Zwei gegen Ragnarøk

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Zwei gegen Ragnarøk
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Hans-Jürgen Hennig

Z w e i g e g e n

R a g n a r ö k

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Heimkehr

Björkendal

Das Schlammmonster

Strumpfhilda

Hilda und das Rabenei

Skyggi

Fenriswolf und Mitgardschlange

Falki wird Schmied

Trolli

Ein besonderer Tag

Wie Thurid zu ihrem Namen kam

Andreas

Der Stelzentroll

Leifs Tod

Geri und Freki

Andreas der Lehrer

Mittsommer

Apfelernte und der versuchte Raub

Rückkehr des Vaters

Das Fest

Ferran der Schleuderer

Falki der Schmied

Insel im Nebel

Elchjagd

Bootsbau

Die erste Fahrt

Waljagd

Überfall auf das Dorf

Thing

Aufbruch

Cassriel

Trollis Rettung

Über die Berge

Am fallenden Wasser

Sölvis Leid

Der Göttertrank

Bei den Slawen

Die Ranen

1000 Jahre später

Epilog

PROLOG

Der Fjord glänzte still in der nachmittäglichen Sonne, als eine Möwe die Ruhe unterbrach und laut kreischend, über dem Uferstreifen zu kreisen begann. Irgendetwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Im Schatten der Holunderbüsche, die den ganzen Hang zum Ufer säumten, verbargen sich drei Gestalten. Sie standen eng beieinander und beobachteten gespannt den Weg, der vom Dorf zum Anlegesteg führte.

„Gebt acht, dort kommt sie“, flüsterte der Älteste von ihnen und deutete mit seinem prächtig geschnitzten Stab in Richtung Dorf. Obwohl der hochgewachsene Alte nur ein Auge besaß, zeigten seine Mine und auch seine Stimme deutlich, dass er das Befehlen gewohnt war. Sein blauer Filzhut beschattete zwar das Gesicht, aber sein Auge blickte dennoch zwingend auf seine wunderschöne Begleiterin und den reckenhaften, dunkel gekleideten Krieger an seiner Seite. Der Alte deutete auf ein Mädchen, das sich dem Ufer rasch näherte.

Die Frau, deren Kopf ein Kranz aus Gänseblümchen schmückte, drängte sich zwischen den beiden Männern hindurch um besser sehen zu können. Als das Mädchen sich dem Hang näherte, beschattete sie mit der Hand ihre Augen und flüsterte: „Allvater1, ich kenne sie doch. Waren wir nicht zusammen hier, bei ihrer Geburt?“

Der Einäugige knurrte etwas in seinen Bart und nickte aber dann. Zu seinen Füßen lagen zwei riesige Wölfe, die ständig zu ihm aufsahen, als ob sie auf einen Befehl warten würden. Er drückte ihre Köpfe nieder und brummte: „Seid still, liegen bleiben.“

Das Mädchen war an den Holunderbüschen vorbei und sprang nun, barfuß und leichtfüßig, über die großen Ufersteine des Fjordes, zielsicher von einem zum anderen und ihre blonden Zöpfe wippten lustig auf und ab. Der Wind ließ ihr weißes Hemd wie ein Fähnchen flattern, dass sie weithin zu sehen war. Leise vor sich hin summend hüpfte sie weiter, von Stein zu Stein. Am Rande des Wassers, dort wo die Steine feucht glänzten, wurde sie langsamer und balancierte geschickt auf ihnen, bis die sanften Wellen ihre Zehen gerade so berührten. Nach einem letzten Sprung blieb sie stehen und wandte sich der Sonne zu. Während ihre Zehen im Wasser spielten zeigte sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln, wie es nur glückliche Kinder zeigen können. Mit ihrer linken Hand drückt sie eine Strohpuppe an die Brust, während sie in der anderen ein hölzernes Kinderschwert hielt. So verharrte sie mit geschlossenen Augen und summte weiter ihr Liedchen.

„Seht, wie schön sie ist“, bemerkte die Frau im Holundergebüsch. „Ihr Haar ist wie Gold und Kupfer in Einem. Ja, das ist sie, Hilda.“

Der reckenhafte Krieger deutete nach vorne. „Psst, da kommt noch einer.“

Nicht weit vom Ufer löste sich eine zweite, kleine Gestalt aus den Holunderbüschen. Es war ein Junge, sehr schlank und etwas älter als das Mädchen. Sein Gesicht war vom schnellen Lauf leicht gerötet und seine blonden Haare flatterten wirr um den Kopf. Auch er hielt ein hölzernes Schwert in seiner Hand.

Er blieb stehen, schirmte seine wachen Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und schaut sich suchend um. Als er Hilda entdeckte, sprang er in federleichten Sätzen auf sie zu. Sein Mund setzte zu einem Ruf an, doch dann hielt er inne und bewegte sich plötzlich leise, geschmeidig schleichend, auf das Mädchen zu. Ganz vorsichtig setzt er auf dem Ufergeröll einen Fuß vor den anderen, damit sich ja kein Steinchen bewegte. Jetzt schlich er so langsam, dass man meinen könnte, die Zeit stehe still.

Doch als er hinter dem Mädchen stand und seinen Arm nach ihm ausstreckte, rief es lachend: „Falki, ich habe dich doch gehört, aber du bist wirklich der beste Schleicher von allen.“

Der Junge grinst über das Lob, legt seinen Arm um sie. „Hilda, du bist die beste Schwester von allen.“

„Hihi, du hast ja nur eine.“

Still nebeneinander stehend, ließen sie sich von den Wellen ihre Füße benetzen und schauten fasziniert auf das tausendfache Glitzern im Fjord. Sie bemerken nicht, dass sich noch jemand vorsichtig näherte. Es war ebenfalls ein Junge, etwas älter als die beiden, größer und mit kräftigen Schultern. Sein Gesicht zeigt höchste Anspannung. Auch er war bewaffnet, trug ein Holzschwert im Gürtel und zwei Wurfspeere in seiner Hand. Geräuschlos schleichend überquerte er den Geröllstreifen. Als er kurz hinter dem Geschwisterpaar anlangte und die beiden mit einem Sprung erschrecken wollte, drehten sie sich überraschend um.

„Alfger, so leise, dass wir dich nicht hören, kannst du gar nicht schleichen“, kicherte das Mädchen.

Alfger guckte erst enttäuscht, aber als die beiden ihn anlachten und Hilda ihm die Hand entgegenstreckte, lachte auch er und stellte sich neben sie. Die beiden Jungen legten ihre Arme um Hildas Schultern und so standen sie, zu dritt, die Zehenspitzen im Wasser und schauten fasziniert auf den im Sonnenlicht gleißenden Fjord.

Hilda fragt leise: „Ob es morgen wieder so schön wird, wie heute?“

 

Die drei Gestalten hinter den Holunderbüschen zogen sich einen Schritt zurück und das Kreischen der Möwe wurde wieder lauter. Der Einäugige drehte sich um und wandte sein Gesicht der Frau und dem Recken zu. Er strich seinen Bart glatt und blinzelte die beiden erst verschmitzt und dann ernst an.

„Achtet gut auf sie! Ich befehle es euch. Wenn es eine Hoffnung für uns gibt, eine Hoffnung Ragnarök zu verhindern, dann sind sie es.“

Er legte seine Arme auf auf die Schultern seiner beiden Begleiter. „Die Nornen haben es mir gesagt. Beschützt sie gut.“

HEIMKEHR

Im Langhaus herrschte ein durchdringendes Gemurmel. Fast das ganze Dorf war um die große Feuerstelle versammelt, die Kinder auf den vorderen Plätzen und die Erwachsenen dahinter. Wenn die Tage kürzer wurden und die winterliche Dunkelheit unendlich lang wurde, waren die gemeinsamen Abende am Feuer immer Höhepunkte, die alle in Björkendal sehr mochten.

Das Gemurmel verebbte ganz plötzlich und aus dem Halbdunkel der hinteren Räume näherte sich die Hauptperson des Abends, Alvitur, der Dorfälteste und der beste Geschichtenerzähler. Es wurde mucksmäuschenstill, als er sich am Feuer auf seinem Stuhl niederließ. Langsam schaute er in die Runde und zupfte seine Augenbinde zurecht. Alle kannten diese Geste nur zu gut und die Kinder wussten meist nicht, ob nun ein Lob folgte oder Schelte, aber Alviturs Gesicht zeigte ein Lächeln.

In die Stille hinein sprang die sechsjährige Hilda von ihrer Bank auf, unter dem Arm ihre Puppe und schnipste mit den Fingern. Ganz aufgeregt rief sie: „Alvitur, erzählst du die Geschichte von Björkendal? Bitte!“ Sie hüpfte auf der Stelle, dass ihr älterer Bruder Falki, der neben ihr saß, schief grinste und mit dem Kopf schüttelte.

Hilda ließ sich aber nicht beirren und rief wieder: „Bitte, die Geschichte von Björkendal, als du zurückkamst!“

Eine leichte Unruhe und Geraune ging plötzlich durch die große Runde, aber als Alvitur seinen Arm hob, wurde es sofort wieder still.

Alvitur lächelte fast spitzbübisch. „Ja, meine schöne Hilda, genau diese Geschichte wollte ich heute Abend erzählen, weil ich schon vorher wusste, dass du danach fragen würdest.“ Sein Lächeln erlosch langsam und er lehnte sich mit konzentriertem Gesicht zurück. „Es ist ja nun schon einige Jahre her, und du Hilda, du warst noch nicht geboren, als ich, der damals noch Djarfur hieß, von meinen Reisen zurückkehrte. Hört zu.“

***

Das schlanke Boot lag gut am Wind und Djarfur genoss es, wie der Wind durch seine Haare wehte. Er hielt das Steuerruder fest in den Händen und ließ seine Gedanken weit vorauseilen, weit über den wolkenverhangenen Horizont hinaus, bis in das ersehnte Björkendal, seiner ersehnten Heimat.

„Wie lange waren wir weg von zu Hause?“, fragte er sich. „Über zwanzig Jahre sind es wohl. Wir waren zu fünft aufgebrochen und nun kehrten nur noch zwei zurück. Zwei Gefährten weilen bereits in Walhall2 und Teemu ist verschollen.“

Bei den Gedanken an Teemu fiel im das Mädchen Kylikki ein. Sie war Teemus ältere Schwester und sie hatte Djarfur geliebt. Das hatte er damals gespürt, aber er hatte nur ihre Hingabe genießen wollen und sie für seine Abenteuerlust verlassen. Bei dem Gedanken an sie verklärte sich sein Blick. Leise formten seine Lippen Worte: „Kylikki, verzeih mir.“

Djarfur schob diese Gedanken beiseite und richtete seinen Blick wieder auf den Horizont. Ganz unvermittelt begann sein Herz vor Freude heftig zu schlagen; bald würde er sein Björkendal wiedersehen und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Doch als, wenig später, sein Blick auf das große Bündel aus Fellen und Decken, am Boden des Bootes fiel, wich seine Freude einem beklemmenden Gefühl. Neben diesem Bündel saß seine dreizehnjährige Tochter Einurd. Sie hielt mit einer Hand ihren Umhang am Hals geschlossen und mit der anderen, die Hand ihrer Mutter, die dort reglos in den Fellen lag.

Djarfur presste die Lippen zusammen. Seine geliebte Saida lag dort in Felle gewickelt, am Boden und kämpfte mit dem Tode. Bitternis stieg in ihm auf; die Liebe seines Lebens lag todkrank im Boot und er, Djarfur, der große Heiler, konnte ihr nicht helfen. So vielen Menschen hatte er mit seiner Heilkunst, helfen können, aber bei seiner geliebten Frau versagte all sein Können. Alle bisherigen Mittel, die er versucht hatte, blieben wirkungslos. Die Trauer darüber schnürte ihm das Herz zusammen. Der Schmerz um ihre Krankheit ließ ihn unaufmerksam werden, so dass er nicht merkte, wie der Wind immer heftiger wurde und langsam zu einem Sturm heranwuchs.

Erst als Leif, sein alter Weggefährte, rief: „Djarfur, halte Kurs!“, schreckte er aus seinen Gedanken auf und korrigiert mit dem Steuer die Richtung.

Er blickt hinüber zu Leif, seinem treuesten Gefährten. Beide hatten zusammen so viel durchgestanden, dass sie schon nicht mehr zählen konnten, wie oft der Eine dem Anderen das Leben gerettet hatte.

Plötzlich stutzte Djarfur und schaute sich suchend um. Die Küste war seinem Blick völlig entschwunden. Hatte er, so in seine Gedanken vertieft, den Kurs ganz verlassen? Als der böige Wind Sturmstärke erreicht hatte, rief er Leif zu: „Hol das Segel ein und nimm die Ruder!“

Dichter Regen nahm ihm nun auch noch die Sicht und so angestrengt er auch schaute, die Küste war nicht mehr zu sehen. Er musste den Kurs neu bestimmen. Djarfur nestelte ein Lederbändchen aus dem Halsausschnitt, an dem ein orangefarbener Stein hing; sein Sonnenstein3. Er hielt sich den Stein vor sein Auge und versuchte die Sonne zu finden, so wie er es bei bedecktem Himmel schon hundertmal getan hatte. Nach mehreren vergeblichen Versuchen fluchte er kurz und steckte den Stein wieder weg. Er schüttelte den Kopf.

„Wieso versagt der Stein? Der hatte doch immer funktioniert, egal, wie trübe der Himmel war.“

Ein ungutes Gefühl und merkwürdige Ahnungen beschlichen ihn.

Seine Tochter wandte sich ihm zu und er sah, dass Tränen über ihr schönes Gesicht liefen. Einurd hatte sicher begriffen, wie es um ihre Mutter stand, aber keine Klage kam über ihre Lippen. Djarfur schluckte die aufkommende Bitterkeit hinunter; er musste den Kurs wiederfinden.

Da brüllte Leif in den Sturm: „Djarfur, wo fahren wir hin? Ich sehe kaum noch etwas. Dieser verdammte Nebel! Wo kommt der denn so plötzlich her?“

Erst jetzt bemerkte auch Djarfur den Nebel, der immer dichter wurde und als er das Wasser beobachtete, stellte er fest, dass sie kaum vorwärts kamen, obwohl Leif aus Leibeskräften ruderte.

„Ist hier eine Strömung? Hier war doch nie eine Strömung“, ging es ihm durch den Kopf. „Die Sonne ist nicht zu finden. Wir haben den Kurs verloren und nun auch noch dieser Nebel …“

Dieses merkwürdig, beklemmende Gefühl kam wieder hoch und ihm fielen plötzlich uralte Geschichten ein, die etwa so, oder ähnlich anfingen.

Er wusste, dass sie vielleicht einen Vierteltag vom heimatlichen Fjord entfernt waren und wenn hier eine Strömung war, dann war sie ihm unbekannt, also neu?

Der Sturm hatte sich inzwischen fast zu einem Orkan entwickelt und die Böen rissen an Djarfurs Gewand, heulten in den Ohren und das Boot ächzte unter den Stößen der Wellen. Es tanzte wie ein Spielball auf den riesigen Wogen und vollführte wahre Sprünge durch das tosende Meer. Djarfur hatte inzwischen große Mühe, das Steuer überhaupt noch zu halten und rief Leif zu: „Halte dich genau in der Strömung, sonst kentern wir!“

Leif gab sein Bestes und ruderte aus Leibeskräften.

„Hier war doch früher keine Strömung!“, rief Leif durch den tosenden Wind zurück.

Er schaute, mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht, zu Djarfur und schrie: „Soll das unsere letzte Fahrt werden, nachdem wir so viel durchgestanden haben?“

Leif keuchte vor Anstrengung; er musste aufpassen, dass seine Ruder nicht ins Leere gingen, so sehr sprang das Boot über die Wellen.

„Odin!“, rief er in den Sturm, „lass uns nach Hause kommen! Odin, Thor, Freya, spielt nicht mit uns, lasst uns das letzte Stück auch noch schaffen!“

Djarfur sah kaum noch Etwas und der Nebel hatte bereits seine Kleidung völlig durchnässt. Er spürte kaum noch seine Hände, aber er würde bis zum letzten Augenblick kämpfen, das wusste er. Bei einem Blick auf seinen Gefährten sah er, dass Leif völlig entkräftet war und die Ruder sicher gleich fahren lassen würde.

„Leif, komm und halte du das Steuer eine Weile, ich will für dich rudern!“, brüllte Djarfur gegen den heulenden Wind.

Leif hatte verstanden und zog die Ruder kurz ein. Als er aufstehen wollte, um zum Steuer zu wechseln, knirschte es gewaltig unter dem Kiel und es folgte ein so kräftiger Ruck, dass beide Männer über die Ruderbänke stolperten. Djarfur landete am Boden, neben der in Decken gehüllten Saida. Als er sich langsam wieder aufrichtete, schaute er in Leifs entsetztes Gesicht.

„Was war das denn? Wir sind gestrandet, aufgelaufen? Hier gibt es doch gar kein Land, oder sind wir …“ – und schon wieder drängte sich ihm der Gedanke an diese unheimliche, alte Geschichte auf.

Er konnte seinen Satz auch nicht vollenden, da unterbrach ihn auch schon Leif: „So weit sind wir nicht vom Kurs abgewichen. Hier gibt es doch eigentlich kein Land, das weiß ich genau!“

Djarfur richtete sich vollends auf und sah sich um: Nichts war zu erkennen, außer einem steinigen Strand und ringsherum wabernder Nebel. Er überlegte nicht lange und rief: „Leif komm, lass uns das Boot auf den Strand ziehen und den Sturm abwarten!“

„Wieso Sturm?“, brummte Djarfur jetzt überrascht, denn der Sturm hatte sich schlagartig gelegt. „Merkwürdig, so plötzlich, wie er gekommen war, war nun um sie herum Stille und nicht einmal das Auflaufen der Wellen am Ufer war zu hören.“

Djarfur schaute zu Leif. Der stand auch wie versteinert und schaute als ob er einen feuerspeienden Drachen gesehen hätte.

„Wo sind wir? Was ist das für ein Land?“, stöhnte Leif. „Djarfur, mir fallen da ganz plötzlich uralte Geschichten ein. Das hier gefällt mit überhaupt nicht, das ist ja unheimlich!“

„Mir auch nicht“, erwiderte Djarfur, „aber komm, lass uns erst das Boot sichern, dann werden wir die Gegend erkunden. Ich muss nach Saida und Einurd sehen. Sie müssen sich ja fürchterlich fühlen.“

Djarfur hob Saida aus dem Boot und Einurd sprang hinter ihm auf den Strand. Ihre großen, dunklen Augen, schauten ihn so voller Hoffnung an, dass er wieder einen dicken Kloß im Hals spürte, weil für ihn die Hoffnung nur noch ein dünnes Fädchen war.

Er wollte Saida, ein Stück vom Meer entfernt, an einer windgeschützten Stelle niederlegen und schaute sich nach einem geeigneten Platz um.

„Wenn nur dieser verdammte Nebel nicht wäre“, ging es ihm durch den Kopf.

Hinter ihm fluchte Leif fürchterlich: „Was ist das für ein verrücktes Land, das es hier doch gar nicht geben dürfte?“

Da spürte Djarfur, wie sich eine kleine, weiche Hand in seine Hand schob, und wie eine Welle von Zärtlichkeit durchfuhr es ihm: Einurd, sein Töchterchen. Djarfur machte noch einen Schritt, dann blieb er abrupt stehen und stutzte; der Nebel war schlagartig wieder weg, er war verflogen, so schnell? Das war wirklich verrückt. Er hielt inne und staunte, denn nicht weit voraus, entdeckte er eine kleine Hütte aus Feldsteinen, mit strohgedecktem Dach, aber nirgends ein Anzeichen dafür, dass hier Menschen wohnten.

Er eilte auf die Hütte zu und atmete erleichtert auf, als er vor ihr stand. Wenigstens hatten sie nun ein Dach über dem Kopf und konnten in Ruhe Kraft für ihre Weiterfahrt schöpfen. Sie würden ein Feuer machen, etwas Warmes trinken und endlich einmal richtig schlafen können. Djarfur gab Einurd mit dem Kopf ein Zeichen und deutet auf die Tür. Einurd verstand und öffnete sie. Beide verhielten einen Augenblick, dann rief Djarfur einen Gruß in das Halbdunkel der Behausung. Als keine Antwort kam, ging er hinein und sah sich langsam um. Im Dämmerlicht, das durch die Türöffnung den Raum nur spärlich erhellte, sah er, dass die Hütte schon lange nicht mehr bewohnt war. Alles sah sehr alt aus und war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Da zog Einurd an seinem Ärmel und deutete auf eine Ecke, in der reichlich Stroh aufgeschichtet war.

„Ein Lagerplatz“, ging es Djarfur durch den Kopf und er legte Saida in ihren Fellen dort ab. Sorgfältig bettete er ihren Kopf etwas höher und schob das Fell vor ihrem Gesicht zur Seite.

Verwundert sah er, dass Saida die Augen offen hatte und ihn aufmerksam anschaute. Djarfur kniete neben ihr nieder und musste all seine Kraft zusammennehmen, damit der Schmerz, über ihre Krankheit, ihn nicht zusammenbrechen ließ. Ihre Liebe war für ihn das Leben und der Blick aus ihren wunderschönen, dunklen Augen durchfuhr ihn siedend heiß. Er beugte sich über sie und küsste ihre fieberheißen Lippen. Als dann aber ihre Hände sein Gesicht berührten und sie hauchte: „Mein Liebster, pass’ gut auf unser Töchterchen auf“, da überwältigten ihn doch seine Gefühle. Seine Schultern begannen zu zucken und er legte seinen Kopf an ihre Wange.

 

„Saida, meine liebste Saida, du wirst gesund. Ich will gleich ein Trank für dich zubereiten, damit das Fieber verschwindet. Hab nur etwas Geduld. Gleich wird es dir besser gehen.“

Er bedeutete Einurd, dass sie sich neben die Mutter setzen sollte und flüsterte ihr zu: „Warte hier, ich will die Medizin für deine Mutter zubereiten.“

Einurd nickte mit traurigem Gesicht und setzte sich zur Mutter. Sie hielt ihre Hand und mit der anderen streichelte sie ihre Wange.

Djarfur stürzte nach draußen und rannte Leif fast um, der mit einem Berg von Gepäck grade in die Hütte wollte. Er riss Leif sein Arzneibündel aus der Hand und befahl ihm ganz aufgewühlt: „Suche Feuerholz. Wir brauchen unbedingt, so schnell wie möglich ein Feuer. Ich geh zum Boot und hole mir den Topf“, dann rannte er los.

Leif legte das Gepäck ab und schüttelte den Kopf, aber er verstand auch, was in Djarfur vorging. Er hatte alles miterlebt, Djarfurs Wissensdurst, ein guter Heiler zu werden, das Volk der Umayyaden4, ihren Fürsten, die beginnende Liebe zu Saida, das schöne Leben dort am Hofe und letztendlich ihre Flucht, die Djarfur ein Auge kostete. Er suchte mit schnellen Schritten die nähere Umgebung ab, um möglichst trockenes Treibholz zu finden, denn hier wuchs nicht mal ein größerer Strauch. Soweit seine Augen blickten, war hier nur Sand und Gras, das teilweise aber hüfthoch stand.

Auf dem Uferstreifen, der von den Gezeiten ständig überflutet wurde, fand er jedoch genügend Treibholz und so stapelte er sich damit den Arm voll. Wieder zurück in der Hütte, sah er Djarfur vor seinem Medizinbündel sitzen. Er war dabei einige Kräuter zu mischen. Wegen seiner überragenden Heilkunst war Djarfur überall, wo sie sich längere Zeit aufhielten, ein geachteter Mann gewesen.

Bei den Umayyaden, wo sie lange Zeit lebten, war Djarfur so etwas wie der Leibarzt des Fürsten, weil er es geschafft hatte, dessen Frau zu heilen, als alle anderen Heiler schon aufgegeben hatten.

Leif warf das Brennholz neben die Feuerstelle und begann das Feuer zu entfachen. Er wusste, dass er Djarfur jetzt nicht stören durfte und sah sich nach dem Topf und Wasser um. Als der Topf endlich über dem Feuer hing, ging er wieder hinaus, um noch ihr restliches Gepäck aus dem Boot holen. Djarfur mischte Blüten mit verschiedenen Kräutern und machte daraus einen Aufguss. Er hoffte, dass er damit wenigstens Saidas Fieber senken konnte. Sonst wusste er sich keinen Rat mehr, wie er ihr noch helfen konnte. Seine geliebte Saida wurde Tag für Tag weniger und er merkte voller Schmerz, wie das Leben aus ihr entwich.

Soviel er auch nachdachte, weder eine Ursache für ihre Erkrankung noch ein Mittel gegen diese Krankheit fielen ihm ein. Wie eine eiskalte Hand griff die traurige Erkenntnis nach seinem Herzen. Er prüfte die Wärme des Trankes mit seinen Lippen und setzte sich neben Saida.

Wieder sahen ihn Einurds große Augen so voller Hoffnung an, dass er nicht mehr wusste, wie er reagieren sollte. Er küsste seine Tochter auf die Stirn, hob dann sachte Saidas Kopf und flößte ihre behutsam den Trank ein. Im Stillen bat er Freya um Hilfe: „Freya, bitte, gib ihr Kraft, lass sie nicht sterben. Alle meine Schätze will ich für ihr Leben geben.“

Saida trank und ihr fiebriger Blick suchte sein Auge. Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht, das auch jetzt noch im Fieber wunderschön war. Ihre Hand berührte ihn leicht, so zart, dass Djarfur glaubte, ein Schmetterling berühre ihn dort. Er stellte vorsichtig den leeren Becher ab und sah, dass Saida sofort wieder einschlief.

Es durchlief ihn eine heiße Welle, gemischt aus Zärtlichkeit und Trauer.

Einurd blickte zu ihm auf, als wollte sie etwas sagen, da konnte er nicht anders, als sie ganz fest in seine Arme zu schließen. Lange hielt er sie so und wusste, dass er seine Hoffnungslosigkeit irgendwie unterdrücken musste, auch wenn sie so unendlich schmerzte. Einen Augenblick später polterte Leif, mit Gepäck beladen, in die Hütte, warf alles auf einen Haufen und brummelte: „Ich möchte nur wissen, wo wir hier gelandet sind. Ich verwette mein gutes Schwert, dass es dieses Land hier gar nicht gibt. So nahe vor unserer Küste gab es doch nie eine Insel. Wenn wir gegessen und geschlafen haben, werden wir morgen früh bestimmt sehen, wo wir uns befinden. Ich hoffe ja, dass sich dann mal die Sonne zeigen wird. Dieses graue Dämmerlicht macht mich ganz krank, aber vielleicht können wir auch heute Nacht die Sterne sehen und unseren Kurs neu bestimmen.“

Dann begann er in dem Gepäck nach dem Proviant zu suchen. Das Strohlager war groß genug und so fanden sie alle Platz, sich nach dem Essen dort zur Ruhe zulegen. Kaum dass Djarfur auf dem Stroh lag, fuhr er wieder hoch und kroch im Halbdunkel an Saidas Seite. Ihm war, als hätte sie ihn gerufen. Er beugte sich über sie und legte eine Hand auf ihre Stirn. Das Fieber schien gesunken zu sein, denn sie fühlte sich nicht mehr so glühend heiß an. Im Schein des Feuers sah er, dass Saida ihre Augen weit geöffnet hatte und die Lippen bewegte. Er beugte sich tiefer um sie besser verstehen zu können, so dass sie sein Ohr leicht berührten.

„Djarfur, mein Liebster“, und er spürte ihre Hand an seiner Wange. Neue Hoffnung wollte schon in ihm aufkeimen und er streichelte ihr Haar, da fiel ihre Hand zurück und im Feuerschein sah er, ihren Blick leer werden. Er versuchte ihrem Atem zu lauschen, ihren Herzschlag zu spüren – vergeblich. Djarfur war erschüttert; der Kämpfer, der starke Krieger schluchzte und seine Schultern zuckten wie bei einem weinenden Kind. „Saida, meine Liebste, bitte komm zurück.“

Seine Hände griffen unter ihren Kopf und hoben etwas an. Leicht wie eine Feder war sie in seinen Armen. Als er sein Gesicht an sie drückte, liefen heiße Tränen aus seinem Auge. So hielt er sie eine lange Zeit, bis er sie sanft zurücklegte, weil Einurds Hand nach ihm griff.

„Was ist mit Mutter, ist sie tot?“

Djarfur umarmte Einurd und brauchte dabei all seine Kraft, um seine Trauer nicht in einem Schrei herauszulassen. Leif hatte wohl mitbekommen, was geschehen war und hockte sich neben die beiden. Mit belegter Stimme fragte er: „Ist sie gegangen?“

Djarfur nickte, stand auf und ging nach draußen. Unendliche Leere breitete sich in ihm aus, unendliche, schwarze, abgrundtiefe Leere, die ihn über den steinigen Strand taumeln ließ.

Ohne dass es ihm bewusst wurde, ging er zum Boot und suchte dort in der Ladung herum, bis er ein kleines Fass mit Bier fand. Ihn beherrschte jetzt nur noch ein Wunsch: Nichts mehr zu empfinden, nichts mehr zu denken. Mit diesen Gedanken im Kopf, ließ er sich in einer Ecke der Hütte nieder, öffnete das Fass und trank. Vom vielen Bier benebelt, schlief er endlich über seine Trauer ein.

Djarfur erwachte, als ob irgendwer ihn geweckt hätte. Er stand jedoch mutterseelenallein auf dem Strand dieser verfluchten Insel; kein Leif war mehr da und Einurd war auch nicht zu sehen. Nur diese elende Hütte war noch da.

So stand er verlassen in dieser Ödnis und hörte nicht einmal mehr das Meeresrauschen; kein Möwenschrei, kein Wind – nichts – Totenstille.

Djarfur dachte nach: „Irgendetwas stimmte hier nicht, er war doch nicht alleine hier. Wo waren Einurd und Leif?“

Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn plötzlich, wie aus dem Nichts, standen drei Frauen vor der Hütte, drei Frauen ohne bestimmbares Alter, ohne ein wirkliches Gesicht und eingehüllt in dunkle Tücher.

Ihm wurde es so unheimlich, wie noch nie in seinem Leben. Dabei war er doch nie ein Angsthase gewesen.

Unvermittelt begannen die drei Weiber zu wispern und er lauschte sie zu verstehen. Es war unheimlich, weil sie sprachen, ohne den Mund aufzumachen.

Djarfur schluckte. Er spürte, wie sich die Haare im Nacken aufstellten und schlagartig wusste er, wer diese Frauen waren. Es waren die drei Nornen5, die Schicksalsfrauen.

Diese Frauen mit ihren Fischglotzaugen, die er bisher nur aus den Geschichten seines Volkes kannte, begannen einen monotonen Singsang und er begriff: „Es gab sie wirklich, diese Nornen.“

Ihr Singsang, dessen Worte er nicht wirklich hören konnte, ging irgendwie direkt in seinen Kopf.

Ihre Melodie war monoton und einschläfernd.

Jetzt begannen sie ihre Worte zu wiederholen, Worte in so merkwürdiger Aussprache, dass er Mühe hatte, ihren Sinn zu begreifen. Dazu malten sie mit den Händen Figuren in die Luft, dann wieder hielten sie ihre dicken Stricke, die sie gemeinsam verknüpften. Aus all ihrem Geraune prägten sich Worte in Djarfurs Gedächtnis:

„Djarfur, Djarfur, sei Alvitur6,

zeig den Zweien einen Weg,

unendlich Zeit, ihr Privileg.

Für die Götter tausend Jahre,

begleiten sie drei Augenpaare.

Der Erste ihnen Zeit bemisst,

damit ihn Fenriswolf nicht frisst.

Kraft schöpfen aus dem eigen Blut.

Es stürbe viel ohn’ der zwei Mut.

Mit gleichem Namen sei ein Kind,

das sie zu ihrem Ende find’.“

Djarfur begann sich auf seinem Lager herum zu werfen und im Aufwachen hörte er noch die Nornen immer wieder ein Wort flüstern: „Ragnarök7!“

Stoßweise atmend erwachte er endlich ganz und wusste im ersten Augenblick nicht mehr wo er war, bis Leif ihn an den Schultern rüttelte und sich Einurd neben ihn setzte.

„He Djarfur, werde endlich wach und mache deiner Tochter etwas zum Essen!“, rief Leif.

Trotz der wirren Gedanken im Kopf nahm Djarfur Einurd in die Arme und wusste plötzlich wieder, dass er lebte, leben wollte, und dass sie ihn brauchte.

Leifs Hand lag auf Djarfurs Unterarm. „Djarfur, ich glaube, du hast böse geträumt. Ich hatte auch einen sehr merkwürdigen Traum, aber lass uns erst essen und dann darüber reden. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich das hier nicht alles ein Traum ist“, und Leif stand auf, um Proviant aus ihren Gepäck zu nehmen.

Einurds Worte: „Vater, ich habe Hunger“, holten Djarfur schlagartig zurück in die Gegenwarte und er spürte die Liebe zu ihr und plötzlich durchströmte ihn wieder Lebenskraft, dass er erschauerte.