Al Qanater

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Hannes Führinger: Al Qanater – Fünf Jahre im Gefängnis von Kairo

Alle Rechte vorbehalten

© edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Jaehee Lee

Gestaltung: Ka & Jott (www.ka-und-jott.de)

Gedruckt in Europa

Print-ISBN 978-3-99001-201-7

eBook-ISBN 978-3-99001-203-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Dieses Buch schildert wahre Begebenheiten. Aus Gründen der Privatsphäre handelnder Personen sowie aus dramaturgischen Überlegungen wurden Namen und zeitliche Abläufe teilweise geändert.


Für meinen Großvater und meinen Vater,

die mir Kraft gegeben haben,

und für Melissa und Leonie,

die mir Lebensfreude schenken.

Es gibt Geschichten, die erzählen sich von selbst, in dem Moment, in dem sie vorbei sind.

Lisa

Ich hatte das Gefühl, dass ihm diesmal etwas zustoßen könnte. Auch seine Mutter, die Hannes sonst alles zutraute, fand, dass er besser hier bliebe. »Diesen einen Auftrag noch«, sagte er.

Ich brachte ihn mit meinem Ford Ka zum Wiener Flughafen. Das kleine Auto war ziemlich voll mit dem groß gewachsenen Mann, seinen Waffen und seinem übrigen Gepäck.

Nach fünf Kilometern fiel mir ein, dass ich seinen Reisepass am Küchentisch gesehen hatte. Hannes hatte die Reise bis ins letzte Detail vorbereitet, akribisch, wie er war. Irgendwie hätte es dazu gepasst, wenn er am Ende wegen eines vergessenen Reisepasses nicht fliegen hätte können.

Ich drosselte das Tempo. Ein Gedanke ging mir durch den Kopf. Wie wäre es, wenn ich einfach nichts sagen würde? Dann würden wir weiter zum Flughafen fahren. Dort würde er einen Kollegen treffen, der mit ihm nach Kairo fliegen sollte. Beim Einchecken würde er feststellen, dass sein Pass fehlte. Sein Kollege würde allein fliegen. Alles würde gut sein.

»Warum fährst du so langsam?«, fragte er.

»Hast du deinen Reisepass?«, fragte ich.

1

Lisa fand, dass meine Reise nicht zu unserer Lebensplanung passte. Wir wollten es ruhiger angehen und an unserem halbfertigen Haus weiterbauen. Für mich bedeutete das, sesshafter zu werden. Büroarbeit statt Auslandseinsätze. »Du bist doch erst vergangene Woche aus Saudi-Arabien zurückgekommen«, sagte sie.

Es war früh am Morgen. Wir lagen noch im Bett und ich rieb mir die Augen. »Oman«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Ich war im Oman, nicht in Saudi-Arabien.«

Sie verschränkte die Arme. »Spielt das eine Rolle?«

»Tut es nicht.« Ich bemühte mich, zu lächeln. »Ich bin übermorgen wieder da und dann mache ich die Isolierung fertig. Okay?«

Ich verstand Lisa. Ich hatte es ihr versprochen. Ich würde die Einsatzteams nicht mehr begleiten, sondern nur noch koordinieren. Von daheim aus. Die Organisation machen. Den Bürokram erledigen. Den Überblick über alles bewahren. Sobald wir das Haus meiner Großeltern im Burgenland fertig umgebaut hatten, würden wir aus unserer Wohnung in Wiener Neustadt dorthin ziehen. Ins Grüne. Das war in Ordnung für mich. Es würde ein besseres Leben sein. Ich freute mich darauf, auch wenn Lisa mir das manchmal nicht glaubte.

Wirtschaftlich würde sich das alles ausgehen. Meine Firma war inzwischen den meisten großen Reedereien ein Begriff und lief dementsprechend gut. Die Idee dafür hatte ihren Ursprung auf einer siebzig Quadratkilometer großen Insel im Persischen Golf, im Emirat Abu Dhabi. Im Auftrag des dortigen Königshauses hatte ich Polizei- und Militäreinheiten ausgebildet. Mein Stil, den ich von meiner früheren Tätigkeit beim österreichischen Bundesheer mitgebracht hatte, fiel einem meiner Kollegen auf, einem Briten. Als ich wieder zurück in Österreich war, rief er mich an. Eine Reederei hatte ihn angeheuert, um einen Lastkahn vor Piraten zu schützen. »Ich brauche einen Profi«, sagte er. »Die Bezahlung ist gut.«

Ich wusste damals nicht genau, was ich beruflich als nächstes machen wollte. Nun lag dieser Vorschlag auf dem Tisch. Piraten. Die Sache hörte sich immerhin spannend an. Ich überlegte nicht mehr lange. »Ich bin dabei«, sagte ich.

Das knapp 180 Meter lange Schiff mit 33.000 Tonnen Tragfähigkeit legte im Hafen von Maskat mit dem Ziel Aden im Jemen ab. Die Fracht war nicht gerade wertvoll. Stahlrollen. »Warum braucht dieses Schiff Schutz?«, fragte ich Edward, meinen neuen Partner.

»Es geht selten um die Fracht, sondern meist um die Crew«, sagte er. Er nickte dem Kapitän des Schiffs zu. »Als Geiseln sind die ein paar Millionen Dollar wert.«

Der Kapitän lächelte unsicher.

Wir waren vier Sicherheitsleute auf dem Schiff. Edward, ich und noch zwei andere, Marko und Ethan, die in ihren Kabinen schliefen, während wir uns auf der Brücke unterhielten. Edward und ich hatten die erste Schicht übernommen. Als ich dort oben an der Reling lehnte und den Hafen immer kleiner werden sah, wurde mir klar, dass ich mich an den Job gewöhnen könnte.

Etwa 180 nautische Meilen südöstlich des Jemen griff Edward nach seinem Funkgerät. »Marko, Ethan, bereitmachen. Wir erreichen die rote Zone.«

Diese Gegend war auf den Karten als gefährlich markiert. Hier häuften sich Piratenangriffe.

Wenige Minuten später standen unsere Kollegen in ihren kugelsicheren Westen neben uns. Wir suchten mit unseren Ferngläsern das Meer ab, jeder den ihm zugeteilten Bereich. Keiner von uns hatte viel Erfahrung mit maritimer Security. Keiner hatte je einen Piratenangriff erlebt. Es herrschte angespannte Stille.

Wir befanden uns noch keine halbe Stunde in der roten Zone, als auf dem Radar kleine Signale auftauchten. »Vier Kilometer Entfernung«, sagte Edward. »Haltet die Augen offen.«

Marko lächelte nervös. »Vielleicht sind es nur Wellenbrecher. Oder Fischer.«

Niemand antwortete.

Die Signale hielten ihre Position. Einige Minuten vergingen. Ich konnte noch nichts am Horizont erkennen. Ich wollte Marko schon zustimmen, als sich alle Punkte gleichzeitig in Bewegung setzten. Sie hielten direkt auf uns zu.

»Keine Wellenbrecher«, sagte Edward und stellte sein Fernglas ab. »Keine Fischer.«

Wir gaben dem Kapitän ein Zeichen. Er drückte auf den Alarmknopf. Sirenen heulten am ganzen Schiff.

Wir folgten dem Plan, den wir uns für diesen Fall zurechtgelegt hatten. Marko brachte alle Mitglieder der Crew, die wir nicht für die Steuerung des Schiffes benötigten, in einen Schutzraum. Dort würden sie selbst dann einigermaßen sicher sein, wenn die Piraten das Schiff kapern würden. Beim Betreten des Raumes mussten sie auf einer Anwesenheitsliste neben ihren Namen unterschreiben.

Die Punkte auf dem Radar wurden schneller. Edward wies den Kapitän an, ebenfalls die Geschwindigkeit zu erhöhen.

»Okay, alle drin«, sagte Marko über Funk.

»Maximum Speed«, sagte Edward.

Der Kapitän schob den Geschwindigkeitsregler bis zum Anschlag nach oben.

Ethan hatte inzwischen unsere Ausrüstung aus einem abgesperrten Lagerraum geholt und vor uns ausgebreitet. Er setzte einen Funkspruch ab, um alle militärischen Schiffe in unserer Nähe zu informieren.

Ich war in unserem Team der Waffenoffizier, also bat ich den Kapitän um Erlaubnis, die Waffenkoffer zu entsperren. Er sah mich irritiert an. »Do what you are here to do«, sagte er.

Die Piratenabwehr war international genau geregelt. Deshalb hielt ich mich ans Protokoll. Der Kapitän und ich schlossen die Waffenkoffer auf und vermerkten die Öffnung schriftlich mit Uhrzeit und Begründung. Danach händigte ich Edward, Marko und Ethan gegen Unterschrift je ein Gewehr samt Munition aus. »Hat jeder seine Weste gesichert und überprüft?«, fragte ich, während ich mir selbst ein Gewehr nahm. Ich sah in die Runde. Alle nickten stumm. »Okay, dann los.«

Marko und ich nahmen links und rechts von der Brücke unsere Abwehrpositionen ein, während Edward auf der Brücke blieb und Ethan im Heck des Schiffs Stellung bezog. Ich kauerte mich hinter die Reling, die mit Stahlplatten verstärkt war.

So warteten wir. Niemand sagte ein Wort. Die Funkgeräte blieben still. Wir wussten nicht, ob sich die Piraten eine Taktik überlegt hatten, oder ob sie einfach auf uns zustürmen würden. Unser Schiff, die nach der Reederei benannte Warnow Star, war einigermaßen gut ausgerüstet. Wir hatten Wasserwerfer an Bord und Leuchtkugeln, die wir ebenfalls zur Piratenabwehr einsetzen konnten.

Ich überprüfte noch einmal, ob meine Waffe richtig geladen war. Ich hatte uns mit großkalibrigen Gewehren ausgerüstet, um die kleinen, wendigen Schnellboote der Piraten rasch außer Gefecht setzen zu können. Mit so einer Waffe reichte dafür ein einziger Treffer in den Motor.

Bald tauchten sie am Horizont auf. Ich zurrte meine kugelsichere Weste enger, während ihre Silhouetten größer wurden. Ich konnte schon das Brummen der Motoren hören.

Ich hatte die erlaubte Vorgehensweise im Abwehrfall, die sogenannten Rules of Engagement, im Kopf. Jeder Verstoß dagegen war strafbar. Zu dieser Vorgehensweise gehörte es, dass wir nicht als erste das Feuer eröffnen durften. Wenn die Angreifer bewaffnet waren und selbst schossen, durften wir Warnschüsse abgeben, um zu zeigen, dass wir zurückschießen konnten. Wenn sie weiterschossen, durften wir auf die Boote zielen, nicht auf die Piraten selbst. Erst wenn wir alle nicht tödlichen Abwehrmaßnahmen ausgeschöpft hatten und die Piraten weiterschossen, durften wir das Feuer auf sie selbst eröffnen.

 

Ein Surren übertönte das Brummen der Motoren. Ich hob den Kopf lang genug, um die Raketen auf unser Schiff zukommen zu sehen. »Deckung!«, schrie ich in mein Funkgerät.

Treffer.

Der Aufprall der Rakete riss mich von den Beinen. Meine Kollegen gaben Warnschüsse ab. Ich sah zur Brücke. Sie war unversehrt. Die Rakete war in einen Kran-Ausleger eingeschlagen und hatte dort wenig Schaden angerichtet. Ich stand wieder auf, gab ebenfalls einen Warnschuss ab und lud durch.

Unter lautem Geschrei eröffneten die Piraten das Feuer. Das Rattern ihrer Schnellfeuergewehre zerfetzte die Luft, gefolgt vom metallischen Trommeln der Einschläge auf unserer Bordwand. Ich hörte Edwards Stimme aus dem Funkgerät. »Backbord! Zurückfeuern! Los!«

Er sprintete heran und warf sich neben mich. Auch Marko und Ethan kamen zu uns an die Backbordseite und gingen hinter der verstärkten Reling in Deckung. Edward nickte uns zu. »Jetzt!«

Wir standen auf und feuerten.

Die Durchschlagskraft unserer Gewehre überraschte die Piraten offenbar. Unsere Kugeln rissen Löcher in die Wände ihrer Boote. Ich hörte sie durcheinander schreien. Neben mir dröhnte Edwards Stimme.

»Laden, Feuer!«

Die nächste Salve unserer Gewehre prasselte auf die Schnellboote nieder.

Die Maschinengewehre der Piraten verstummten. Die Motoren ihrer Schnellboote brüllten auf.

Nach wenigen Minuten, in denen wir alle verschwitzt und verstaubt hinter der Reling gekauert waren, klopfte mir Edward auf die Schulter und grinste. »Gut gemacht, Leute. Gut gemacht.«

Der Kapitän streckte zaghaft den Kopf aus der Tür zur Brücke. »Are they gone?«

Edward nickte. »Yes, they are gone.«

In Aden hörten wir, dass die gleichen Piraten drei Stunden später ein anderes Schiff gekapert hatten.

Während ich jetzt die letzten Vorkehrungen für meine bevorstehende Reise nach Suez traf, dachte ich daran, wie ich damals aus Aden kommend am Flughafen in Wien gelandet war. Lisa hatte auf mich gewartet, mit Leonie, ihrer Tochter aus einer früheren Beziehung, die ich liebte wie mein eigenes Kind. Ich hatte auch eine eigene kleine Tochter, Melissa, doch sie lebte in Tirol. Ihre Mutter und ich hatten uns nicht gerade im Guten getrennt, weshalb ich Melissa selten sah. »Geht es dir gut?«, hatte Lisa bei meiner Heimkehr gefragt. »Bist du verletzt?«

Ich war glücklich gewesen, wieder bei meiner kleinen Familie zu sein. Sie war das Wichtigste für mich und ich wollte uns allen ein schönes, unbeschwertes Leben ermöglichen.

2

Als mir Edward kurz nach unserem Abenteuer im indischen Ozean vorschlug, gemeinsam eine Firma zu gründen, nahm ich deshalb an. Ich war groß, gesund, 31 Jahre alt, gut ausgebildet und nun auch kampferfahren. Das passte offenbar in Edwards Konzept. Ich absolvierte einige ergänzende Ausbildungen in Kampftaktiken am Schiff. Gleichzeitig nutzte ich meine Kontakte aus meiner Zeit beim Militär, um Einsatzteams für die junge Firma aufzubauen.

Der Schaden, der den Reedereien durch Piratenangriffe erwuchs, war beträchtlich. Sie mussten die Schiffe oft monatelang reparieren und in manchen Fällen die Crew komplett ersetzen. Denn wer einmal in der Geiselhaft von Piraten gewesen war, hatte wenig Lust, weiter zur See zu fahren. Dazu kam, dass sich Piratenüberfalle damals häuften, weshalb die Versicherer der Reeder auf bewaffneten Schutz bestanden. Die Reedereien zahlten dementsprechend gut für professionelle maritime Security.

Meine Firma war die erste dieses Metiers im deutschsprachigen Raum, weshalb wir uns erst einen Namen machen mussten. Deshalb strengte ich mich an. Ich bereitete jeden Einsatz bis ins kleinste Detail vor. Reiseplanung. Bewilligungen für den Waffentransport. Ausrüstung. Die Qualität der Ausrüstung war mir besonders wichtig. Manchmal ließ ich Teile davon von meinen ehemaligen Militär-Kollegen testen.

Ich fand heraus, dass in der privaten Sicherheitsbranche kaum Konkurrenzdenken herrscht. Sicherheitsfirmen waren in dem Punkt ziemlich entspannt. Sie unterstützten einander sogar. Sie tauschten ihr Wissen aus und veranstalteten gemeinsam Schulungen. Mir hatte dieses amikale Klima schon beim Militär gefallen.

Bereits kurz nach der Gründung unserer Firma wussten Edward und ich nicht mehr, wo wir das Personal hernehmen sollten. Die Aufträge flogen uns zu. Die Ausrüstungen kauften wir jeweils von den Anzahlungen, die wir von den Reedereien erhielten.

Mein Plan bestand nun darin, meine engsten Mitarbeiter so weit auszubilden, dass sie Einsätze leiten konnten. Doch bis es so weit war, musste ich noch als Koordinator mitkommen. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn in meiner Abwesenheit etwas schiefgegangen wäre.

»Nur ein Wort von dir und wir fahren wieder heim«, sagte Lisa, als sie mich dieses Mal zum Flughafen brachte. Sie hatte den Wagen eben geparkt und wir saßen schon eine Weile schweigend da. Obwohl wir wegen meines Reisepasses noch einmal umkehren mussten, hatte ich noch genug Zeit.

Ich starrte aus dem Fenster zum Terminal und beobachtete das geschäftige Treiben und die Reflektion der Sonne auf den Glaswänden. Es fiel mir schwer, Lisa zurückzulassen. »Es ist das letzte Mal«, sagte ich, als sie meine Hand nahm. »Ehrenwort. Das ist der letzte Auftrag, bei dem ich selbst mitfliege.«

Sie zog ihre Hand zurück. »Das hast du bei den letzten beiden Malen auch gesagt.«

Sie hatte recht. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, also schwieg ich. Doch diesmal stimmte es. Dieser Auftrag würde mein letzter sein. In wenigen Tagen würde ich zurück sein, und dann würde alles noch besser werden.

3

Der Auftrag, der mich jetzt zum Port Suez führte, hatte eine Vorgeschichte. Im Oktober 2011 hatte mich eine italienische Reederei kontaktiert. Ihre Betreiber waren verzweifelt gewesen. Piraten hatten eines ihrer Schiffe, die MV Montecristo, gekapert und entführt. Die MV Montecristo war ein Kombitanker, der normalerweise Öl und Gas transportierte. Zum Zeitpunkt der Entführung hatte das Schiff Alteisen geladen. Doch auch in diesem Fall ging es den Piraten nicht um die Fracht, sondern um das Lösegeld. Sie verlangten zehn Millionen Dollar.

Wegen des auf Schiffen geltenden Hoheitsrechtes des Landes, unter dessen Flagge sie unterwegs sind, sowie aus versicherungstechnischen Gründen ist ein Einsatz militärischer Schiffe in solchen Fällen problematisch. Deshalb beauftragte die Reederei uns mit der Befreiung der MV Montecristo.

Edward und ich lasen die Baupläne und alle verfügbaren Informationen über die Crew, die Ladung und den Kurs. Der Massengutfrachter war größer als zum Beispiel die Warnow Star. Er maß fast 290 Meter und konnte 180.000 Tonnen laden.

Als wir unser Team beisammen hatten, legten wir ein Datum für den Einsatz fest. Doch wenige Tage vor unserer Abreise konnte die Crew die Steuerung der MV Montecristo deaktivieren. Der Tanker lief geradewegs einem NATO-Schiff in die Quere. Da Italien NATO-Mitglied ist, bekam das Schiff grünes Licht für den Einsatz und befreite den Frachter. In den Zeitungen war dann von einer Anti Piracy Operation der NATO die Rede.

Unsere Befreiungsaktion war damit hinfällig, doch die Italiener mochten die Art, wie wir an die Sache herangegangen waren. Sie wollten uns für weitere Aufträge buchen. Der erste Einsatz stand nun an.

Das Schiff hieß Four Smile. Die noch traumatisierte Crew der MV Montecristo sollte die Four Smile von Port Suez in Ägypten nach Sri Lanka bringen. Für zusätzlichen Schutz und zur besseren Überwindung der Sprachbarriere sollten auf Wunsch der Reederei auch italienische Sicherheitsleute an Bord sein. Der Einsatz musste professionell und reibungslos verlaufen, schon damit sich die Crew sicher fühlte.

Meine Aufgabe bestand darin, der Crew unser Sicherheitskonzept möglichst überzeugend darzulegen. Ich sollte ihr Vertrauen gewinnen. Das war der Hauptgrund, warum ich nach Ägypten mitflog. Bei der Gelegenheit konnte ich gleich einen neuen Teamleader einschulen. Er hieß Karl und hatte sich über eines der Netzwerke privater Sicherheitsfirmen bei uns gemeldet. Seine Erfahrungen im maritimen Bereich kamen uns gelegen. Als ich am Flughafen Wien Schwechat ein letztes Mal an Lisas Haaren gerochen hatte, machte ich mich auf die Suche nach ihm.

Wir hatten 11 Uhr vereinbart, doch es war erst 10.50 Uhr. Ich ließ mich auf eine Bank sinken. Ich hatte in den vergangenen drei Tagen kaum geschlafen. Drei unserer Teams waren gerade auf hoher See und brauchten Betreuung. Ein Team war angegriffen worden und benötigte Munition, ein anderes durchquerte gerade den indischen Ozean, der im gesamten Bereich zwischen Indien und Afrika als rote Zone markiert ist. Ich musste dabei ständig mit der indischen Botschaft in Wien Kontakt halten. Denn bis zwölf Meilen vor der Küste reicht das Hoheitsgebiet des jeweiligen Landes, und wenn dort Privatpersonen mit Waffen unterwegs sind, kann es immer zu Komplikationen kommen. Außerdem musste ich die nötigen Papiere für Karl besorgen. Er würde bei dem Einsatz auf der Four Smile der Waffenoffizier sein.

Im Kopf ging ich noch einmal alles durch. Wir waren gut vorbereitet. Als Bewaffnung für das Team hatte ich wie meist in solchen Fällen vier Mosin-Nagant-Gewehre aus russischer Produktion gewählt. Die Waffen waren Baujahr 1938 und hatten ein Magazin mit fünf Schuss.

Bei Auftraggebern und auch bei den Teams selbst stieß meine Waffenwahl regelmäßig auf Verwunderung. Dabei hatte sie pragmatische Gründe. Wir brauchten schweres Kaliber, um die Motorblöcke der Piratenboote zerstören zu können. Da auf hoher See meist Wind wehte, war auch die Treffsicherheit mit schweren Geschossen höher. Zudem mussten die Waffen leicht zu warten sein. Ersatzteile, die wir eventuell benötigten, mussten wir auf einem Schiff selbst herstellen können. Während moderne Gewehre bei jedem Defekt nutzlos werden, kann für die Ersatzteile der alten Mosin-Nagant-Gewehre jeder Schlosser oder Schiffsmechaniker sorgen.

Diese alten russischen Gewehre hatten noch einen anderen Vorteil. Sie waren Repetiergewehre. Wer sie benutzte, musste nach jedem Schuss eine neue Patrone aus dem Magazin laden. Das zwang meine Teams dazu, im Ernstfall eine gewisse Feuerdisziplin einzuhalten. Repetieren, anlegen, zielen, schießen. Diese Vorgehensweise reduzierte den Munitionsverschleiß. Was insofern von Bedeutung war, als Fluglinien die Mitnahme von höchstens fünf Kilo Munition genehmigten.

Unsere Mosin-Nagant-Gewehre waren nicht mehr im Originalzustand. Ich hatte jedes davon modifiziert. Ich hatte die Läufe gekürzt und gekront, das heißt, ich hatte einen neuen Laufabschluss angebracht, damit der Umbau die Ballistik nicht beeinträchtigte. Außerdem hatte ich eine Schiene für ein Zielfernrohr montiert und eine Spiegelreflex-Optik aufgesetzt. So hatte ich aus ein paar alten russischen Karabinern leicht zu handhabende, effiziente und robuste Jagdgewehre gemacht.

In den Koffern, die ich mit nach Ägypten nahm, befanden sich außerdem je eine kugelsichere Weste für jedes Team-Mitglied, Nachtsichtgeräte, GPS-Ortungsgeräte und eine Kommunikationsausrüstung mit Satellitentelefonen. Wie immer hatte ich die ägyptische Botschaft in Wien über unsere Reise nach Kairo informiert. Waffentransporte sind immer heikel und ich wollte Missverständnissen vorbeugen.

Die Kommunikation mit der Botschaft hatte sich als kompliziert genug erwiesen. Zuerst war meine zuständige Kontaktperson nicht da gewesen, dann hatte ein anderer Mitarbeiter den notwendigen Bescheid für den Waffentransport unterschrieben. Ich hatte, wie es üblich war, der Waffen wegen um einen Transport vom Flughafen Kairo zum Port Suez gebeten, doch bis zuletzt keine Antwort erhalten. Ich war gezwungen gewesen, Lisas Ex-Freund Ralf um Hilfe zu bitten. Ralf, ein Salzburger, hatte aufgrund von Import- und Export-Geschäften gute Kontakte in Kairo. Er hatte sich bereit erklärt, beim ägyptischen Innenministerium zu intervenieren.

Nun sollte alles in Ordnung sein. Doch als ich auf der Bank am Flughafen saß und die Organisation des Einsatzes Revue passieren ließ, bekam ich ein mulmiges Gefühl. Ich hatte auf Ralfs Vermittlung via Skype mit einem ägyptischen Polizisten gesprochen, der mir gegen eine Gebühr von 2.500 Euro den sicheren Transport von uns und unseren Waffen zum Port Suez zugesagt hatte. Er trug eine weiße Uniform mit drei goldenen Sternen, also eine Offiziersuniform, und stellte sich als Mohamed Diab vor. Eine Gebühr in dieser Höhe war durchaus üblich und deshalb Teil meiner Kalkulation. Ich hatte bei anderen Einsätzen ähnliche Summen für den Transit bezahlt. Allerdings war die politische Lage in Ägypten instabil.

 

Das ägyptische Militär hatte seit dem Rücktritt des langjährigen Staatspräsidenten Husni Mubarak elf Monate zuvor die Macht im Land übernommen. Der regierende sogenannte oberste Rat der ägyptischen Streitkräfte bestand aus 18 hochrangigen Offizieren, die sich als politische Machthaber über den Ministern konstituiert hatten. Sie hatten erklärt, Mubarak nur vorübergehend ersetzen zu wollen und demokratische Wahlen angekündigt. Doch von geordneten Verhältnissen in Ägypten konnte noch keine Rede sein. Die Medien berichteten jeden Tag über die Turbulenzen und Konflikte im Land. Ralf hatte mir versichert, dass die Staatsgeschäfte trotzdem normal liefen und dass ich den Behörden trauen könne. Doch ich war mir da nicht so sicher.

Ehe ich mir richtige Sorgen machen konnte, blieb ein untersetzter, etwas korpulenter Mann vor mir stehen. Ich sah auf. Er musste etwa vierzig Jahre alt sein und hatte hellbraune, kurz geschorene Haare. »Hannes Führinger?«, sagte er.

»Ich bin Hannes«, sagte ich. »Du musst Karl sein.«

Wir gaben uns die Hand. Dann deutete ich auf die Waffenkoffer, die sich neben mir auf einem Gepäckwagen stapelten. »Dein Werkzeug«, sagte ich. »Alles stoßfest und aufbruchsicher verpackt.

Karl lachte. »Dann kann ja nichts mehr schief gehen.«

Ich stand auf. Ich war gut und gern einen Kopf größer als er. »Komm, wir melden uns an«, sagte ich.

Ich wusste nach vielen Einsätzen, wo ich den Sonderschalter für Waffentransporte fand. Während der Polizist am Schalter meine Papiere prüfte, musterte ich Karl von der Seite. Er wirkte gelassen. Zumindest hatte ich schon nervösere Neulinge erlebt. »Bitte folgen Sie mir«, sagte der Polizist und öffnete eine Tür hinter dem Schalter.

Wir traten in einen engen Raum. Der Polizist schob unsere Waffen hinein. Er öffnete die Koffer, prüfte die Seriennummer der Waffen, ließ sie durch ein Röntgengerät laufen, kontrollierte, ob sie als Kriegswaffen im Register standen oder als gestohlen gemeldet waren, versperrte und plombierte hinterher die Koffer und brachte auf jedem einen großen Aufkleber an. »Weapons« stand in roter Warnschrift darauf. Jetzt waren die Waffen bereit für den Flug.

»Das funktioniert ja alles wunderbar«, sagte Karl, als wir vom Sonderschalter zum Check-in gingen.

»Ich habe das inzwischen oft genug gemacht«, sagte ich.

»Bei unserer Ankunft in Ägypten läuft das genauso reibungslos?«, fragte er.

Ich nickte. »Der Ablauf ist fast immer und in allen Ländern gleich. Am Rollfeld empfängt uns unsere Kontaktperson von der Polizei und begleitet uns bis zu unserem Zielort am Hafen, natürlich gegen Entgelt. Dort bekommen wir die Waffen.«

Ich versuchte bei unseren Aufträgen, Reisen mit so wenigen Zwischenstopps wie möglich zu planen. Dennoch mussten wir dieses Mal über München nach Kairo fliegen. Kairo war gerade eine nicht eben beliebte Reisedestination, weshalb es kaum Flüge gab.

Obwohl meine Lider immer schwerer wurden, erklärte ich Karl in der Maschine von Wien nach München noch einmal genau seine Aufgaben als Waffenoffizier. »Unsere Teams bestehen immer aus vier Personen«, sagte ich. »Es gibt einen Teamleader, einen Waffenoffizier, einen Sanitäter und einen Allrounder, der auch für die Kommunikation zuständig ist. Wir nehmen bauliche Veränderungen am Schiff vor, wenn es uns notwendig erscheint. Wir richten Schutzräume ein, errichten Abwehranlagen und überarbeiten die Navigation. Es ist zu jeder Zeit einer von euch auf der Brücke, das ist wichtig. Ihr überwacht tagsüber das Radar und sucht zusätzlich den Horizont mit dem Fernglas ab. In der Nacht verwendet ihr die Nachtsicht- und Wärmebildgeräte. Außerdem führt ihr Übungen mit der Crew durch. Dabei geht ihr das Verhalten im Brandfall und bei Schiffbruch durch. Deine spezielle Aufgabe ist die Verwaltung der Waffen. Das Öffnen der Waffenkoffer im Ernstfall erfordert zwei Personen, den Kapitän und dich. Die Koffer haben zwei Schlösser. Den einen Schlüssel verwahrt der Kapitän, den anderen du. Du bist dafür verantwortlich, jedem Teammitglied Waffe und Munition auszuhändigen.«

Karl nickte.

»Denk immer daran, den ganzen schriftlichen Kram zu erledigen, egal wie stressig die Situation gerade scheinen mag«, sagte ich. »In der Regel hast du genug Zeit dafür.«

In München nahmen uns wie geplant am Rollfeld Polizisten in Empfang. Als unsere Ausrüstung kam, brachten sie uns direkt zum Gate unseres Anschlussfluges. Als wir in der Maschine nach Kairo Platz genommen hatten wandte ich mich noch einmal an Karl. »Alles klar soweit?«

»Ich kenne mich aus«, sagte er.

Ich rief Ralf an. Das Klima zwischen ihm und mir war nie richtig entspannt gewesen. Es lag wohl an unseren unterschiedlichen Rollen in Lisas Leben. Als sich Lisa von ihm getrennt hatte, hatten Lisa und ich uns schon gekannt. »Ich wollte nur ein letztes Mal fragen, ob alles in Ordnung ist«, sagte ich.

Ralf räusperte sich. »Es gibt eine kleine Änderung«, sagte er. »Euer Kontaktmann nimmt euch nicht gleich am Rollfeld in Empfang, sondern erst im Ausgangsbereich.«

Das hörte sich für mich nicht gut an, doch ich versuchte, vor Karl meine Verwunderung zu verbergen. »Das ist unüblich«, sagte ich. »Kannst du das bitte noch klären?«

Er seufzte. »Geht in Ordnung.«

Ich war beunruhigt, aber die Müdigkeit übermannte mich, noch bevor das Flugzeug startete.