe abzusenden. Warten Sie ruhig hier.»

Verblüfft blieb Kappe in der knallenden Sonne zurück. Der hatte vielleicht Humor! Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei den dringenden Briefen um Kniehases Privatkorrespondenz handelte. Aber das ging ihn nichts an.

Unruhig schritt er vor dem Postgebäude auf und ab und hatte sich gerade entschlossen, doch in die kühle Schalterhalle einzutreten, als Kniehase forsch heraustrat und es tatsächlich wagte, ihn zur Eile anzutreiben: «Nun aber los, Kappe! Das wird heute vielleicht noch ein langer Tag!»

Kappe stiefelte einen halben Schritt hinter ihm. «Dann ist es aber besser, wir nehmen jetzt den Omnibus oder die Straßenbahn», sagte er.

«Nehmen wir», entgegnete Kniehase, schritt aber unbeirrt auf der falschen Straßenseite weiter und bog in die Blumenstraße ein. An der Haltestelle für den Kraftomnibus Nr. 2 blieb er stehen und sah sich nach Kappe um.

«Der fährt aber nicht in die Luisenstadt», wandte der ein.

«Habe ich behauptet, wir müssten in die Luisenstadt?», fragte Kniehase zurück. «Keine Angst. Da kommen Sie noch früh genug hin. Jetzt geht’s erst mal an einen angenehm kühlen Ort, mein lieber Kappe. Warten Sie’s nur ab.»

Seestraße stand an dem Omnibus, und natürlich musste Kniehase auf das offene Verdeck steigen. «Kommen Sie, Kappe, hier oben ist die Luft frischer», rief er auch noch, so dass Kappe ihm widerstrebend folgen musste, wobei ihm der Koffer zusätzliche Nöte bescherte. Wohin dieser Geheimniskrämer Kniehase mit ihm wollte, war ihm noch immer ein Rätsel.

Vorsichtig manövrierte er sich zu der Mittelbank auf dem Deck und ließ sich neben Kniehase nieder. Zu seinem Schrecken gewahrte er, dass der Bus nach links abbog und die Waisenbrücke überquerte. Auch das noch! Er schloss die Augen, um nicht hinunter auf das Wasser blicken zu müssen, und hoffte, Kniehase würde es nicht bemerken.

«Machen Sie ruhig noch ein Schläfchen», sagte der großmütig. «Wir fahren noch eine ganze Weile.»

Kappe schämte sich, doch die brennende Sonne und der Lärm in den staubigen Straßen überwältigten ihn wie eine Lähmung. Als er die Augen wieder öffnete, überquerten sie gerade den Spittelmarkt.

Mehr als eine halbe Stunde verging, bevor sie endlich die Linden passiert hatten, unter denen halb Berlin unterwegs zu sein schien.

Erst hinter der Weidendammer Brücke überkam Kappe eine plötzliche Ahnung, wohin die Reise ging. Und richtig. Am Oranienburger Tor kletterten sie von ihrem Hochsitz und bogen gleich darauf in die Hannoversche Straße ein. Das hatte ihm nach dieser Fahrt wahrhaftig noch gefehlt. Da leuchtete auch schon der gelbe Klinkerbau in der Sonne: das Leichenschauhaus.

Seit seiner ersten Berliner Leiche war er nun schon einige Male hier gewesen, aber dass er sich an das Haus und dessen eigenartige Atmosphäre gewöhnt hatte, konnte er wirklich nicht behaupten.

Um seine Beklommenheit zu überspielen, wandte er sich betont sachlich an Kniehase: «Wen hat man denn aus dem Luisenstädtischen Kanal geborgen?»

Kniehase hob die Schultern. «Wir werden sehen», sagte er sibyllinisch.

Ein spitzbärtiger junger Mediziner mit goldumrandetem Kneifer, der sich als Doktor Levinson vorstellte, erwartete sie. «Das hat ja gedauert!», merkte er kritisch an. «Da sind wir ja schneller in Paris, wenn’s ernst wird!»

Kniehase musterte ihn säuerlich. «Ist die Frau nicht sowieso tot?», fragte er. «Die rennt uns doch nicht weg.»

«Na, beinahe wäre sie weg gewesen.»

Der Doktor eilte ihnen mit langen Schritten voraus und öffnete einladend die Tür zum Sektionsraum. Kappe roch die Leiche, bevor er sie auf dem Metalltisch wahrnahm.

«Die Herren von der Feuerwehr waren nämlich der Meinung, es handle sich um eine ordinäre Wasserleiche. Doch weit gefehlt!» Doktor Levinson schlug das Tuch zurück, und Kappe sah zuerst das lange goldblonde Haar, bevor er das aufgedunsene Gesicht der jungen Frau wahrnahm, auf dem sich blutunterlaufene Flecke abzeichneten.

«Sehen Sie selbst - die Cyanosis und die konjunktivalen Blutungen sprechen eine eindeutige Sprache», erklärte der Pathologe ebenso lebhaft wie unverständlich und legte dabei den zerschundenen Hals der Leiche frei. «Knorpel eingedrückt. Dazu Blutungen in der Mundschleimhaut und etwas schwächer in der Halsmuskulatur. Von einem etwas älteren Bluterguss unter dem rechten Auge und etlichen Flecken am ganzen Körper einmal abgesehen. Blaue Flecke zum Beispiel an den Oberschenkeln.» Und schon schlug er das weiße Tuch über den strammen, kurzen Beinen der Frau zurück.

Eine dicke Fliege brummte durch den Raum. Bei aller Beherrschung hielt es Kappe nicht länger neben der Leiche. Er hielt den Atem an und machte mit weichen Knien einige Schritte zum Fenster. Als er sich wieder umwandte, fiel sein Blick auf eine weite Schale mit blutig-hellem Inhalt.

Er stöhnte hörbar auf. Levinson, der seine Ausführungen keinen Augenblick unterbrochen hatte, maß ihn mit einem spöttischen Kneiferblitzen. «Das ist ein Fötus», sagte er belehrend. «So haben Sie auch mal ausgesehen - etwa drei Monate nach Ihrer Zeugung.»

«Sie war also schwanger?», vergewisserte sich Kniehase. Levinson nickte. «So ist es. Und es wäre nicht ihre erste Geburt gewesen. Sie hat übrigens auch unmittelbar vor ihrem Tod noch koitiert.»

«Eine Vergewaltigung?», erkundigte sich Kniehase, dem das alles nichts auszumachen schien.

Der Doktor zuckte die Achseln und spreizte seine Hände. «Ich glaube kaum. Die Verletzungen sind sämtlich älteren Datums.»

Er bedeckte die Leiche wieder mit dem Tuch und wandte ihr den Rücken zu. «Ein wahres Glück, dass ich heute Dienst habe und nicht einer von diesen. .. Nun ja, lassen wir das. Sie ist jedenfalls unzweifelhaft erdrosselt worden und nicht ertrunken. Mit höchster Wahrscheinlichkeit mit jenem Seidentuch erwürgt, das sie noch um den Hals trug.»

Er griff nach einem bunten Tuch, das auf dem Tisch neben der unsäglichen Schale lag. Kniehase bat um ein Behältnis und fragte: «War das Tuch verknotet?»

Levinson runzelte die Stirn. «Nicht fest», sagte er. «Vermutlich hat es ihr der Täter wieder umgelegt, bevor er die Leiche ins Wasser stieß.»

«Oder die Täterin», gab Kappe zu bedenken. Eifersucht war schließlich auch ein Mordmotiv.

«Das glaube ich kaum», widersprach der Doktor scharf. «Es handelt sich bei der Toten um eine dralle, kleine Person mit kräftigen Händen.»

«Irgendwelche Abwehr- oder Kampfspuren?», wollte Kniehase wissen.

«Nichts dergleichen.»

Kniehase hob die Schultern. «Tja, wenn Sie sich tatsächlich so sicher sind. ..», sagte er.

«Absolut sicher. Wir werden selbstverständlich noch den Mageninhalt und die Lunge genauer untersuchen, doch wird das kein anderes Ergebnis erbringen.»

«Und wie lange, glauben Sie, hat sie im Wasser gelegen?»

«Schwer zu sagen bei diesen Temperaturen. Nicht länger als zwei, drei Tage, meine ich. Vielleicht haben Sie ja ’ne passende Vermisstenmeldung. ..»

Eine halbe Stunde später hatte Kniehase seine Photos gemacht, und sie verließen den gelben Klinkerbau. Mit widerstrebenfeuchten Wäschesack mit der Kleidung der Toten. Schmuck oder irgendetwas anderes, was auf ihre Identität hingedeutet hätte, war nicht bei ihr gefunden worden.

Der nachmittägliche Verkehr auf der überfüllten Friedrichstraße schleppte sich stockend dahin. «Wollen wir nicht auf die Busfahrt verzichten und die zwei Stationen mit der S-Bahn fahren?», schlug Kappe vor, obwohl ihm Wäschesack und Photokoffer eine Last waren. Kniehase war einverstanden, doch als sich kurz darauf eine grellgeschminkte Kokotte an seinen Arm hängte und ihm mit deutlichen Worten nahelegte, doch erst mal etwas Kaltes mit ihr zu trinken und dann. .., verfluchte er Kappes Idee. Energisch schubste er die Frau beiseite und schnauzte Kappe an:

«Sie wissen anscheinend nicht, was das hier für eine Gegend ist! Jetzt sprechen einen die Nutten schon am hellerlichten Tag an, als fürchteten sie, dass wir morgen alle ins Feld ziehen!»

Kappe, den vertrackten Beutel weit von sich haltend, hielt es für angebracht zu schweigen.

FÜNF

OTTO UNRAUH war ein eher schmächtiger, in den Schultern allerdings breit auslegender junger Mann mit kurzem Haar und kantigem Gesichtsprofil, zu dem das eingedellte Nasenbein nicht recht passen wollte. Entgegen allen Hänseleien, es wäre ihm bei einer der üblichen Auseinandersetzungen unter den «Scharfen» vom Moritzplatz gebrochen worden, verdankte er es dem Sport, dem er sich mit Leib und Seele verschrieben hatte, dem Boxen nämlich. Fast jeden Abend verbrachte er in dem heruntergekommenen Tanzsaal der Sportklause in der Alexandrinenstraße, in der auch die «Scharfen Jungs» vom Moritzplatz verkehrten, die ihn durchaus respektvoll zu den ihren zählten. Er trank ein, zwei Bier, trainierte mit Sprungseil und Sandsack, guckte den anderen im Ring zu und diente in letzter Zeit häufiger mal dem einen oder anderen für ein paar Sechser als Sparringspartner. Geld brauchte er immer, und mit Arbeit sah es mau aus. Mit Boxkämpfen übrigens auch. Nur hin und wieder gelang es ihm, seine gefürchtete Linke einzusetzen. In der Riege galt er nur als Vertretung. Außer einer ausgeleierten Turnhose besaß er ja nicht mal vernünftige Sportkleidung.

Fragte man ihn nach seinem Beruf, so bezeichnete er sich als Stubenmaler - eine Profession, die auch sein Vater ausgeübt hatte, bevor ihn die Lungenschwindsucht mit knapp 33 Jahren dahingerafft hatte. Das käme von dem giftigen Blei in den Farben, hatte in der Schule ein Lehrer erklärt. Otto hatte da seine Zweifel. Man aß die Farbe schließlich nicht.

Es war inzwischen zwei Monate her, dass er die letzte Stube gemalert und tapeziert hatte. Den meisten Leuten in der Gegend ging es wie ihm: Sie hatten kein Geld. Die goldenen Jahre der prächtigen Neubauten schienen endgültig vorbei zu sein.

Otto scheute keine Arbeit. Im Urbanhafen kannte man ihn und wusste, dass man bedenkenlos die schwersten Säcke auf seine breiten Schultern laden konnte. Aber im Augenblick gab es wenig zu laden. «Is sich wie abjeschnitten», murrte der Schieber achselzuckend in seinem breiten Ostpreußisch. «Wird Zeit, dass der Kriech anfangt.» Und irgendwann, als Otto am späten Nachmittag noch einmal nachfragte, schob er eine beiläufige Bemerkung nach, die Otto wie ein Tiefschlag in die Magengrube traf: «Hast jeheert? Heut morjen ham se ne Marjell ausn Luisenstädtschen jezoren. Mit janz langes blondes Haar. ..»

Im Nu stand Otto vor dem Riesenkerl, der ihn um einen halben Kopf überragte. «Sag das noch mal!», forderte er. Der Mann, der seit Jahren den Kolonnenschieber für den Lademeister spielte und sich seiner Macht über die Hilfskräfte bewusst war, guckte ihn verständnislos an. «Was is denn mit dich, du Lorbass? Wird ja wohl nicht deine Braut jewesen sein, oder?»

«Hast du sie gesehen? Ich meine die. ..» Er suchte nach einem anderen Wort als Leiche. «.. . das Mädchen?»

«Äich nich. Hat mir ejner von die Schiffers erzählt, die da mit ihre Kähne im Kanal liejen. ..» Er wies hinüber zur Kanaleinfahrt am anderen Ufer.

Um welchen Schiffer es sich handelte, wusste er angeblich nicht. Um einen von den Oberschlesiern, mit einem gewissen Antek als Bootsmann. Mehr war von ihm nicht zu erfahren.

 

Otto, von bangen Ahnungen überwältigt, stürzte los. Im Laufschritt überquerte er die Admiralbrücke und war schon drauf und dran, nach links zum Kanal abzubiegen, als ihm zum Bewusstsein kam, dass seine Sorge vielleicht unbegründet sein könnte. War es nicht besser, vorher in der Adalbertstraße vorbeizugehen? Möglicherweise war Lina im Laufe des Tages aufgetaucht.

Zu Hause im Hinterhof jedoch traf er nur seinen Bruder Max an, der sich gerade ausgehfertig machte. «Musste dir noch jedulden, Bruderherz», sagte der mit milder Nachsicht, «bevor de det Aas verdientermaßen eens uffs Maul haust.»

Nie wieder, hatte Otto längst beschlossen, würde er sich von seiner Wut überwältigen lassen und die Schwester schlagen. Immer hatte er sie verehrt und beschützt, sein blondes Engelchen, auch vor Max, gegen den er manchen bösen Verdacht hegte. Aber als sie dann so mir nichts, dir nichts schwanger wurde und statt einer vernünftigen Auskunft über den Vater oder Vergewaltiger - oder wie immer man einen Kerl nennen wollte, der sich heimtückisch über ein fünfzehnjähriges Kind hermachte - nur schnippische, um nicht zu sagen rotzfreche Antworten lieferte, war ihm ein paar Mal die Hand ausgerutscht. «Ich hasse euch alle», hatte Lina gekreischt, «dich mit deinem Glauben an die Jungfrau Maria und Maxe, das olle Schwein, sowieso!»

Und Max hatte seinem Ruf alle Ehre gemacht, ölig gegrient und gesagt: «Nu sei wenichstens jetz uff Draht, und schnapp dir die Kerle. Et jibt jenuch, die machens jerne mit ’ner Schwangeren.»

Das alles ging Otto durch den Kopf, während er Max beobachtete, der vor dem Spiegel stand und sich Pomade ins Haar klatschte. «Was würdest du denn sagen, wenn sie tot wäre?»

«Na herzlichen Jlückwunsch!» Max drehte sich um und lachte unbekümmert. «Denn kannst du dir ja künftig um det Balg kümmern, Onkelchen.»

Er blieb vor Otto stehen. Die Zeiten, wo er dem Jüngeren mal ganz auf die Schnelle seine körperliche Überlegenheit bewiesen hatte, waren vorbei.

«Wo ist Hugo überhaupt?», fragte Otto.

«Mutta wirdn wohl mitjenomm’ ham bei de Wäsche.»

Max ging zur Tür, die aus dem Berliner Zimmer direkt ins Treppenhaus führte. «Wie kommsten überhaupt dadruff, det se nich mehr leben tut?»

«Sie haben heute morgen ’ne Wasserleiche aus dem Kanal gezogen. Eine mit langen blonden Haaren. ..»

«Ach du jrüne Neune!» entfuhr es Max. Das war sein einziger Kommentar.