Kapitän in zwei Welten

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Dienstausübung des Kapitäns aufgrund dieser Gesetze

Die Rechtsgrundlagen für die Funktion des Kapitäns haben sich über Jahrhunderte evolutionär entwickelt. Es gab keine großen Sprünge. Dass aus dem Schiffer der Kapitän wurde, hat die Grundlagen seiner Arbeit nicht verändert. Das war eine Schönheitsoperation, mehr nicht. Es gab in der Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg eine große Stetigkeit und eine solide Tradition in diesem Berufsstand. Wesentlicher Bestandteil für die Evolution in der Disziplinargewalt des Schiffsführers war, dass seine Möglichkeiten zu bestrafen immer weiter verringert wurden, bis ihm die Disziplinargewalt ganz entzogen wurde. Diese Entwicklung verlief bis heute unter den verschiedenen Flaggen nicht einheitlich. Während zum Beispiel ein deutscher Kapitän schon seit der ersten Seemannsordnung des Kaiserreiches keine Geldstrafe mehr aussprechen konnte, berichteten mir ausländische Besatzungsmitglieder, dass rumänische und kroatische Kapitäne dies durchaus noch im 21. Jahrhundert unter fremder Flagge taten. Im Seemannsgesetz der Bundesrepublik von 1957 konnte der Kapitän noch eine außerordentliche Kündigung aussprechen. Das lässt das Seearbeitsgesetz von 2013 nicht mehr zu. Eine außerordentliche Kündigung kann nur noch der Reeder veranlassen.

Die Seemannsordnung der DDR von 1953 gestattete dem Kapitän, in Abstimmung mit der Gewerkschaftsleitung eine Strafe in Höhe von 300 Mark zu erlassen. Als Kapitän des Typ-IV-Schiffes SCHWERIN habe ich 1974 meinem Ersten Offizier wegen maßlosen Alkoholmissbrauchs erst einen Verweis und dann einen strengen Verweis ausgesprochen. Kündigen konnte ich ihm nicht mehr, aber die Verweise waren die Voraussetzung dafür, dass seine Seefahrt beendet werden konnte.

Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Kapitäns wurden von einer Generation mehr oder weniger entsprechend den erwähnten Gesetzen, Regelungen und der Überlieferung zur nächsten übergeben. Allerdings hatte die Schifffahrt große Mühe, den beachtenswerten Worten von Thomas Morus zu folgen, der gesagt hat: Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme. Das möchte ich mit einem Bogen, der von James Cook bis Franceso Schettino (COSTA CONCORDIA) reicht, verdeutlichen. Die Schifffahrt hat einzigartige Männer wie James Cook hervorgebracht. Ihm folgten Kapitäne wie Richard Woodget, Robert Hilgendorf und Gustav Schröder, die hervorragende Seeleute und exzellente Führer der ihnen anvertrauten Besatzungen in schwierigen Situationen waren.

Andere, wie William Bligh (BOUNTY), waren sehr gute Seeleute, versagten aber als Führer ihrer Besatzungen. Leider gab es aber auch solche, die weder gute Seeleute noch gute Führer ihrer Besatzungen waren. Zu ihnen möchte ich die Kapitäne Wallace und Bruce von der CUTTY SARK, James P. Barker von der BRITISH ISLES sowie Johannes Diebitsch von der PAMIR und Siegbert Rennecke von der BÖHLEN zählen. In diese Phalanx hat sich der italienische Kapitän Franceso Schettino nahtlos eingereiht. Darüber hinaus gab es zahlreiche Kapitäne, deren Rolle sehr umstritten ist. Zu ihnen gehört zweifellos Kapitän Edward J. Smith von der TITANIC. Mit einem Vergleich dieser Kapitäne in den Bereichen Seemannschaft und Führungstätigkeit möchte ich dem Leser aufzeigen, wo die Probleme und Schwierigkeiten für die Kapitäne lagen und wie leicht sie versagen konnten. In vielen Situationen benötigten sie exzellentes Wissen, lange und große Erfahrung sowie eine außergewöhnliche Entschlusskraft, um das Schiff oder zumindest die Menschen an Bord zu retten.

Für mich ist James Cook der Urvater des modernen Kapitäns. Er durchlief die harte Schule der Kohlesegler an der englischen Ostküste und wählte, als er Kapitän auf einem dieser Collier werden konnte, für seine weitere Laufbahn die Navy. Ein nur schwer nachzuvollziehender Gedanke, der von Mut, Entschlusskraft und Selbstbewusstsein zeugt. Ohne diesen Entschluss hätte es nie den Cook gegeben, den wir ohne die geringste Einschränkung bewundern dürfen. Bei der Navy nutzte er jede Chance, sich zu bilden, was ihm die Möglichkeit gab, die halbe Welt zu vermessen. Eine Haltung, die ich bei der Masse der heutigen Kapitäne vermisse. Selbst die sehr guten Bücher von Alan Villiers (Captain Cook The Seamen’s Seaman) und Bill Finnis (Captain James Cook Seaman and Scientist) beantworten nicht meine Frage, wie James Cook zu dem Kapitän wurde, der sich so außergewöhnlich um seine Seeleute kümmerte.


Kapitän, Entdecker und Wissenschaftler James Cook

Es ist sehr gut nachzuvollziehen, wie er der Seemann par excellence wurde und auch wie er, ungeachtet seiner rudimentären Schulbildung, ein Wissenschaftler wurde. Woher kam aber seine soziale Verantwortung in einer Zeit, in der das Leben eines Seemanns keinen Pfifferling wert war? Es traf Cook zutiefst, dass er auf seiner ersten Forschungsreise 38 Seeleute verlor. Er setzte sich damit auseinander, und von der zweiten Südseereise (1772 – 1775) kehrten nur vier Seeleute nicht mit ihm zurück. Im Gegensatz zu Cook verlor Commodore Anson 626 von 961 Mann. Cooks Bilanz ist einzigartig und hätte jeden Kapitän dazu bewegen müssen, sich mit dessen Arbeitsweise auseinanderzusetzen und ihm zu folgen. Das taten sie aber nicht. Über einhundert Jahre später hatte sich die Situation für die meisten Seeleute der Handelsmarine nicht grundsätzlich verbessert. Das beweist ein Vergleich der Reisen von Cook mit einer von Kapitän James P. Barker, der die BRITISH ISLES führte. Am 11. Juli 1905 verließ der 1884 als Vollschiff (2 287 Registertonnen) gebaute und mit 3 600 t walisischer Kohle beladene Segler Port Talbot. Am gleichen Tag verließ die deutsche SUSANNA den gleichen Hafen zu ihrer berühmten Reise. Beide waren für Chile bestimmt. Die Besatzung der BRITISH ISLES bestand aus Erstem und Zweitem Offizier, 1 Segelmacher, 1 Zimmermann, 1 Stewart, 1 Koch, 20 Matrosen und 4 Kadetten. Für ein gutes Segeln des Schiffes, vor allem hart am Wind, was bei Kap Horn von großer Bedeutung ist, wären bis zu 40 Matrosen nötig gewesen. Da die Segelschifffahrt schon einige Zeit ihren Höhepunkt überschritten hatte, waren die Besatzungen ohne Rücksicht auf die seemännischen Erfordernisse gnadenlos reduziert worden. Die Seeleute hatten in früheren Zeiten für die britischen Schiffe das Motto Hunger und Muße gewählt, denn auf ihnen gab es große Besatzungen, aber wenig zu essen. Das mit der Muße stimmte nicht mehr, der Hunger aber war geblieben. Noch schlimmer war jedoch, dass Kapitän Barker die Umrundung von Kap Horn mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste erzwingen wollte. Am 7. August hatte der Segler Staten Island nach 57 Tagen quer. Am Morgen des nächsten Tages passierte die BRITISH ISLES Kap Horn. Sie hatte bis dahin eine Dampferstrecke von 7 400 sm zurückgelegt, war aber zwischen 8 500 und 9 000 sm gesegelt. Am Abend musste sie unter Untermarssegeln und einem Stagsegel auf SSW-Kurs und Stb.-Hals beidrehen. Dadurch trieb sie jeden Tag 20 bis 50 sm zurück. Der 14. August war ein schwarzer Tag für die Seeleute, denn der Matrose Davidson fiel von der Rah über Bord, dem Matrosen West wurde der Schädel eingedrückt und dem Matrosen Witney ein Bein dreifach gebrochen. In den folgenden drei Wochen wurden von den verbliebenen Matrosen neun weitere durch Verletzungen und erfrorene Gliedmaßen dienstuntauglich. Das Schiff trieb in immer höhere Breiten und erreichte schließlich 65 Grad Süd. Es befand sich 550 sm in SSOlicher Richtung von Kap Horn. Barker konnte nicht wenden, weil die Besatzung zu schwach, und er konnte nicht halsen, weil der Sturm zu stark war. Das Schiff befand sich 32 Tage ununterbrochen im Sturm.

Am 11. September gelang es endlich, das Schiff auf den anderen Bug und damit auf NO-Kurs zu legen. Am darauf folgenden Tag brach die Großbramstenge, einem griechischen Matrosen wurde ein Bein zerschmettert, ein weiterer Matrose ging außenbords. Es blieben 6 Matrosen und 4 Offiziersanwärter dienstfähig. Der Kapitän gab auf und lief nach Lee ab, um bei Staten Island Schäden zu beseitigen. Dort wurde er mit ca. 20 anderen Seglern von einer Viermastbark von Laeisz passiert, die mit 34 Mann an Deck unbeirrt ihren Kurs verfolgen konnte.

Am 20. September begann, 45 Tage nach dem ersten Versuch, ein neuer Anlauf, um Kap Horn zu umrunden. Drei Tage später ging ein weiterer Mann über Bord, die BRITISH ISLES wurde erneut hinter Kap Horn zurückgetrieben. Am 29. September passierte der Segler das gefürchtete Kap zum dritten Mal im Vorwärtsgang. Der Oktober forderte einen hohen Blutzoll von der Besatzung. Der Kapitän sägte das zerschlagene Bein des griechischen Matrosen ab und am 9. starb der Matrose mit dem eingeschlagenen Schädel. Am 16. verließ das Schiff nach 71 Tagen das Kap-Horn-Revier und legte damit in dieser Zeit eine Strecke von 1 500 sm zurück. Am 28. Dezember erreichte es nach 139 Tagen Pisagua. Das Ergebnis der Reise war, dass drei Mann über Bord gingen, drei Matrosen ihren Verletzungen erlagen, zwei Matrosen Invaliden auf Lebenszeit wurden und drei über längere Zeit dienstunfähig waren. Eine vernichtende Bilanz für einen Schiffsführer, die vom Flaggenstaat eine gründliche Untersuchung dieser Vorfälle erfordert hätte. Kapitän Barker unternahm keinen Versuch, seine verletzten Seeleute in ärztliche Behandlung zu bringen. Das hätte er auf den nicht weit entfernten Falklandinseln tun können. Dort hätte er auch Proviant nachfassen können, um seine Seeleute wieder zu Kräften kommen zu lassen. Er war ein miserabler Kapitän, der seiner Verantwortung gegenüber den ihm anvertrauten Seeleuten nicht nachkam. Er war auch, ebenso wie sein Reeder, ein miserabler Ökonom. Mit einer fitten Besatzung hätte er schneller das gefürchtete Kap bezwungen. Die erwähnte Laeisz-Viermastbark bewies das. Kapitän Jürgens von der SUSANNA brauchte zwar 99 Tage, um das Kap zu bezwingen, aber er brachte alle ihm anvertrauten Seeleute heil und gesund durch diese eisige Hölle.

 

(Zeichnung Christine Diestel)

Cook verlor auf seiner zweiten Reise, die etwas über drei Jahre dauerte, wie bereits erwähnt, nur vier seiner Seeleute. Einen durch Tuberkulose, einer fiel in eine offene Luke und zwei ertranken. Was für eine Leistung!

Auch bei dem nächsten Paar von Kapitänen, das ich gegenüberstellen will, soll Cook wieder einer der beiden Protagonisten sein. Ich möchte seine Leitungs- und Führungstätigkeit mit der von William Bligh, seinem Navigator auf seiner dritten und letzten Entdeckungsreise, vergleichen. Bligh erreichte als Führer der BOUNTY eine zweifelhafte Berühmtheit. Der Grund dafür war nicht, dass er ein schlechter Seemann war. Das war er ganz und gar nicht. Seine Fahrt mit einem offenen Boot über eine Strecke von 3 600 sm nach Indonesien, ohne auch nur einen einzigen Mann zu verlieren, zeichnete ihn als außergewöhnlichen Seemann aus. Aber die Vorgänge auf der BOUNTY zeigten, dass er ein miserabler Leiter war. Cook bewies vom ersten Tag als Angehöriger der Marine seine Autorität bei der Arbeit an Deck und bei der Führung der Seeleute. Dies wurde von seinen Vorgesetzten und den ihm anvertrauten Seeleuten erkannt und anerkannt. Die Seeleute schätzten sein Wissen und seine Fähigkeiten. Deshalb folgten sie ihm. Dies war eine der wesentlichsten Voraussetzungen für seinen ungewöhnlichen Aufstieg in diesem von Adligen beherrschten Machtinstrument des Königs. Eine weitere Voraussetzung für seinen Erfolg war, dass sein Verstand, seine Denkweise so veranlagt waren, dass er die Dinge wissen und verstehen wollte. Wenn er sie verstand, wollte er sein Wissen auch anwenden. Ein exzellentes Beispiel für diese Haltung waren seine Erfolge bei der Vermessung eines erheblichen Teils der nordamerikanischen Küsten. Zwangsläufig fiel diese Haltung der Royal Society auf. Später lernte er sehr viel von Sir Joseph Banks und Dr. Daniel Carlsson Solander. Als Leiter der Südseeexpeditionen bewies er, dass er sehr überlegt und gekonnt die verschiedensten Mittel zur Stärkung seiner Autorität einsetzen konnte. Auf der ersten Reise ließ er in Funchal einen Seemann und einen Marinesoldaten auspeitschen, weil sie gegen die Bordverpflegung protestiert hatten. Obwohl Cook ein warmherziger Mensch war, griff er dessen ungeachtet zu solch drastischen Mitteln, um seine Ziele zu erreichen. Von Anfang an bereitete Cook eine Umstellung der Verpflegung vor. Er wollte, dass die Seeleute bereit waren, ungewohnte Lebensmittel wie Sauerkraut, Kräuter usw. zu akzeptieren, damit das Auftreten von Skorbut verhindert wurde. Er selbst ging in der Offiziersmesse beim Verzehr von Sauerkraut mit gutem Beispiel voran.

Andere Kapitäne oder Führer von Expeditionen wie Louis Antoine de Bougainville, Jean François Marie de Surville und Tobias Furneaux konnten oder wollten Cook nicht folgen. Furneaux folgte nicht einmal Cooks Anweisungen.


Flying-P-Liner PEKING als Museumsschiff in Manhattan, New York

Surville wurde als das genaue Gegenteil von Cook angesehen. Die Besatzungen dieser Führer bezahlten die Ignoranz, Dummheit und Überheblichkeit ihrer Chefs mit einem hohen Blutzoll. Im Verhältnis zu den ihn begleitenden Wissenschaftlern, vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Aristokraten Banks, bewies Cook sowohl diplomatisches Geschick als auch Standhaftigkeit. Er versuchte den Wünschen der Forscher nachzukommen, aber nur so weit, wie es ihm sein seemännisches Wissen und seine Erfahrung gestatteten. Wenn er das Risiko für zu groß hielt, gab es keinen Kompromiss, kein Nachgeben. Immer stand für ihn die Sicherheit der ihm anvertrauten Seeleute und des Schiffes im Vordergrund. Nachdem Cook die Erkundung Neuseelands abgeschlossen hatte, konnte er nach seinen Instruktionen den Weg zurück wählen. Er berief aber einen Schiffsrat ein, um Argumente für die eine oder andere Route zu hören. Cook wäre gern über Kap Horn zurückgesegelt, um das noch unbekannte Gebiet zwischen 40 und 60 Grad Süd zu erforschen. Die Seeleute hießen dieses Vorhaben nicht gut, weil die Segel und andere Teile des Schiffes schon zu sehr gelitten hatten. Cook folgte ihrem Rat und hielt sich damit auch bei dieser Entscheidung an die Regeln guter Seemannschaft. Wahrscheinlich war es für Bligh ein enormer Nachteil, dass er Cook erst auf dessen dritter Reise begleitete. Auf dieser Reise war Cook nicht mehr der Alte. Er hätte sie nicht mehr unternehmen sollen. Er hatte sein Leben lang unter schwierigsten Bedingungen hart gearbeitet und hätte den Druckposten als Captain des Greenwich Hospital behalten sollen, aber Untätigkeit entsprach nicht seinem Naturell. Seine Wutausbrüche nahmen auf seiner letzten Reise zu, Entscheidungen kamen nicht zur rechten Zeit oder waren falsch. Seine auf den ersten beiden Reisen bewiesene einzigartige Führungstätigkeit brach im Wesentlichen zusammen. Der Tod Cooks, den Bligh miterlebte, war ein schwerer Schlag für Bligh. Cook hätte unter normalen Umständen mit väterlicher Sorge über diesen jungen Offizier gewacht. Das war in der Navy üblich. Niemand übernahm diese Rolle. Bligh wurde auch bei Beförderungen übergangen. Die Voraussetzungen, die William Bligh für eine Karriere in der Marine hatte, waren zweifellos besser als die von Cook, da sein Vater Leiter des Zollamtes in Plymouth war. Mit 21 Jahren wurde er Cooks Navigator auf der RESOLUTION. Bligh und der Adelige Fletcher Christian lernten sich auf HMS CAMBRIGE kennen. Auf der BOUNTY begleitete ihn Christian als Master’s Mate (Oberbootsmann/​II. Offizier). Beide verband eine enge Freundschaft. Die zur Meuterei führenden Auseinandersetzungen an Bord hatten mehrere Ursachen. Bligh wurde von der Admiralität zwar als Führer des Schiffes eingesetzt, aber aus Kostengründen nicht zum Kapitän befördert. Blighs finanzielle Situation war damit alles andere als rosig. Er war auf dem Schiff sein eigener Zahlmeister, was, berechtigt oder unberechtigt, bei der Besatzung immer zu Spekulationen und ihm gegenüber zu Spannungen führte. Die von Banks im Interesse der zu transportierenden Ladung (Brotbaumsetzlinge und Pflanzen) veranlassten Umbauten des Seglers waren dem Status von Bligh nicht zuträglich. Anstatt des Großen Salons zum Leben und Arbeiten hatte er nun einen kleinen ungelüfteten, dunklen, zeitweilig als „Essraum“ genutzten Raum zur Verfügung. Weitere Probleme entstanden aus der unterschiedlichen Art, wie die Offiziere zu ihrer Position gekommen waren. Bligh war der Einzige, der ein durch die Krone ausgestelltes Offizierspatent besaß. Die anderen Offiziere dienten unter einem Royal Warrant. Diese Position verlieh ihrem Träger keine umfassende Befehlsgewalt. Bligh, der sehr hohe Ambitionen hatte und sich dafür im Selbststudium weiterbildete, war mit der Qualität dieser Offiziere (Segelmeister/​Navigator, Arzt, Segelmacher, Bootsmann usw.) sehr unzufrieden. Über kurz oder lang hatte er sich mit allen überworfen. Es gelang ihm nicht, sie zu einer Verbesserung ihrer Leistungen zu motivieren. Aus Kostengründen wurden ihm auch keine Marinesoldaten mitgegeben, die unter bestimmten Umständen sowohl für die Aufrechterhaltung der Disziplin an Bord als auch für Absicherung des Schiffes auf den angelaufenen Inseln wichtig sein konnten. Die BOUNTY war durch all diese Probleme ein Schiff mit großer Ambivalenz und es hätte schon eines Cook auf dem Höhepunkt seiner Leitungstätigkeit bedurft, um die Reise zu einem glücklichen Ende zu führen.

Bligh war aber kein Cook. Sein Hauptproblem war seine Sprache, nicht, wie vordergründig und völlig unberechtigt immer wieder behauptet wird, die von ihm ausgeübte körperliche Gewalt. Greg Dening kam in seinem Buch Mr BLIGH’S Bad Language zu dem Ergebnis, dass auf den britischen Schiffen im zentralen Teil des Pazifiks zwischen 1767 und 1795 21,4 Prozent der Seeleute ausgepeitscht wurden.


Replik des von William Bligh geführten Langbootes der BOUNTY

Und das ungeachtet der Tatsache, dass bis auf die PANDORA die Schiffe mit Freiwilligen bemannt waren. Bei der Anwendung dieser Züchtigung waren die Unterschiede sehr groß. Auf Blighs PROVI-DENCE wurden nur 8,33 Prozent, hingegen auf Vancouvers DIS-COVERY 45,15 Prozent der Seeleute ausgepeitscht. Dabei waren diese brutalen Züchtigungen in aller Regel für die Aufrechterhaltung der Disziplin nicht nötig. Sie dienten fast immer der Stärkung der Autorität und des Status des Verantwortlichen. Für Bligh waren Züchtigungen und Skorbut völlig zu Recht Zeichen eines schlecht geführten Schiffes, deshalb war er auch kein brutaler Schiffsführer. Ich kenne andererseits keinen Schiffsführer, der die folgende Worte von Victor Klemperer aus dessen Buch LTI so außerordentlich eindrucksvoll bestätigt hat:

Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.


Das Königliche Hospital für Seeleute (heute: Old Royal Naval College) in Greenwich

Die Sprache der Seeleute war in ihrer Knapp- und Klarheit ein hervorragendes Werkzeug, um in den schwierigsten Situationen die Besatzung als einen einheitlichen Körper mit größter Effektivität zu führen. Wenn es um Blighs Sprache geht, dann muss man sie im Rahmen des damals Üblichen sehen, und dieser war alles andere als höflich, zurückhaltend oder das Besatzungsmitglied, einschließlich des Offiziers, achtend.


Der Kommandant der BOUNTY William Bligh

Bligh scheint die Bedeutung der Sprache für seine Führungstätigkeit nicht erkannt zu haben. Blighs Sprache wurde zu Recht als beleidigend und maßlos eingeschätzt, da er seine Offiziere, nicht die Mannschaft, als Schurken, verdammte Gauner, Hunde, Höllenhunde, ekelhafte Tiere, Schufte usw. mit unbeherrschter Wut selbst bei den einfachsten Manövern bezeichnete. Was brachte Bligh in diese miserable Lage, aus der er sich offensichtlich nicht selbst befreien konnte? Abgesehen von den vielen Unstimmigkeiten und Zweideutigkeiten der Reise waren es vor allem die fünf Monate, die die BOUNTY in der Matavai-Bucht von Tahiti lag. Er versuchte in dieser Zeit sein Schiff und seine Besatzung intakt zu halten, aber die Umstände waren gegen ihn. Für jeden Kapitän, der auf einen ambitionierten und deshalb straff organisierten Dienstbetrieb Wert legt, ist ein fünfmonatiger Aufenthalt auf einer tropischen Insel mit ihren bereitwillig sexuelle Bindungen eingehenden Frauen ein Albtraum. So wie Klempner es im Dritten Reich mit der Sprache der Nazis beobachtete, so ging es auch den Seeleuten der BOUNTY. Über die Sprache veränderten sich ihr Gefühl und ihre Auffassungen. Selbst am Morgen der Meuterei sprach der Adlige Christian eine Mischung aus Tahitisch und Englisch. Kapitän Edwards von der PANDORA, der die Meuterei einfangen sollte, erkannte diese von der Sprache ausgehende Gefahr viel klarer als Bligh.


Die mit auf Tahiti gefangenen Meuterern der BOUNTY sinkende HMS PANDORA. Zeichnung von Robert Batty (1789 – 1848), gemeinfrei

Er drohte den von ihm aufgegriffenen Meuterern, sie für den Fall, dass sie auch nur ein Wort Tahitisch sprechen würden, mit einer Mundsperre zu knebeln. Die Meuterei dokumentierte für alle Zeiten sowohl die Bedeutung der Sprache an Bord als auch die Unfähigkeit Blighs, die von seiner Sprache ausgehende Gefahr zu erkennen und mit einer angemessenen Sprache eine der Situation gerecht werdende Leitungstätigkeit zu entwickeln. Selbst nachdem er wieder in England eingetroffen war und Zeit zur Reflexion hatte, erkannte er dieses Problem nicht. Die Admiralität stellte ihn im März 1805 wegen seiner Sprache vor ein Kriegsgericht.

 

Die Bucht von Matavai auf Tahiti mit HMS RESOLUTION und HMS ADVENTURE. Gemälde von William Hodges, gemeinfrei

Mit dem nächsten Paar von Kapitänen möchte ich den Leser in die Gegenwart führen. Der eine oder andere wird schon eine oder mehrere Reisen als Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff gemacht haben. Diejenigen in meinem Bekanntenkreis, die dies bereits taten, hatten deshalb viele Fragen zur Rolle von Kapitän Francesco Schettino von der COSTA CONCORDIA. Er soll mit Kapitän Edward J. (Ted) Smith verglichen werden. Smith befand sich, als er die TITANIC vor ihrer Jungfernreise übernahm, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ich möchte die beiden Kapitäne nur in einer einzigen Frage vergleichen: „Was taten sie zur Rettung der ihnen anvertrauten Passagiere und Seeleute?“

Im Falle von Kapitän Smith ist das nicht ganz einfach, da er den Untergang seines Schiffes nicht überlebte. Es wird immer wieder geschrieben, dass die Führung auf dem Schiff zusammengebrochen sei, dass der Kapitän sich nicht an der Rettung der Passagiere beteiligte, dass er möglicherweise unter Schock stand usw. (siehe: Müller-Cyran, Schiff & Hafen, Oktober 2014).


Die RMS TITANIC verlässt am 10. April 1912 Southampton, Foto F.G.O. Stuart (1843 – 1923), gemeinfrei

Stützen möchte ich mich vor allem auf die Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats (SUBCOMMITTEE OF THE COMMITTEE ON COMMERCE, UNITED STATES SENATE: „TITANIC“ DISASTER, New York 1912). Folgende Fakten, zum Teil in beeideten Aussagen zusammengetragen, sind deshalb für die Beurteilung der Aktivitäten des Kapitäns besonders wichtig:

14. April

23.41: Zusammenstoß mit Eisberg, Kapitän kam sofort nach der Kollision auf die Brücke und fragte den Ersten Offizier nach der Ursache. Er gab die Anweisung, die Schotten zu schließen, was der EO aber schon veranlasst hatte. Der Kapitän legte den Maschinentelegraphen für einige Minuten auf „Voraus Halbe“ und befahl dann dem Vierten Offizier Boxhall, „eine schnelle Inspektion des Schiffes“ vorzunehmen. In Minutenschnelle war der zurück. Er hatte keine Schäden entdeckt. Danach befahl der Kapitän Boxhall, einen Zimmermann zu suchen, der Tanks und Räume peilen sollte. Auf der Treppe traf Boxhall schon einen Zimmermann, der Schäden melden wollte. Danach ließ der Kapitän Thomas Andrews, den Erbauer des Schiffes, rufen.

23.55: Der private Funkverkehr wurde unterbrochen.

15. April

00.00: Thomas Andrews inspizierte (nach G.J. Cooper in „Titanic

Captain“) zusammen mit Smith Bereiche des Schiffes.

00.05: Kapitän gab folgende Anweisungen:

- Rettungsboote klarmachen

- Passagiere vorbereiten

- Zuweisung der Passagiere zu den Booten vornehmen (sie waren vorher nicht einem speziellen Boot zugewiesen worden)

- weitere Offiziere wecken

00.15: Kapitän wies Funker an, Notruf zu senden (Phillips sendete zuerst CQD, dann auf Hinweis von Bride SOS). Smith hielt sich meistens auf der Brücke auf.

00.45: Erste Rakete abgefeuert und erstes Rettungsboot zu Wasser (Besatzung erledigte ihre Aufgaben ruhig und diszipliniert?) 01.40: letzte Rakete abgefeuert

02.05:

- Kapitän zum letzten Mal im Funkraum. Er stellte den Funkern frei, sich zu retten. Dann ging er auf das Bootsdeck, um mit Besatzungsmitgliedern zu sprechen.

- letztes Boot zu Wasser 02.20: Die TITANIC sank.

Senator William Alden Smith, der Leiter der Untersuchungskommission, kam zu dem Schluss, dass die Befehlskette beim Verlassen des Schiffes weitgehend zusammengebrochen sei und dass die Schiffsleitung gelähmt war. Diese Auffassung ist aufgrund des beim Fieren der Boote herrschenden Chaos verständlich. Trotzdem halte ich sie nicht für gerechtfertigt. Kapitän Smith hatte offensichtlich eine klare Strategie. Er wollte unter allen Umständen eine Panik verhindern, die, da nur für die Hälfte der sich an Bord befindenden Menschen Plätze in den Booten vorhanden waren, katastrophale Auswirkungen auf die Evakuierung des Schiffes haben musste. Dass sein Plan nicht aufging, hatte mehrere Gründe (Passagiere nicht auf die Boote aufgeteilt, zu wenig Seeleute für das Handhaben der Boote, Besatzung neu und nicht auf diese Aufgabe vorbereitet usw.). Wenn die Aktivitäten von Kapitän Smith zum Beispiel mit denen des Kapitäns der COSTA CONCORDIA oder auch mit denen des DSR-Kapitäns der BÖHLEN verglichen werden, dann hat Smith wichtige Entscheidungen zur Rettung der sich an Bord befindenden Menschen getroffen. Nachdem ihm Andrews mitgeteilt hatte, dass das Schiff verloren war, gab er sofort die notwendigen Anweisungen. Ob eine ungeschminkte Information der Besatzung und der Passagiere über die Lage des Schiffes mehr Menschen das Leben gerettet hätte, wage ich nicht zu beurteilen. Die Offiziere dürften ohnehin keine Illusionen über die Lage des Schiffes gehabt haben.

Wie stellt sich, im Vergleich mit dem Kapitän der TITANIC, die Situation für den Kapitän der COSTA CONCORDIA dar? Folgender zeitlicher Ablauf ergibt sich aus dem Untersuchungsbericht des italienischen Ministeriums für Infrastruktur und Verkehr:

13. Januar 2012

- Um 21. 45. 05 Ortszeit lief die COSTA CONCORDIA bei günstigen hydrometeorologischen Bedingungen auf einen Felsen der Insel Giglio.

- Kapitän Schettino leitete die Untersuchung des Schiffes auf mögliche Schäden – nach 16 Minuten wurde der Kapitän über den Ernst der Lage des Schiffes unterrichtet.

- Der Kapitän informierte nicht die Rettungsbehörden (Küstenwache usw.). Diese wurden von einer Person, die von Land aus anrief, informiert. Obwohl die Behörden Kontakt mit dem Schiff aufnahmen, informierte er sie erst um 22. 26. 02 Ortszeit. Erst auf Forderung der Behörden in Livorno setzte er um 22.38 einen Notruf ab.

- Erst um 22. 54. 10 befahl Schettino, das Schiff zu verlassen, ohne dass das Signal für den Generalalarm ausgelöst wurde. Das hätte bei der Lage der COSTA CONCORDIA sehr viel Sinn gemacht. Viele Passagiere sagten aus, dass sie die mittels Sprache gegebene Anweisung nicht gehört hatten. Es gab auch keine direkten Anweisungen an die Offiziere auf den Bootsstationen! Die Geliebte des Kapitäns Domnica Cemortan verließ die Brücke, zog sich in der Kammer des Kapitäns wärmere Kleidung an und brachte Schettino eine blaue Jacke ohne Rangabzeichen. Seine Uniformjacke brachte sie in seine Kammer. Er war dadurch als Kapitän nicht erkennbar (Aussage Cemortan vor Gericht).

- Um 22.50 und 23.10 Uhr wurden die ersten Boote zu Wasser gelassen.

- Um 23.20 wurde die Brücke von der Besatzung, einschließlich Kapitän, verlassen.

- Um 24.00 Uhr erreichte die Schlagseite 40°.

14. Januar 2012

- Um 00.34 Uhr sprach der Kapitän mit den Behörden in Livorno und teilte ihnen mit, dass er im Rettungsboot sei. Das Gericht hörte ein aufgenommenes Telefongespräch, in dem der Beamte der Küstenwache Gregorio De Falco ihm wiederholt befahl, auf sein Schiff zurückzugehen. Schettino behauptete in dem Gespräch, dass nur noch 10 Personen an Bord wären. In Wirklichkeit befanden sich noch etwa 300 Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord (Aussage De Falco vor Gericht).

- Um 06.17 Uhr wurde die erste Phase der Rettung der Passagiere und Seeleute beendet.


COSTA CONCORDIA vor Giglio, Foto Wikimedia/​Rvongher

Francesco Schettino befand sich dadurch, dass das Wetter hervorragend war und das Schiff gegen die felsige Küste unmittelbar neben einen kleinen Hafen trieb, in einer idealen Lage, um die sich an Bord befindenden Personen zu retten. Schon nach 16 Minuten war ihm bekannt, dass sich sein Schiff in einer schwierigen Lage befand. Jetzt hätte er sofort den Generalalarm auslösen müssen. Stattdessen ließ er wertvolle Zeit verstreichen, in der sich die Probleme, vor allem durch die sich ständig verstärkende Schlagseite des Schiffes, unablässig vergrößerten. In dieser Situation gab es nichts mehr zu verbergen oder zu vertuschen. Die Chance, sich in einer schwierigen Situation als guter Seemann und als energischer und fähiger Schiffsführer zu zeigen, nutzte der Kapitän nicht. Im Gegenteil, er erwies sich als Feigling und Lügner. Ein solches Etikett kann niemand Edward J. Smith anhängen.