Kapitän in zwei Welten

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Kapitän in zwei Welten
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Hans-Hermann Diestel

Kapitän

KAPITÄN IN

ZWEI WELTEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Wenn der Horizont verschieden ist,

sind es auch die Gedanken.

Zhuangzi

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Geleitwort von Roland Methling

Vorwort

Entwicklung und Geschichte der Funktion Kapitän

Rechtsgrundlagen für die Funktion Kapitän

Dienstausübung des Kapitäns aufgrund dieser Gesetze

Schifffahrt der Kaiserzeit und des Dritten Reiches

Die Entwicklung der Schifffahrt in der Bundesrepublik aus der Sicht eines ostdeutschen Seemanns

Organisation der Schifffahrt der DDR

Der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Schifffahrt

Rechtliche Grundlagen für und gesellschaftliche Anforderungen an die Funktion Kapitän

Aufgaben des Kapitäns

System der DSR zur Anleitung, Kontrolle und Weiterbildung des Kapitäns

Einfluss der SED auf die Funktion Kapitän

Einfluss von Familie und Frauen auf den Kapitän

Konsequenzen für den Kapitän aufgrund von persönlichen, politischen oder fachlichen Fehlern

Auszeichnungen

Wege der DSR-Kapitäne nach 1990

Die Situation 1990

Mühseliger Start in der westlichen Schifffahrt

Angekommen in der neuen „alten“ Schifffahrt

Bei den Exoten

Endstation Verwaltung

Zusammenfassung

Anlagen

Einsatz einiger DSR-Kapitäne nach der Wende

Maritimes Glossar

Quellenverzeichnis

Literatur

Dank des Autors

Fußnote

GELEITWORT VON ROLAND METHLING


Alles, was Rostock heute ist, verdankt die Stadt ihrer Lage am Meer. Schon immer war die Seefahrt der entscheidende Seismograph für das Wohl und Wehe der Menschen hier. Den Blick eher aufs Meer denn gen Land gerichtet, waren und sind ihre Helden vor allem die, die den Stürmen und Gezeiten trotzen. Das war zur Zeit der Kompagnien wie der Riga-, Schonen-, Bergen- und Wykfahrer so, aber auch während der Blüte der Rostocker Ostseeschifffahrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und es ist bis heute nicht anders.

Ein Kapitän ist hier nicht nur Beruf, es ist gesellschaftlicher Stand. Denn Kapitän zu sein bedeutet nicht nur, ein Schiff zu führen, sondern auch an Bord – auf hoher See ebenso wie im Hafen – Richter, Seelsorger, Arzt, Standesbeamter, Polizist, Banker und vor allem Visionär zu sein, quasi Bürgermeister in Uniform. Seine Entscheidungen sind oft schicksalhaft für Mann und Maus und stellen die Weichen für Erfolg oder Misserfolg der Mission, für Leben oder Tod. Ein Kapitän gehört zu einer der hier anerkanntesten Berufsgruppen, und das hat sich in den vergangenen acht Jahrhunderten nicht geändert.

Einer davon ist Kapitän Hans-Hermann Diestel. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch die vergangenen Jahrzehnte seines Berufslebens, die zugleich die jüngsten Kapitel in der Seefahrtsgeschichte unserer Stadt sind. Das Wachsen und Werden der Deutschen Seereederei, aber auch ihr Ende, die durch die friedliche Revolution des Herbstes 1989 eingeleitete „Wende“ und ihre Folgen für die hier gewachsene Schifffahrt sind Kapitel einer außergewöhnlichen Zeit – auch und vor allem für Kapitäne aus Rostock. Gern hat unser Förderverein Tradition Ostseeschiffahrt e. V. Kapitän Hans-Hermann Diestel dabei unterstützt, diese Erinnerungen als Zeitzeuge festzuhalten und so auch für künftige Generationen zu bewahren.

Roland Methling

Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock und

Vorsitzender des Fördervereins Tradition Ostseeschiffahrt e. V.

Rostock, im März 2016

VORWORT

Der Kapitän eines Handelsschiffes ist eine der berühmtesten, mit außerordentlichem Renommee versehenen, aber auch eine der umstrittensten Funktionen, die es in allen Gesellschaftsordnungen gegeben hat. Das verdeutlicht die Würdigung ihrer berühmtesten Vertreter in Wort und Bild. Gedacht sei dabei zum Beispiel an James Cook, William Bligh (BOUNTY), Richard Woodget (CUTTY SARK), Edward J. Smith (TITANIC), Robert Hilgendorf (PO-TOSI), Gustav Schröder (ST. LOUIS) und Francesco Schettino (COSTA CONCORDIA). Niemand kann dieses ungeheure Spannungsfeld mit größerem Humor darstellen als die Briten. Ihr Poster „Das ist unser Kapitän – Und das ist, wie er gesehen wird“ zeigt die ganze Vielfalt von Meinungen zum Schiffsführer. Schon als Jugendlicher habe ich begonnen, Materialien zu sammeln, die die Seefahrt betreffen. Mein besonderes Interesse fanden dabei Bücher, die Leben und Arbeit des Kapitäns beschreiben. Zu ihnen gehören:

- Schmidt, Fred – Kapitäne, MCMLIX, Bei Hans Dulk in Hamburg,

- Reinemuth, Rolf – Master next God, Köhler, Herford, 1979,

- Lubbock, Basil – The Log of the „Cutty Sark“, Brown, Son & Ferguson, Glasgow, 1970,

- Jones, William H.S. – Sturmverweht, Die Saga des Vollschiffes „British Isles“, Verlag die Brigantine, Hamburg, 1968,

- Burmeister, Heinz – Aus dem Leben des Kapitäns Gustav Schröder, Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven, Bremerhaven, 1991,

- Welke, Ulrich – Der Kapitän, Die Erfindung einer Herrschaftsform, Westfälisches Dampfboot, Münster 1997 und

- Witt, Jann Markus – Master next God?, Deutsches Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven, Convent Verlag, Hamburg, 2001.

Die Bücher von Schmidt und Reinemuth haben aufgrund der von diesen Autoren gewählten Darstellung der Arbeit und des Lebens der Kapitäne nie meine Zustimmung gefunden. Während die Briten die Funktion Kapitän sehr sachlich und faktenreich beschreiben, konnten deutsche Autoren durchaus in eine nationalistische sowie romantisch-süßliche Darstellung abgleiten. Besonders unangenehm ist mir das Buch von Schmidt in Erinnerung. Schon als Nautischer Offizier konnte ich beobachten, dass es keinem Kapitän leichtfiel, die mit seiner Funktion verbundenen, außerordentlich vielfältigen Aufgaben fehlerfrei zu bewältigen, die mit der Position verbundenen Probleme im Zusammenleben an Bord menschlich sauber zu lösen und dabei korrekt, diszipliniert, verlässlich und gerecht zu sein. Das Wort „vorbildlich“ sollte auch dazugehören, aber wer kann schon von sich sagen, dass er seinen Dienst immer vorbildlich versehen hat? Wie schwer das ist, habe ich als Kapitän oft genug feststellen müssen. Erwarten darf man aber von einem Kapitän, dass er dies mit Ausdauer und Konsequenz anstrebt. Welke kann im Gegensatz zu früheren deutschen Autoren eine Verherrlichung der Funktion Kapitän bestimmt nicht vorgeworfen werden. Ich folge Welke nicht, der zu dem Ergebnis kam, dass es sowohl im ökonomischen als auch im nautischen Bereich auf den Schiffen eine genossenschaftliche Organisation gegeben hätte und dass die Kapitänsherrschaft eine Innnovation des Industriezeitalters ist. Schon bevor Witts Buch erschien, in dem Witt Welke fundiert widerspricht, war ich aus einem anderen Gesichtswinkel zu der Auffassung gekommen, dass Welke nicht recht hat. Natürlich muss der Kapitän bei der Führung des Schiffes die Gegebenheiten und Vorgaben der jeweiligen Gesellschaftsordnung berücksichtigen, aber die Führung eines Schiffes ist in allererster Linie immer noch eine seemännische Aufgabe. Das haben auch die Verantwortlichen von Partei und Regierung der DDR sowie die Leitung des Kombinates für Seeverkehr und Hafenwirtschaft in der DDR begreifen müssen. Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts ist die Kombinatsleitung an diesen Ausgangspunkt für die Aufgabenstellung an die Rostocker Kapitäne zurückgekehrt. In den letzten Reden und Beiträgen von Generaldirektor Kapitän Dr. Artur Maul wurde klar, dass der Spruch „Es ist selbstverständlich, dass der Kapitän das Schiff von A nach B führt“ albern und oberflächlich ist. Begriffe wie „Disziplin“, „Tradition“ und „Verantwortungsbewusstsein“ rückten wieder an die erste Stelle.

 

Generaldirektor Kapitän Dr. Artur Maul im Gespräch mit dem Hamburger Senator für Wirtschaft und Verkehr Helmuth Kern

Dass die Kapitäne in der DDR eine außerordentlich starke Stellung hatten, verdankten sie einem der Klassiker des Marxismus. Friedrich Engels ging nicht von einer imaginären Herrschaftsform aus, sondern stellte, ohne dieses Wort je zu benutzen, die Seemannschaft in den Vordergrund. Dazu später mehr. Da die Rostocker Kapitäne nicht aus dem Nichts kamen, ist es notwendig, beim Leser das Verständnis für die historische Entwicklung dieser Funktion zu wecken. Ganz besonders wichtig ist dabei die Seefahrt des Dritten Reiches. Leider habe ich zu spät damit begonnen, Zeugen zu dieser Zeit zu befragen. Deshalb waren die Aussagen von Kapitän Karl-Heinz „Atze“ Seidler und Dr. Manfred Hessel unverzichtbar. Über Kapitäne wie Beykirch, Zinn, Schickedanz, Just usw. wurden die Traditionen der deutschen Schifffahrt von vor 1945 in die DSR hineingetragen. „Sozialistische“ Seeleute gab es, als die Deutsche Seereederei Rostock gegründet wurde, nicht. Um unseren Weg nach 1990 zu verstehen, konnte ich auch auf eine Beschreibung der Seefahrt der BRD nicht verzichten.


Kapitän Karl-Heinz Seidler

ENTWICKLUNG UND GESCHICHTE DER FUNKTION Kapitän

Rechtsgrundlagen für die Funktion Kapitän

Die rechtliche Ausgestaltung der Funktion Kapitän über Jahrhunderte ist ein klassisches Beispiel für die Entwicklung der Arbeitsteilung in einem sehr speziellen Beruf, der unter außergewöhnlich schwierigen Bedingungen ausgeübt werden musste. Zu Beginn des Seeverkehrs waren die Fahrzeuge und die verschifften Gütermengen klein. Der Besitzer des Schiffes war auch der Schiffsführer. Unter diesen Bedingungen gab es nur wenige Regeln. Sie beinhalteten vor allem Bestimmungen zur Abwicklung der Folgen einer Kollision. Mit größer werdenden Schiffen änderte sich dies. Ab dem 12. Jahrhundert war das Schiff in der Regel im Besitz mehrerer Personen, die auch ihre Güter mit dem Schiff transportierten. Zu ihnen gehörte der Schiffsführer. Die Reise war ein Gemeinschaftsunternehmen. Bei wichtigen Entscheidungen kamen die Beteiligten, die die Besatzung bildeten, zu einem Schiffsrat zusammen. Der Schiffsführer war der Primus inter Pares dieser Gesellschaft. Es wurden Regeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin an Bord sowie zur Organisation der Reise notwendig. So heißt es in den Rôles d’Oléron zum Beispiel, dass der Schiffsführer die Schiffsgesellschaft, nachdem sie auf gutes Wetter zum Auslaufen gewartet habe und dies nun nach seiner Meinung gekommen sei, befragen sollte, ob sie auslaufen wolle. Er sollte ihrem Rat folgen. Wenn er das nicht tat und das Schiff erlitt einen Schaden, musste er für ihn einstehen (Regel II). Auch bei einem beabsichtigten Ladungswurf sollte er seine Mitfahrer befragen, konnte sich aber auch in diesem Fall gegen ihre Auffassung entscheiden (Regel VIII). Der Schiffsführer war nach Regel XII der Richter der Seeleute auf See. Die Regel legte fest, wie der Schiffsführer einen Streit zu schlichten und welche Rechte und Pflichten er hatte sowie welche Geldstrafen er erlassen konnte. Seine herausgehobene Stellung wurde auch darin deutlich, dass derjenige, der den Schiffsführer angriff, seine Hand verlieren konnte.


Die WISSEMARA als Nachbau einer hanseatischen Kogge aus dem 14. Jahrhundert

Eine Weiterentwicklung der Regeln wurde erforderlich, als sich die Interessen der Eigentümer der Schiffe und der Ladung auseinanderentwickelten. Durch die sich verstärkende Arbeitsteilung blieben die Ladungseigner zunehmend an Land und organisierten von ihren Kontoren aus ihren Handel. Eine Differenzierung vollzog sich auch bei den Schiffsbesitzern durch die ständige Vergrößerung der Schiffe. Der Schiffsführer musste nicht mehr Mitbesitzer des von ihm geführten Fahrzeuges sein. An der Küste von Mecklenburg und Pommern war dieser Zustand endgültig mit dem Verschwinden der Partenreederei erreicht. Der Kapitän wurde zum Angestellten des Schifffahrtsunternehmens. Ausnahmen wie die der „Apfelbauern“ des Alten Landes bei Hamburg existierten noch im 20. Jahrhundert.

Die erforderlichen Regeln entwickelten sich regional. Beispiele sind dafür die Rôles d’Oléron, das Seerecht von Hamburg, Visby, Riga usw.


Silhouette der Hansestadt Riga

Aus den Seerechtsvorschriften einzelner Städte entstand das hansische Seerecht (1591 und 1614), das für die Seeleute der nordischen Städte die erforderlichen Festlegungen traf. Ob die einzelnen Städte sich danach richteten, entschieden sie selbst. Im Mittelalter entwickelte sich kein allgemeingültiges Seerecht. Das hansische Seerecht blieb, ungeachtet des Niedergangs der Hanse, bis zur Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches maßgebend für den Seetransport der norddeutschen Staaten. Witt1 weist auf eine Besonderheit des Seerechts mit folgenden Worten hin: Hatten die Seerechtsverordnungen des 16. bis 18. Jahrhunderts alle relevanten Bereiche, also die handels- und vertragsrechtlichen ebenso wie die disziplinarischen und arbeitsrechtlichen Bestimmungen ohne Unterscheidung in einem einzigen Rechtstext zusammengefasst, wurde nun auch im Seerecht zwischen öffentlich- und zivilrechtlichen Aspekten unterschieden. Daraus entstanden eine ganze Reihe von Problemen für die Funktion Kapitän, da sie im Mittelpunkt aller rechtlichen Fragen stand.


Die HANSEKOGGE und LISA VON LÜBECK vor der AIDAMAR

Schon in den Rôles d’Oléron stehen einige Fragen im Vordergrund, die dies nach meiner Auffassung bis heute tun sollten. Das gilt sowohl für die Kapitäne als auch für die Schifffahrtsunternehmen. Der Ausgangspunkt für viele Festlegungen in den Rôles d’Oléron war die Seemannschaft. Wann darf das Schiff zum Beispiel auslaufen? Zu den meisten Fragen und Problemen fanden sich im Seerecht der verschiedenen Städte übereinstimmende Regeln. Es gab aber auch Unterschiede. So kam Friedland (siehe Frankot2) zu der Auffassung, dass das Hamburger Seerecht weniger „besatzungsfreundlich“ als die Rôles d’Oléron war. Es war eher den Befrachtern und der Ladung wohlgesonnen. Auf alle Fälle sind im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehreren norddeutschen Hafenstädten, wie in Bremen und Lübeck, Fälle behandelt worden, in denen Besatzungsmitglieder undiszipliniert waren oder dem Kapitän gegenüber sogar handgreiflich wurden. Das fand nicht die Zustimmung der Reeder, die dann mit Anzeigen darauf reagierten. Reeder und Behörden sahen zu keinem Zeitpunkt die Organisation an Bord des Schiffes als eine genossenschaftliche an. Für die Führung des Schiffes hat es an Bord immer klare Strukturen gegeben.


Die LISA VON LÜBECK, eine Rekonstruktion eines Kraweels aus dem 15. Jahrhundert

Der nächste sehr wichtige Schritt für die Schifffahrt der norddeutschen Staaten war die Formulierung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB), das 1861 von der Versammlung des Deutschen Bundes beschlossen wurde. Vorarbeiten zu diesem Gesetz gehen bis auf das Jahr 1849 zurück. Dem ADHGB folgte das am 10. Mai 1897 erlassene Handelsgesetzbuch (HGB). Das HGB gilt immer noch, auch wenn es wiederholt überarbeitet wurde. Starken Einfluss übt inzwischen die Europäische Union mit ihrer Rechtsetzung aus. Hingewiesen werden soll nur auf einige allgemeine, den Kapitän betreffende Entwicklungslinien vom ADHGB zum HGB der Gegenwart. Offensichtlich ist, dass mit der Seemannschaft in Verbindung stehende Fragen immer weniger Beachtung finden. Das betrifft zum Beispiel die Nachweisführung. Allein für die Führung des Tagebuches als entscheidendes Mittel der Nachweisführung gab es im ADHGB vier Artikel (486, 487, 488 und 489).

Der Artikel 487 legte fest:

Von Tag zu Tag sind in das Journal einzutragen:

die Beschaffenheit von Wind und Wetter; die von dem Schiffe gehaltenen Kurse und zurückgelegten Distanzen; die ermittelte Breite und Länge; der Wasserstand bei den Pumpen.

Ferner sind in das Journal einzutragen: die durch das Loth ermittelte Wassertiefe; jedes Annehmen eines Lootsen und die Zeit seiner Ankunft und seines Abganges; die Veränderungen im Personal der Schiffsbesatzung; die im Schiffsrath gefaßten Beschlüsse; alle Unfälle, welche dem Schiff oder der Ladung zustoßen, und die Beschreibung derselben. Auch die auf dem Schiffe begangenen strafbaren Handlungen und die verhängten Disziplinarstrafen sowie die vorgekommenen Geburts- und Sterbefälle sind in das Journal einzutragen. Die Eintragungen müssen, soweit die Umstände nicht hindern, täglich geschehen. Das Journal ist von dem Schiffer und dem Steuermann zu unterschreiben.

Leider wird eine seemännisch korrekte Nachweisführung von Seeleuten oft mit dem Begriff „Bürokratie“ verunglimpft. Seit Jahrhunderten haben Reeder und Seefahrtschulen immer wieder auf die Bedeutung der Nachweisführung für das Unternehmen und für den Kapitän selbst hingewiesen.

Zur Stellung des Kapitäns sagt der Artikel 528 des ADHGB: Zur „Schiffsmannschaft“ werden auch die Schiffsoffiziere mit Ausschluß des Schiffers gerechnet; desgleichen ist unter „Schiffsmann“ auch jeder Schiffsoffizier mit Ausnahme des Schiffers zu verstehen.


Deckblatt der Seemannsordnung des Deutschen Kaiserreiches

In Paragraph 481 des gerade reformierten HGB heißt es dagegen: Zur Schiffsbesatzung werden gerechnet der Kapitän, die Schiffsoffiziere, die Schiffsmannschaft sowie alle übrigen auf dem Schiff angestellten Personen.

Erheblichen Einfluss auf die Stellung des Kapitäns an Bord hatte die Seemannsordnung. Am 27. Dezember 1872 trat die erste Seemannsordnung des neuen Deutschen Reiches in Kraft. Der vierte (Disziplinar-Bestimmungen) und der fünfte Abschnitt (Strafbestimmungen) waren deshalb von besonderer Bedeutung. In Paragraph 72 war festgelegt: Der Schiffsmann ist der Disziplinargewalt des Schiffers unterworfen. Der Paragraph 73 legte die wesentlichen Pflichten des Seemanns folgendermaßen fest: Der Schiffsmann ist verpflichtet, sich stets nüchtern zu halten und gegen Jedermann ein angemessenes und friedfertiges Betragen zu beobachten. Dem Schiffer und seinen sonstigen Vorgesetzten hat er mit Achtung zu begegnen und ihren dienstlichen Befehlen unweigerlich Folge zu leisten. In Paragraph 79 war formuliert, dass der Kapitän zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit den herkömmlichen Dienst erschweren und dass er auf höchstens drei Tage die Kost schmälern durfte. Geldbußen, körperliche Züchtigung und Einsperren standen ihm nicht zur Verfügung. Bei Widersetzlichkeit oder bei beharrlichem Ungehorsam durfte er alle erforderlichen Mittel anwenden. Notfalls durfte er den Seemann fesseln lassen. Der fünfte Abschnitt legte eine ganze Reihe von Strafen fest, die die Behörden erlassen konnten. Diese Seemannsordnung wurde 1902 überarbeitet, wobei die öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Kapitäns unverändert blieben. Diese Seemannsordnung war formell bis 1957 gültig, als die Bundesrepublik das Seegesetz erließ, das am 1. 4. 1958 in Kraft trat. Es schaffte die Disziplinargewalt des Kapitäns ab. An deren Stelle traten polizeiähnliche Befugnisse, die im fünften Abschnitt (Ordnung an Bord) vor allem in Paragraph 106 ihren Niederschlag fanden. In ihm hieß es:

 

(1) Der Kapitän ist der Vorgesetzte aller Besatzungsmitglieder (§ 3) und der sonstigen an Bord tätigen Personen (§ 7).

(2) Der Kapitän hat für die Erhaltung der Ordnung und Sicherheit an Bord zu sorgen …

(3) Droht Mensch oder dem Schiff eine unmittelbare Gefahr, so kann der Kapitän die zur Abwendung der Gefahr gegebenen Anordnungen notfalls mit den erforderlichen Zwangsmitteln durchsetzen; die vorübergehende Festnahme ist zulässig …

Die Seemannsordnung von 1902 hat nach meiner Auffassung für den Dienstbetrieb an Bord keine wesentlichen Veränderungen gebracht. In der HANSA von September 1905 wird die unterschiedliche Wertung der Seemannsordnung deutlich. Anzumerken ist, dass die HANSA damals ohne Abstriche die Interessen der Reeder vertrat. Die Zeitung zitiert folgenden Abschnitt aus dem Bericht des Vorstandes des Seemannsverbandes: Ein „Urteil“ über die 1903er Seemannsordnung ist bei jedem Seeamt verschieden, wie auch das Verfahren vor den Seemannämtern in den meisten Fällen ganz der Laune des Vorsitzenden angepasst wird. Die Vorgesetzten an Bord unterziehen sich nicht einmal der Mühe, den Inhalt der Seemannsordnung zu studieren, kennen sie folglich nicht und erklären: An Bord des Schiffes ist der Wille des Vorgesetzten oberstes Gesetz! Also reinste Paschawirtschaft, ganz wie früher … Das sind rechtliche Zustände, wie sie rückständiger, um nicht zu sagen barbarischer, nicht gedacht werden können. Da kann sicher von dem berühmten Schlagwort von den „vollendeten Rechtsgarantien“ keine Rede sein

Die HANSA interpretiert den Abschnitt so: „Wer die tatsächlichen Verhältnisse kennt, wer die hohen Lasten unserer sozialpolitischen Gesetzgebung zu tragen hat: die deutschen Reeder; wer unter der Renitenz unserer aufgehetzten und angestachelten Schiffsleute zu leiden hat: die deutschen Kapitäne und Schiffsoffiziere; sie könnten beim Lesen des vorstehenden Ergusses glauben, Jemand im Deliriumschauer sprechen zu hören …“

In der DDR wurde die Stellung des Kapitäns folgendermaßen eingeschätzt (J. Dutsch, Neue Tendenzen in der Rechtsstellung des westdeutschen Kapitäns, Seeverkehr 9/​62): „Der Schiffsführer hatte für die kapitalistische Seehandelsschiffahrt seit ihrem Entstehen eine erstrangige Bedeutung, besonders infolge der Tatsache, daß das Schiff für längere Zeit sowohl der unmittelbaren Eingriffsmöglichkeit des Reeders als auch des kapitalistischen Staates entrückt ist. Darum ist der rechtlichen Ausgestaltung der Stellung des Kapitäns in sämtlichen schiffahrtstreibenden Ländern und in allen Etappen der kapitalistischen Entwicklung hohe Aufmerksamkeit gewidmet worden.“


1. Seemannsordnung der DDR von 1953, enthalten im ersten Seefahrtsbuch des Autors

In der DDR wurde am 16. April 1953 die erste Seemannsordnung erlassen.