Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen
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Gerd vom Steinbach

DES RATES SCHREIBER

Chemnitzer Annalen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2020

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.

Copyright (2020) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Gerd Kappel

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Dank

Was bisher geschah

Die Leute hinter der Bach

Auf Freiersfüßen

Die Vision an der Hochzeitstafel

Stadtschreibers Mühe

Der Dreh mit der Saigerhütte

Willkommen für die Bettler in der Kutte

Die Jungfer auf der Bleiche

Sicher sein im Felsgestein

Auf Rudolfs Spuren

Schneevogel

Die Wegelagerer

Am Pranger

Im Reich des Berggeistes

Sorgen um den Frieden im Berg

Gefahr im Verzug

Des Rates ganzer Stolz

Gib Gott was Gottes ist

Das Haus der Tuchmacher

Der Weisheit Schluss

Nachwort

DANK

Bevor Sie sich dem Inhalt diesem Buch zuwenden, sei es mir gestattet, all denen zu danken, die mir so treu zur Seite standen und dafür Sorge trugen, dass ich den Optimismus nicht verlor. Lohnt es sich überhaupt, dieses Projekt weiterzuführen? Und immer dann, wenn die Zweifel am größten schienen, kam die Frage von irgendwo her: Schreibst du noch? Wann kann ich die Fortsetzung des Buches lesen?

Motivation gab mir auch das Wirken des Chemnitzer Geschichtsvereins wie auch des Stadtarchivs, welche mir mit ihren reichen Aktivitäten so manchen Hinweis zuteilwerden ließen, die meiner Geschichte im Verlaufe die Würze verliehen. Nicht zuletzt der hervorragenden Stadtbibliothek im Tietz gilt mein Dank, denn auch hier fand ich gute Unterstützung bei der Recherche. Leider ging das herrliche Lesecafé verloren, in welchem ich anfangs meiner Muse freien Lauf lassen konnte.

Besonders danke ich Sonja, die sich größte Mühe gab, meinen grammatikalischen Fehlern Paroli zu bieten und sie aus dem Manuskript verbannte. Hinzu kommt ihre Bereitschaft, diesem Hobby den nötigen Freiraum zu gewähren.

WAS BISHER GESCHAH

Der Roman „Des Rates Schreiber“ schließt an das Buch „Aufbruch im Miriquidi“ an. Roland, welcher großes Interesse an der Geschichte seiner Heimatstadt hat, ist mit deren Erforschung nicht sehr glücklich und kann nicht verstehen, dass die Chroniken vergangener Zeiten der historischen Betrachtung nicht standzuhalten vermögen. Dass aber wissenschaftliche Erkenntnisse und tatsächliche Abläufe nicht unbedingt übereinstimmen müssen, darf er selbst erleben, als er nach einem Verkehrsunfall in die Personen vergangener Zeiten schlüpfen kann und damit in die Lage versetzt wird, die Geschichte der Stadt Chemnitz selbst zu erleben.

Als Folge seiner Verletzungen fällt er ins Koma und findet sich als Rudolf, dem Siedler aus dem Thüringischen im 10. Jahrhundert wieder, der an der Kolonialisierung des Sorbengaus teilhat. Die weise Frau Hildburga nimmt mit ihm die Aufgabe als Hüter der zu gründenden Stadt an.

Als Offizier des kaiserlichen Heers wehrt Rudolf mit seinen Bauern den Angriff der Ungarn ab und wird mit einem Lehen belohnt, welches zum Ausgangspunkt für das spätere Rottluff, Rudolfs Hufe, wird. Die Gründung einer Stadt jedoch lässt noch auf sich warten, einzig eine kleine Kapelle markiert den Punkt, der einmal deren Zentrum bilden wird.

Nur kurze Zeit kehrt Roland in die Gegenwart zurück, nur um gleich darauf im 12. Jahrhundert die Gründung der Stadt mitzuerleben, als auf des Kaisers Geheiß die Siedler an der Johanniskirche und an der Niklaskirche ihre neue Bleibe im sumpfigen Gelände im Schwemmland des Flusses finden.

Jahrhunderte erlebt Roland im Zeitraffer des Komas. Dieweil die Rettungskräfte alles daransetzen, ihn zu stabilisieren, der Krankenwagen eben den Unfallort verlässt, findet sich Roland als Ruprecht im 15. Jahrhundert wieder und der Leser lernt eine Stadt des Mittelalters kennen.

In der nun folgenden Geschichte begleitet Roland als der Stadtschreiber Ruprecht die Geschichte der Stadt in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach den Ereignissen der Hussitenbewegung und zur Zeit der Leipziger Teilung Sachsens, die bis heute in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Bestand hat. Es ist an sich ein friedliches Jahrhundert für die Gegend und doch ist die Zeit spannend. Die maßgeblichen Familien der vorangegangenen Jahre werden durch neue abgelöst, die jetzt als Ratsherren die Geschicke der Stadt lenken.

Bevor der große Georgius Agricola, der Begründer der Montanwissenschaft, zum Zeitpunkt der Reformation als Bürgermeister der Stadt in Erscheinung tritt, war der Pädagoge Paulus Niavis Rektor der Lateinschule und gab ihr ein modernes Gepräge.

Lassen Sie sich also in ein interessantes Jahrhundert mitteldeutscher Geschichte entführen, in welchem die Veränderungen durch die Reformation erste zaghafte Markierungen setzen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

„Der Patient kommt zu sich, er stabilisiert sich. Frag in der Zentrale an, in welche Klinik wir ihn bringen sollen.“

Das Zucken der Augenlider verrät, dass der Verletzte um das Erwachen ringt und der Arzt kontrolliert aufmerksam die Geräte. „Mach schon, Junge, ich will Weihnachten zu Hause feiern und nicht ewig an dir herumdoktorn. Meine Kinder brauchen mich als Ruprecht!“

„Bis dahin ist schon noch ein wenig Zeit, Doc!“ Der Sanitäter schmunzelt und drückt die Sprechtaste, um das Fahrziel zu erfragen.

Der Mann auf der Trage gibt sich offenbar alle Mühe, die Schwelle zum Bewusstsein zu überqueren. Seine Sinne greifen suchend nach dem Inhalt der wahrgenommenen Worte. Ruprecht – wer ist denn Ruprecht. Schlieren gleich tanzen die Gedanken durch den Äther, lassen kein Festhalten zu und drehen sich im Reigen einer nimmer endenden regenbogenfarbigen Spirale und tauchen die Atemluft in die eisige Kälte eines rettenden Schlafes.

„Er dreht wieder ab!“ Die Stimme des Arztes tönt unwahr in das Ohr des Verunfallten, leiert blechern wie aus dem Trichter eines Grammophons, dessen Federspannung nachlässt.

***

DIE LEUTE HINTER DER BACH

„Kannst du nicht aufpassen?! Herrgott nochmal, der Schrank ist hinüber, den nimmt uns der Pegnitzer niemals ab! Hundertmal habe ich dir schon gesagt, dass du hinsehen sollst, wenn du etwas abstellst!“

Das Gesicht des Tischlermeisters ist rot vor Zorn und seine Wangen zittern. Mit festem Griff sucht er seinen Sohn vom Boden hochzuziehen, der aber hat die Augen verdreht, hockt in der Ecke und hält die Hand auf die Hüfte gepresst. Zwischen seinen Fingern färbt sich der Kittel dunkel von Blut.

Hans Prescher, so nennt sich der Meister, erschrickt vor dem Anblick. „Magdalena!“ Seine Stimme gellt durch die Werkstatt. „Bring schnell das Verbandszeug! Dein Sohn hat sich mal wieder dumm angestellt!“

Es ist doch stets dasselbe mit dem Jungen, er taugt einfach nicht für das Handwerk! Mit seinen einundzwanzig Jahren stellt er noch immer so viel Unfug bei der Arbeit an, dass sein Vater für Ruprechts Zukunft schwarz sieht. Nicht, dass er die Kniffe und Handgriffe des Tischlerhandwerks nicht beherrschte, nein – ganz im Gegenteil. Er arbeitet sauber und passgenau. Aber seine Gedanken schweifen zu oft ab und dann kommt es häufig vor, dass Werkzeuge herabfallen oder Werkstücke urplötzlich keinen Halt mehr finden und auf den Boden prallen.

 

Da ist Ruprechts jüngerer Bruder, der Paul, von ganz anderem Holz. Der arbeitet nicht nur ebenso präzise, sondern ist auch sehr konzentriert. Hans bereitet der Unterschied zwischen den Jungen große Sorgen, denn wem soll er später die Tischlerei übergeben? Ruprecht geht zu vieles schief und Paul steht mit dem Rechnen auf Kriegsfuß. Mehr Söhne jedoch gibt es nicht im Hause Prescher. Der besorgte Vater nickt grübelnd. Eines der Mädchen wird wohl die Bücher führen müssen, damit der Handwerksbetrieb nicht ruiniert wird.

Wo bleibt denn nur die Mutter? Gerade will er erneut nach ihr rufen, da öffnet sich die Tür und die Meisterin betritt die Werkstatt. „Was hat unser Pechvogel wieder angestellt? Er wird noch so enden wie sein Oheim, der Ruprecht Zimmermann – Gott habe ihn selig! Der ist in seiner Schusseligkeit auch von einem Balken erschlagen worden.“

Sie eilt zu ihrem Sohn und legt mit energischen Handgriffen die Wunde frei. „Oh, das sieht gar nicht gut aus! Sag der Elisabeth, sie soll eine Schüssel warmes Wasser bringen.“ Meister Prescher wirft über die Schulter seiner Frau einen Blick auf die freigelegte Wunde. Ein Stechbeitel ist zu gut einem Drittel dicht über dem Beckenknochen in die Hüfte eingedrungen und im Takt des Pulses tritt immer neues Blut aus der Wunde. Mit Entsetzen nimmt er die Gefahr war. Hoffentlich hat sich der Junge keine inneren Organe verletzt! Hastig wendet er sich ab, um der Tochter die von der Mutter erteilte Aufgabe zu übermitteln. „Ich werde den Bader holen“, gibt er Bescheid, ehe er die Werkstatt verlässt.

„Ja, ja, geh nur, wirst den Bader ohnehin nicht finden!“ Die Mutter lächelt schmerzlich vor sich hin. So ist er eben, ihr Hans: ein Kerl wie der Schrank im Ratssaal, aber hilflos wie ein Neugeborenes, wenn er Blut sieht. Sie schiebt mit den Fingern die Strähne des von grauen Fäden durchzogenen braunen Haares aus der Stirn und drückt mit dem Daumen die Ader neben der Wunde ab, so dass der Blutstrom verringert wird. „Lisa, wo bleibst du denn? Beeil dich!“

Auf den energischen Ruf der Mutter hin zeigt sich der strohblonde Schopf der Zwölfjährigen in der Tür. „Ich bin gleich soweit, Mutter. Das Wasser muss noch etwas wärmer werden.“

Das Mädchen wirkt für sein Alter schon sehr verständig und geht der Mutter des Öfteren zur Hand. Obwohl das gar nicht selbstverständlich ist, hat sie große Freude an der Hausarbeit und noch mehr am Lesen und Schreiben. Wenn es auch völlig außerhalb der Gepflogenheiten der Nachbarn ist, in der Familie Prescher lernen seit uralten Zeiten die Kinder das Schreiben. Natürlich geht es bei den einen besser und bei anderen schlechter, aber sie alle können mit Buchstaben umgehen.

Jetzt aber ist das Mädchen bemüht, eilig das warme Wasser der Mutter zu bringen, und obwohl die Schüssel eigentlich zu schwer ist für das staksige Mädchen, zieht es diese vom Herd und stellt sie auf die Bank daneben. „Hannel, nun pack mal mit an. Ich kann die Schüssel so nicht allein in die Werkstatt bringen“, fordert Elisabeth ihre Schwester, die nur ein Jahr jünger ist als sie selbst, zu helfen auf. Johanna, noch recht kindlich, hockt in der Ecke hinter dem Herd und ist in das Spiel mit ihrer Puppe vertieft. „Dann musst du eben das Wasser mit dem Krug rüberbringen“, wehrt sie das Ansinnen der Älteren ab. „Was bist du doch faul!“, erregt sich Elisabeth aufs Höchste. „Ruprecht liegt verletzt in der Werkstatt und dir ist das gleichgültig, als ob dir dein Bruder nie Gutes getan hätte. Dabei ist die Puppe, mit der du gerade spielst, von seiner Hand geschnitzt!“. Die Tränen der Entrüstung rollen nun, im Lichte schillernd, die zorngeröteten Wangen hinab.

Eilig springt Johanna auf und eilt bestürzt zu ihrer Schwester. „Lisa, es war doch nicht so gemeint! Ich will dir ja helfen, nur musste ich erst die Grete schlafen legen. Sei nicht traurig!“, bettelt sie und greift unbedacht nach der Schüssel, die ja noch des Herdes Hitze in sich bewahrt. Erschrocken zieht sie die Hand zurück, als die Wärme vom irdenen Rand auf ihre Haut trifft. Fast hätte sie das Gefäß von der Bank gerissen. „Autsch! Die ist ja heiß, wie soll ich die anfassen und heben?“ Elisabeth runzelt die Stirn. „Die Schüssel ist doch nicht heiß, ich habe sie eben vom Herd auf die Bank gehoben.“

Weil sie aber nicht länger debattieren will, nimmt sie die Kelle und schöpft das Wasser in den Holzbottich. „So werden wir es wohl schaffen!“, erklärt sie und trägt das Gefäß aus dem Zimmer. Johanna bleibt reglos zurück und fühlt sich über die Maßen gescholten. Nun treten ihr die Tränen in die Augen und vor Empörung schluchzt sie zum Herzerbarmen. „Keinem kann ich es recht machen! Jeder meint, er könne auf mir herumhacken, nur weil ich die Jüngste bin!“

Indes hat Elisabeth das Wasser neben der Mutter abgestellt, die den Bottich an sich heranzieht. „Das hat ja lange genug gedauert! Wenn es eilig ist, dann braucht ihr immer am längsten. Hilf mir und drück deinen Finger hierher!“, zischt Magdalena vor Sorge um den Sohn ungehalten. Kaum hat das Mädchen den Finger an Mutters Daumen statt platziert, hat diese den Stechbeitel mit einem Ruck aus der Hüfte des Sohnes gezogen. Mit der anderen Hand greift sie ein Tuch, spült es im warmen Wasser und wäscht die Verletzung. Anschließend deckt sie unter Druck die Wunde ab und legt einen straffen Verband an. Leises Seufzen dringt über die blauweißen Lippen Ruprechts. Die Augen finden wieder in die von der Natur zugedachte Stellung, die Lider schieben sich über die Pupillen und keinerlei Wahrnehmung ist erkennbar.

Müde wischt sich Magdalena über die Stirn. „Ich hoffe, dass es vorerst hilft, Schätzchen. Aber eines können wir noch tun. Nimm dir Johanna und laufe mit ihr in die Johannisvorstadt. Gleich hinter der Kirche wohnt die alte Mechthild. Erzählt ihr, was vorgefallen ist und bittet sie um ein paar Kräuter. Pass gut auf das Geld auf, das ich dir mitgebe. Du musst es der Mechthild für die Kräuter geben.“ Sie greift in ihre Tasche und bringt eine Münze hervor. „Frage sie aber auch, was ich mit den Kräutern tun soll und merke dir das gut. Und nun sputet euch!“ Eilig schlüpft das Mädchen aus der Werkstatt und gleich darauf hört man die hastigen Schritte der Schwestern in der Gasse.

In der Werkstatt kniet Magdalena neben ihrem Sohn. Ihre Hand in den Nacken des Liegenden schiebend flüstert sie ihm ins Ohr: „Komm schnell wieder auf die Beine, Großer. Was bist du nur für ein Tunichtgut, dass du dir immer wieder etwas antust? Aber du kannst noch nicht von uns gehen, denn du hast hier noch Aufgaben zu erfüllen!“ Keine Träne tritt aus ihrem Auge und doch schüttelt sie nun ein leises Weinen. Sie neigt den Kopf weit nach vorn und endlich ruht ihre Stirn an seinem Hals.

„Was ist denn los Mutter, warum weinst du?“ Kaum hörbar dringen die Worte aus dem Mund des Verletzten an ihre Ohren. Geradezu erschrocken hält sie die Luft an und blickt in sein todbleiches Gesicht. Seine Augen sind geöffnet und in ihnen steht die Frage, was denn vorgefallen sei.

„Was willst du mir noch für Schrecken einjagen, Junge? Kannst du nicht einmal auf deine Mutter Rücksicht nehmen und dabei auch noch auf deinen Vater hören? Was passiert ist? Du hast das Werkzeug in die Luft gelegt und aus lauter Dankbarkeit für deine Schusselei hat der Stechbeitel in dir den nötigen Halt gesucht! Wie willst du jemals ein guter Tischler werden? Bete zu Gott, dass du wieder gesund wirst und keine inneren Organe bedrohlich verletzt sind!“

Nun endlich finden ihre Tränen den Weg aus den Augen und nur zu willig lässt sie ihnen freien Lauf. Schwach spürt sie den kraftlosen Druck seiner Hand, die sich eher trostsuchend denn trostspendend auf ihren Unterarm gelegt hat.

Inzwischen sind die zwei Schwestern an der Stadtmauer angelangt. Elisabeths Sorge hat sich auf Johanna übertragen und so eilen sie mit verängstigter Miene hinter dem letzten Haus der Gasse hinüber zum Johannistor. Die alte Roselerin schaut aus ihrem Gärtchen herüber und die Neugier steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Gar zu gern wüsste sie, was vorgefallen sei, um sich mit ihren Gevatterinnen auszutauschen. Natürlich muss sie sich vor ihrem Mann, dem Schuhmacher, in Acht nehmen. Eben will sie den Mädchen nachrufen, da ertönt Michael Roselers Stimme unwirsch aus dem Werkstattfenster: „Brauchst gar nicht erst dein Maul aufreißen! Kümmere dich um deinen Kram, da hast du genug zu tun!“

Empört wendet sich die Roselerin dem Fenster zu, in dem gerade noch mit Mühe im Dunkeln des Zimmers das Gesicht des Schuhmachers zu erkennen ist. „Du musst mir nicht vorschreiben wollen, was ich mit wem zu besprechen habe!“, keift sie ihren Mann an. „Wir wüssten gar nichts über unsere Nachbarn, wenn es nach dir ginge! Dir wäre es sicher recht, als Einsiedler in den Bergen zu hausen. Deswegen steht unser Haus gewiss auch direkt an der Stadtmauer, wohin sich kaum einer verläuft.“

Die Antwort des Schuhmachers besteht nur aus einem Brummen, das den Unmut des Alten nicht deutlicher ausdrücken könnte.

Martha, die jüngste Tochter der beiden und das letzte noch im Haus lebende Kind, hört an der Gartenpforte mit Erheiterung den Wortwechsel der Eltern. Seit Jahr und Tag steht die Tratschsucht der Mutter gegen die Wortkargheit des Vaters und immer wieder entwickeln sich daraus recht unterhaltsame Dispute. Gerade will sie einen bissigen Kommentar zur Auseinandersetzung der Eltern geben, da sieht sie drüben an der Mauer Claus mit einer Gruppe Gleichaltriger entlanghuschen, die es offensichtlich auf einen Schabernack mit den zwei Prescher-Mädchen abgesehen haben.

Der Junge ist mit seinen zehn Jahren das vierte Kind vom Töpfermeister Reichenhein und aufgrund seines Draufgängertums Anführer einer Bande gleichaltriger Knaben, die in der Gasse und darüber hinaus reichlich von sich reden macht. Geradezu spektakulär sind ihre Streifzüge durch die Höhlen und Keller drüben im Katzberg und nicht erst einmal hat der Michel Reichenhein diese wilde Horde aus dem Berg herausgeprügelt.

Eilig huscht Martha aus dem Garten und folgt den Lausbuben in sicherem Abstand. „Halt, Martha! Wo willst du hin?“ Die gebieterische Stimme der Mutter erreicht zwar ihr Ohr, allein, sie ist nicht gewillt einzuhalten und so huscht sie um die Ecke des Ratsdienerhauses am Johannistor.

Es fehlte ihr gerade noch, den Eltern sofort Rede und Antwort zu stehen. Wenn sie jetzt den beiden Mädchen zur Seite stehen will, dann nicht um derentwegen, sondern vielmehr, um den Ruprecht auf sich aufmerksam zu machen. Schon geraume Zeit hat sie ein Auge auf diesen stattlichen Burschen geworfen, aber dieser Narr bemerkt es einfach nicht. Was auch immer sie anstellt, ob beim Tanzen oder Singen, beim Ausflug der jungen Leute in die Auen oder beim Kirchgang, es gelingt ihr einfach nicht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es scheint ganz so, als würde Ruprecht gar keine Mädchen wahrnehmen, zumindest nicht so, wie sie es sich vorstellt. Er ist eben ein völlig anderer Kerl als sein Bruder Paul, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Aber Marthas Traum ist es, Ruprechts Weib zu werden. Darüber ist natürlich niemand im Bilde und sie mag es auch nicht ihren Eltern anvertrauen. Wer weiß schon, welchen Mann diese ihr zugedacht haben und wenn das dann nicht der Ruprecht ist …

Eilig tritt Martha durch das Stadttor. Die Wache ist mit der Kontrolle der Fuhrwerke beschäftigt und so kann sie unbehelligt der Johannisvorstadt entgegeneilen.

Nicht weit vor ihr hasten die zwei Prescher-Mädchen Hand in Hand die ausgefahrene Zschopauer Landstraße entlang, gefolgt von der johlenden Horde unter Claus‘ Führung, deren Geschrei nicht gerade von Lieblichkeit und Feingefühl zeugt. Plötzlich wird es Johanna zu viel. Sie reißt sich von ihrer Schwester los, dreht sich um und tippt sich über den aufgeplusterten Wangen mit spitzem Zeigefinger an die Stirn. „Haut ab, ihr blöden Kerle! Sucht euch doch ein neues Loch im Katzberg oder ersäuft euch im Tümpel an der Pforte, aber lasst uns in Ruhe!“ Diese deutliche Ansage ist kaum geeignet, die Jungen zu mäßigen. So gewinnt ihr Lärm an Kraft. Zugleich fliegen die ersten Erdklumpen durch die Luft, jedoch beeindruckt dies Johanna aufgrund fehlender Treffsicherheit keineswegs. „Ach die Kleinen, wie süß! Kleinchen wirft Steinchen! Hört ja auf, ihr Rotznasen. Ansonsten greife ich mir einen von euch und klatsche ihm meine Hand so auf die Nase, dass das Blut spritzt!“

 

Tatsächlich sind die Jungen ein Jahr jünger als sie und Knaben pflegen in diesem Alter für gewöhnlich nicht größer zu sein als die Mädchen. So ist die Drohung Johannas durchaus ernst zu nehmen, zumal ihr die Kampfeslust überdeutlich ins Gesicht geschrieben steht.

Claus, der sich– wie oft zuvor – bereits als alleiniges Ziel der wenig zartfühlenden Attacken der jüngsten Tischlertochter sieht, hält eilig seine Gefährten zurück. „Lasst die Heulsuse, wir gehen hinüber zum Bernsgraben und fangen ein paar Fische.“

Urplötzlich ist das neue Ziel für die Knaben entscheidend und mit großem Geschrei jagen die Bürschlein davon, vollkommen vergessend die bis eben noch geplagten Mädchen.

Elisabeth ist über das energische Auftreten der jüngeren Schwester reichlich erschrocken und mit bleichem Gesicht schaut sie der Bande nach. „Bist du verrückt, Hannel?“, stammelt sie. „Da haben wir aber Glück gehabt, die hätten uns grün und blau geschlagen, so viele wie die sind. Wir zwei hätten gegen die Meute gar keine Chance gehabt!“

Johanna blinzelt sie keck an: „Heul doch! Erstens wären wir zu dritt gewesen, denn dort kommt Roselers Martha und sie hätte uns sicher beigestanden. Außerdem wäre mein erster Tritt dem Claus zwischen die Beine gefahren. Dort tut es den Jungs am meisten weh und er wäre gerannt wie ein geölter Blitz, die ganze Bande hinterdrein. Was sollte ich also Angst haben. Und nun komm endlich, wir müssen zu der alten Kräuterhexe.“

Wieder ist es Elisabeth, die sich nicht auf Johannas Wesensart einlassen will, die Jüngere ist ihr zu unüberlegt in Wort und Tat. „Du bist unmöglich, Hannel! Mit deinem Geschwätz bringst du noch andere Leute in Gefahr. Was meinst du, wie schnell jemand zur Hexe erklärt wird?! Hat dir jemals die Mechthild etwas zu Leide getan? Immer gibt sie der Mutter Heilkräuter, wenn jemand krank ist, niemals hat sie uns geschadet und da sagst du, sie sei eine Hexe! Wenn das der Herr Pfarrer hört, dann dauert es nicht lange, bis die heilige Inquisson – oder wie das heißt – zupackt. Willst du das?“

In kindlicher Offenheit blickt Johanna in Elisabeths schulmeisterlich strenges Gesicht. „Sei nur nicht so bös zu mir! In der ganzen Stadt spricht man von der Kräuterhexe, was soll ich mich da zurückhalten? Außerdem geht der Pfarrer auch bei ihr ein und aus, selbst der Bader holt bei ihr ganz und gar nicht heimlich die Kräuter.“

Die ältere Schwester muss ihr wohl oder übel recht geben, dennoch ist ihr sehr daran gelegen, die respektierte Klügere zu sein. „Trotzdem beschuldigt man niemanden einfach so der Hexerei!“

Derart mit Klarheit versehen setzen die beiden Mädchen gewichtig den Weg fort. Es sind noch wenige Schritte bis zum Haus des Kräuterweibs zu gehen, da schließt Martha zu ihnen auf. „Na, ihr beiden, wo wollt ihr denn hin, ist etwas passiert?“ Nicht die Anwesenheit der Schuhmachertochter verwundert die Schwestern, sie hatten sie ja vorhin bemerkt, die Frage erstaunt sie. Wie kommt Martha darauf, dass etwas passiert sein könnte?

„Wie meinst du das, was sollte passiert sein?“, fragt Johanna ganz und gar unschuldig. Martha jedoch will in ihrer Unruhe nicht erst lange taktieren und so fragt sie frei heraus: „So panisch wie ihr aus der Stadt gerannt seid, muss etwas passiert sein. Also kommt, sagt schon, was los ist!“

Elisabeth mustert die Ältere von unten herauf. „Ja, du hast recht, der Ruprecht hat sich verletzt und wir besorgen ein paar Heilkräuter.“

„Du meine Güte!“ Der erschrockene Ausruf Marthas lässt auf eine ehrliche Sorge schließen und ihre heimliche Liebe macht das glaubhaft. „Erzählt schon, was ist passiert?“

Haargenau schildert die Ältere der Schwestern das Vorgefallene und Martha kommt nicht umhin, mitfühlend zu seufzen. Johanna beobachtet still die Nachbarstochter und fragt schließlich ohne jede Hemmung in ihrer äußerst direkten Art: „Was leidest du denn so mit Ruprecht? Bist du in ihn verliebt?“ Dabei reißt sie die nussbraunen Augen weit auf und blickt geziert nach oben in das klare Blau des Himmels.

Martha läuft tiefrot an und bemüht sich, durch angestrengtes Husten die Peinlichkeit des Augenblicks zu überspielen. Endlich erwidert sie bewusst flapsig: „Wie kommst du denn darauf? Ich bin nur ein wenig in Sorge.“ Johanna aber kichert in kindlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber dem jungfräulichen Liebesempfinden: „Martha ist in Ruprecht verknallt! Heirate ihn doch, dann bekomme ich vielleicht ein Paar neue Schuhe von deinem Vater.“

Mit der flachen Hand gibt ihr Elisabeth einen Klaps auf den losen Mund. „Du bist ein kleines, dummes, freches Ding!“, rügt sie ihre Schwester und ahnt doch, dass diese recht hat. Johanna war schon immer eine aufmerksame Beobachterin. Martha hingegen weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ungehalten faucht sie: „Quatsch, du dummes Gör!“ Hastig dreht sie sich um und läuft zur Stadt zurück, während die zwei Mädchen endlich an Mechthilds Tür klopfen.

Als auch nach dem zweiten Klopfen kein Geräusch aus der Hütte dringt, eilt Johanna ungestüm um das alte Gebäude herum, um die Alte vielleicht im anschließenden kleinen Gärtchen zu entdecken. Das schmale Geviert ist so dicht von Pflanzen bedeckt, dass nur ganz vereinzelt der Boden zu erkennen ist. Allerlei Getier tummelt sich im satten Grün und in der bunten Farbenpracht der Blütenvielfalt. Unter einem knorrigen Apfelbaum lehnt sich eine altersmüde Bank an den schorfigen Stamm und wehrt sich allein durch ihr Aussehen gegen die ursprünglich angedachte Nutzung. Weiter hinten verhindert eine dichte Hecke den Blick auf die Melancholie des Friedhofs, der sich von Sankt Johannis her erstreckt. Seitlich ab ragt eine Birke stolz und wie am Lot gezogen in den Himmel. Allein die Besitzerin des ärmlichen Anwesens ist nicht zu entdecken. Das Mädchen versucht, einen Blick in das Innere der Hütte zu werfen, doch die hautbezogenen winzigen Fenster lassen nichts erkennen. Der fast quadratische Grundriss des Hauses verrät, dass hier kein Stall den Tieren Unterkunft gewährt, in dem man die Alte vermuten könnte. Mutter Mechthilds ganze Aufmerksamkeit gilt den Pflanzen.

Johanna kehrt auf die Dorfstraße zurück und sieht die Gesuchte bei ihrer Schwester stehen. Offensichtlich kommt sie gerade aus dem Wald, denn auf dem Rücken ragt ihr eine Kiepe über den Kopf hinaus, aus der dürre Äste zum Himmel weisen. Vor dem Bauch baumelt ein Beutel, in dem sie vermutlich Pflanzen und Wurzeln verstaut hat. Das runzlige Gesicht mit den klugen Augen wird von einem freundlichen Lächeln verschönt, das den Mädchen Vertrauen vermittelt. Wahrscheinlich ist sie soeben eingetroffen, denn Johanna hört gerade noch die Begrüßungsworte: „Na, so etwas, wer besucht ein altes Weib wie mich? Und dazu noch im Doppelpack. Wenn ich mir die Gesichter so ansehe, dann seid ihr die Prescher-Mädels, stimmt’s? Da gucken doch Magdalena und Hans aus euch heraus.“

Die Schwestern freuen sich sichtlich, dass die Alte sie zuordnen kann, denn sie haben sich höchst selten gesehen. Mechthild vermeidet es tagsüber nach Möglichkeit die Stadt zu betreten. Die Hütte der Kräutersucherin hingegen ist an sich kein Ziel für Mädchenausflüge.

„Was führt euch zu mir?“, setzt sie fort. „Wenn euch die Mutter schickt, kann es nur einen Unfall gegeben haben. Also: Wer hat sich verletzt und wie?“

Elisabeth schaut die Frau sehr erwachsen an und erwidert: „Unser Ältester hat sich etwas zugezogen. Der Stechbeitel ist ihm von der Seite her in den Bauch gedrungen. Mutter hat ihn aber herausgezogen.“

Das Kräuterweib blickt sehr ernst, als sie verstehend nickt. „Habe ich es mir doch gedacht, der Rudolf ist ein Wiedergänger“, flüstert sie gerade so laut, dass es Elisabeth eben noch verstehen kann. Fragend blickt sie die Alte an, die aber scheint den Blick nicht wahrzunehmen. „Kommt mit in mein trautes Heim, ich will euch schon das passende Kräutlein zu finden wissen.“ Sie tritt neben die Tür und lässt sich von den beiden Mädchen die schwere Kiepe vom Rücken nehmen.

In der Luft des Hauses liegt der würzige Duft unzähliger Kräuter und Wurzeln, die unter der niedrigen Decke des Zimmers hängen. Auf Wandborden finden sich Töpfchen und Becher, deren Inhalt durch Deckel geschützt ist. Auf einem massiven Tisch steht ein Mörser mit Stößel und wartet nur darauf, die Kräuter zu zerkleinern. Ohne allzu lange suchen zu müssen, greift sich Mechthild eines der Töpfchen und schüttet ein wenig von dessen Inhalt auf ein Brett, legt einige verschiedene Blätter hinzu und verstaut das Ganze in einem Leinenbeutelchen, den sie Elisabeth in die Hand drückt. „Bring das deiner Mutter, sie soll die Blätter mit sprudelndem Wasser übergießen und den Tee dem Ruprecht zu trinken geben. Das wird ihm die nötige Ruhe geben und das Fieber senken. Das Pulver aber soll sie mit Talk vermengen und diese Salbe auf die Wunde streichen.“

Das Mädchen dankt und will das Geld im Gegenzug überreichen, da wehrt die Alte energisch ab: „Nichts da, der Rudolf hat bei mir noch etwas gut!“ Sie schiebt die Schwestern aus der Tür und legt hinter ihnen den Riegel vor.

Sprachlos blickt Johanna Elisabeth an. Was hat denn das wieder zu bedeuten? Was hat die ganze Sache mit einem Rudolf zu tun? Gewiss kann sich die Alte einfach keine Namen merken. Ohne noch ein Wort zu sagen, eilen sie der Stadt zu, Mutter und Ruprecht werden warten.

Am Johannistor hat sich inzwischen ein schierer Stau gebildet. Die recht massiven Wagen aus Hilbertsdorf bringen ausgehauene Blöcke von den Steinbrüchen am Goldborn. Seit geraumer Zeit werden die Holzgebäude durch massive Steinhäuser ersetzt, soweit es der Geldbeutel neuer Grundstückseigentümer nur zulässt. Das Bestreben der Wohlhabenden, ihren Reichtum mit fest gemauerten Häusern, von allerlei Zierrat verschönt, herauszuschreien, ist keinesfalls nur ein Modedünkel. Die Stadtbrände der Vergangenheit sprechen eine zu deutliche Sprache.