Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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Einem Schulmeister gleich hebt der junge Ratsherr die rechte Hand mit gestrecktem Mittelfinger und doziert: „Es ist nur rechtens, wenn wir den Zeichen der Zeit aufmerksam folgen und daraus Kapital zum Wohle unserer Stadt ziehen. Wie wir alle wissen, gibt es in den Bergen gutes Erz zu schürfen, was wir uns zu Nutzen machen sollten. Wenn wir nicht schnell genug handeln, dann werden es uns die Städte Zwickau oder Freiberg, vielleicht auch Mittweida oder Glauchau besser zu machen wissen und wir haben das Nachsehen. Mit der Saigerhütte schaffen wir eine Menge Gelegenheit weiteren Gewerkes zum Wohle der Stadt. Wir sollten also der Hüttengesellschaft Vorteile zubilligen, die uns fürderhin allen zugutekommen.“

Herr von Pirne schüttelt schmunzelnd das greise Haupt. „So habt ihr euch das klug gedacht, ihr Schützes und Tyles?! Chemnitz schustert der Hütte Geld zu, das dann in eure Taschen fließt! Es sind schon durch des Kurfürsten Privileg Vorteile gegeben, die ausreichend erachtet werden sollten, euch in sicherem Sattel zu wissen. Überlegen wir besser, wie wir der Unternehmung ihren angemessenen Beitrag für die Stadtkasse bestimmen, damit wir alle etwas davon haben.“

Empörung malt sich in die energischen Züge des Ulrich Schütz. „Ich muss sehr bitten, Herr von Pirne, nicht, dass es mir um das Geld leid wäre, was in die Stadtkasse zu fließen hat. Aber es sollte eher gering gehalten werden, um die Erfolgsaussichten nicht von vornherein zu mildern. Schließlich soll die Hütte nicht nur den Leuten Lohn und Brot auf Dauer geben, sondern auch steten Zufluss ins Stadtsäckel. Ich will damit sagen, dass es den Herren an der Spitze der Gesellschaft, mich eingenommen, weniger allein um den Gewinn geht als mehr um den Erfolg der Unternehmung!“

Der Bürgermeister hebt beschwichtigend die Hand. „Es bezichtigt niemand die Herren der Gesellschaft der Unredlichkeit. Wir wollen gerne glauben, dass Euch der unternehmerische Erfolg vornan steht, mein lieber Schütz. Aber wir sollten als Ratsherren dieser Stadt das Wohl der Bürger besonders im Auge behalten. Damit will ich sagen, wenn wir nicht darauf dringen, das Stadtsäckel immer gut gefüllt zu wissen, wird die städtische Entwicklung stocken und dann wiederum ist das Unternehmen Saigerhütte in größter Gefahr.“

Beifällig nicken die Ratsherren mit Ausnahme des jungen Schütz, der eher gelangweilt die Schnitzerei am Deckenbalken betrachtet. „Wenn es so gewollt ist, wird die Hütte gewiss ihren Beitrag zur Sanierung des Stadthaushaltes leisten, nur warne ich die werten Herren! Der Bauer sucht auch nicht von der Färse Milch zu bekommen.“

Herr von Pirne schüttelt den Kopf und murmelt vor sich hin: „Das hält man doch nicht aus, jetzt wird schon das Vieh bemüht! Fragt sich nur, wer ist das Rindvieh?“

Ruprecht hat an seinem Schreibstuhl sehr wohl die Worte verstanden und muss sich bemühen, nicht loszuprusten.

Ein dröhnender Knall füllt den Raum aus, als Ulrich Schütz seine Faust auf den Tisch fallen lässt. „Es ist genug, Alter!“, donnert seine plötzlich sehr erregte Stimme hinterdrein. „Gewiss bin ich für manchen derben Spaß zu haben, aber dass ich dem Vieh zugeordnet werde, gestatte ich selbst dem Stadtadel nicht – mag dessen Stammbaum auch auf den Lokator dieser Civitae zurückgehen! Mein Protest wird den Markgrafen Albrecht sicher sehr interessieren! So ganz für umsonst wird er nicht die Genehmigung zum Betrieb der Hütte erteilt haben.“

Bürgermeister Stobener klopft mit den Knöcheln auf die Sessellehne. „Aber, aber, meine Herren, so erregt Euch nicht so über die Maßen! Die Hütte soll nur ruhig ihren Gewinn bringen, sehr zum Segen auch der Besitzer. Aber natürlich muss auch die Stadt ihren Gewinn damit haben – im Interesse der Bürger.“

Schütz nickt zustimmend. „Ist richtig, Herr Bürgermeister. Es wäre auch zu komisch, hättet Ihr nicht zuerst das Stadtsäckel im Sinn. Doch bitte ich zu bedenken, dass die städtischen Einnahmen umso einige Gulden höher werden, brächtet Ihr ein wenig mehr Geduld auf. Bedenkt die vielen Steuerzahler, die wir der Stadt zuführen werden!“

„Genauso halte ich es, das Wohl der Stadt steht im Vordergrund und deshalb gebe ich dem Antrag der Hüttenbetreiber insofern statt, dass die Gesellschaft einen verminderten Beitrag an die Stadtkasse zu entrichten hat. Schreiber, haltet das fest: auf fünf Jahre zwanzig Prozent verminderte Abgabe!“

Wenig zufrieden schüttelt Ulrich Schütz den Kopf, hatte er sich etwas mehr Entgegenkommen erhofft. Andererseits aber kann er zufrieden sein, eine Vergünstigung erzielt zu haben und so hütet er sich, einen Einwand anzumelden.

Das Kratzen der Feder auf dem Pergament lässt den stillen Protest des Schreibers ahnen.

Ratsherr Tyle lächelt selbstgefällig, hat doch Schütz‘ Bemühen sehr seinem Interesse entsprochen. „Wie wäre es, wenn wir nun zum nächsten Punkt kommen, endlich ein steinernes Rathaus, Herr Bürgermeister?“

DER DREH MIT DER SAIGERHÜTTE

Gemächlichen Schrittes geht Ruprecht durch die Gassen der Stadt und freut sich über jede positive Veränderung, die er entdecken kann. Immer mehr Brachflächen zwischen den Grundstücken finden ihre neuen Besitzer und so schließen sich nach und nach die Lücken in der Bebauung. Wie es beim Neubau so häufig aufzutreten pflegt, strahlt die jungfräuliche Schönheit neuer Farbe und lässt die Mängel der Alterung in der Nachbarschaft verblassen.

In der warmen Abendsonne leuchten die hellen Flächen eher rötlich gelb und der Gesang der Vögel lässt das Herz unbeschwert jubeln. Leise lächelnd beobachtet der Schreiber die Kinder, die da, der strengen Aufsicht elterlicher Fürsorge entflohen, dem städtischen Weideland hinter dem Rathaus mit lautem Geschrei zueilen. Offensichtlich huldigen sie dem alten Spiel vom Büttel und dem Räuber, dem letzten Bierkrawall angepasst.

Der Ausschank auswärtigen Bieres in der Stadt ist unter strenge Strafe gestellt. Dennoch wird immer wieder versucht, fremden Gerstensaft in die Stadt zu bringen. Die hiesigen Brauer wissen sich zu wehren und vertreiben die unliebsame Konkurrenz, wobei so manch deftiger Hieb geführt wird. Nach diesem derben Vorbild jagen die Kinder durch die Gasse, dem ausgewählten Ziel entgegen.

Ruprecht lächelt leise, erinnert er sich nur zu gut, wie er mit seinen Freunden in gleicher Art gerauft hat. Auch damals gab es genug Vorbilder für das alte Spiel. Ob da nun die heimliche Bleiche von Frankenberg herhalten musste oder der Schnelle Markt von Ebersdorf, wo die Fernkaufleute weit vor der Stadt ihre Ware an den Mann brachten, ohne Steuern zu entrichten, immer war da ein Grund zum Schlagen und Hauen.

„Schreiber muss man sein, da hat man Zeit, Maulaffen feilzuhalten!“, tönt es hinter Ruprecht, der erschrocken herumfährt. Drüben an der Brache, wo die Häuser von der Marktgasse und Am Sack durch das Dickicht zu sehen sind, lehnt sein alter Freund Kaspar lachend an einem Baum und dreht spielerisch seine blaue Kappe zwischen den Fingern. „Du musst ja ein schlechtes Gewissen haben, wenn du so erschrickst!“, meint er, „an sich ist es lange an der Zeit, das Tagewerk zu beenden. Möglicherweise ist das bei einem Schreiber anders. Der schläft vielleicht, bis die Sonne hoch am Himmel steht, weil die Herren vom Rat erst am Abend zusammentreten und dafür bis spät in die Nacht hinein beraten.“

Ruprecht stemmt, scheinbar empört, die Arme in die Hüften: „Was traust du dich, den Stadtschreiber deiner Kritik zu unterziehen, Kerl?! Ich prüfe die Umsetzung all der Erlasse, die ich tagsüber zu Papier gebracht habe und sinniere, wie ich die braven Bürger dieser Stadt zu noch braveren Bürgern machen kann.“

Indes sind die beiden jungen Männer beieinander angekommen und boxen sich gegenseitig auf die Oberarme. Es liegt inzwischen Monde zurück, dass sie sich zuletzt begegneten und so ist das Einvernehmen gegenseitig, sich ein wenig zu unterhalten.

„Lass uns rüber zum Michael in die Schenke gehen und einen Krug leeren. Dabei können wir alte Erinnerungen aufleben lassen“, schlägt Ruprecht vor, „der alte Michael wird sich freuen, uns wieder einmal zu sehen. Es liegt ein paar Jahre zurück, seit wir immer bei ihm einkehrten.“

„Einverstanden“, stimmt Kaspar zu, „außerdem ist die Schenke gleich dort drüben.“ Sich gegenseitig an den Schultern umfassend ziehen sie die Bretgasse hinunter, dem Wirtshaus zu.

Die Gastwirtschaft des alten Michael ist nicht zu vergleichen mit dem Gasthof „Zum Ritter St. Georg“ in der Langgasse, weder hinsichtlich der Größe noch der Anzahl der Gäste. „Zum Ross“ nennt sich das Wirtshaus des Michael und ist eher ein Geheimtipp der Städter, während im „St. Georg“ vorwiegend die Händler einkehren. Hier ist nichts nobel, hier ist es vor allem bequem und praktisch. Auf alte Fässer wurden die Platten genagelt und dies sind nun die Tische. Man sitzt auf Schemeln und lehnt sich an die Wand. Weniger bequem ist es für den Gast, der nicht an der Wand sitzt. Dem bleibt nichts übrig, als das Kinn mit der Hand zu stützen.

In der Gaststube liegt das ebenmäßige Murmeln der Gespräche an den Tischen. Bedächtig schlurft der Wirt mit einem Krug Bier zwischen den Gästen hindurch, wobei er den Neuankömmlingen zunickt, ihnen dabei einen Platz in der Ecke mit dem Kinn zuweisend.

Gerade haben sich die Freunde niedergelassen, da steht der alte Michael auch schon am Tisch und stellt vor jeden einen Krug Bier. „Willkommen in meinem Hause! Ich dachte schon, ich sei Euch nicht mehr gut genug, meine Herren. Ist meine Wirtschaft zu schlicht für so feine Herren oder lassen es die Weiber nicht mehr zu, meine Gäste zu sein?“

Kaspar nickt: „Wie soll es auch anders sein? Kaum hat man ein Weib heimgeführt, schon wird der Gang zum Wirtshaus zum Kampf mit tausend Hindernissen. Das wird dir der Ruprecht sicher bestätigen. Bei mir sieht das noch anders aus, ich war nur eben lange nicht mehr hier in der Stadt. Ich war im Badischen und habe ein wenig von der Welt geschnuppert. Nun will ich meinen Meisterbrief erwerben und dann werde ich hier Schuhe machen, besser als es mein Vater je gekonnt hat.“

 

Der alte Michael schnieft ein wenig. „Wie willst du deinen Vater übertreffen, er ist der beste Schuhmacher, den wir hier je hatten. Dir fallen doch höchstens Schuhe ein, deren Spitzen noch weiter nach oben gebunden sind, dass man kaum damit laufen kann.“

Der junge Schuhmacher winkt ab. „Die Schnabelschuhe sind nur äußerlich anders. Was ich neu kennengelernt habe, das ist die Machart der Sohlen. Sie müssen dem Fuß angepasst sein und sich anschmiegen, gleichzeitig aber auch Halt geben und da sind uns die Badener voraus.“

Ruprecht lässt den linken Brauen nach oben schnellen: „Was willst du damit sagen, alter Bierpanscher?! Ist der Vater meines Weibes vielleicht ein Stümper und sind seine Schuhe nicht zum Gehen geeignet?“

Erschrocken weicht der alte Wirt zurück, hatte er doch den alten Roseler ganz vergessen und nun fühlt sich dessen Tochters Mann genötigt, für diesen das Wort zu ergreifen! Krampfhaft überlegt er, wie er den Schaden aus der Welt schaffen kann. Sein Kehlkopf springt aufgeregt auf und ab und sein Blick sucht verzweifelt um Hilfe bei Kaspar nach, der seinerseits aber nur spöttisch den Mund verzieht und vor sich hin murmelt:

„Als Ehrenmann und guter Christ

Will ich Jesu Worte wagen

Sonst würd ich wohl ein Stümper sein,

Und müsst groß Armut ertragen!“

„Seht es nicht so ernst, meine Herren!“, fleht der alte Michael. „Des Roselers Schuhwerk steht dem des Meister Schumann in der Chemnitzer Gasse mitnichten nach, ich wollt nur deutlich machen, dass nicht neues Zeug vermag, die alte Handwerkskunst zu vernichten!“

„Verrenk dir nicht das Maul, Michael, sonst wird dein Bier sauer! Wir wissen selbst recht gut, dass Handwerkskunst nicht zu ersetzen ist!“, sucht Ruprecht Ruhe in den Wortwechsel zu bringen. „Doch in einem hast du ganz sicher unrecht: neues Zeug vernichtet durchaus alte Handwerkskunst. Frag mal die Steinmetzmeister, die im Morgenland waren, zu welchen Leistungen die Meister in grauer Vorzeit in der Lage waren, die heute keine Menschenhand mehr zu erschaffen vermag!“

Gelangweilt gähnt Kaspar hinter der hohlen Hand. „Du nimmst mir mit deinem Geschwätz die ganze Freude am Abend, Schreiberling! Wie soll ich dem Alten jetzt noch ein Freibier abschwatzen. Es hatte sich gerade so schön angelassen und da bringst du dein Friedensgeschwätz ins Spiel. Nun, so gehen die nächsten zwei Krüge aus deiner Geldkatze!“

„Träume nur nicht zu fest!“, wehrt sich der so Gescholtene, „Meine Martha wird mir den Strohsack vor die Tür legen, wenn ich die sauer verdienten Gulden in deine Kehle fließen lasse. Glaube nicht, dass ich dies zulasse, zumal es in unserer Stube so herrlich wild zugehen kann.“

Während sich der Wirt nun geflissentlich zurückzieht, legt Kaspar seine Hand auf Ruprechts Arm: „Was denn, du hast dir wirklich Roselers Martha geangelt, die Zierde hinter der Bach und die Rose der Chemnitzer Schuhmacherzunft?“

„Nun bleib mal ganz ruhig“, wehrt dieser energisch ab, „die Martha musste ich nicht angeln, sie hat eher mich eingefangen und dein Wortspiel kannst du vergessen!“

„Wie soll ich das verstehen? Ich weiß nicht, was du meinst mit dem Wortspiel.“ Kaspars Miene zeugt von ehrlicher Ratlosigkeit.

„Na, Rose der Schuhmacherzunft! Sie ist eine geborene Roseler – darin steckt die Rose und deine Familie nennt sich Schumacher, nach dem Handwerk eben. Rose der Schuhmacher würde dann heißen, dass die Martha dein wäre und das kannst du dir ganz sicher aus dem Kopf schlagen, bevor ich das für dich übernehme!“

Laut dröhnt das Lachen aus Kaspars Kehle durch den Schankraum, dass die anderen Gäste irritiert herüberblicken. Schnell nimmt er einen großen Schluck aus dem Krug, den er jedoch sogleich wieder prustend auf die Binsen auf dem Boden verliert. Als die Lachattacke dem Freund dann doch zu lange währt, schlägt dieser ihm mit der flachen Hand wenig zartfühlend zwischen die Schulterblätter. „Kannst dich wieder beruhigen, aber ich kenne dich von früher her, dir war kein Weib gleichgültig und wenn ich mich recht entsinne, warst du nicht schon als Knabe gerne mal vor der Stadt bei den Hübschlerinnen?“

Kaspar schnappt mit noch immer rotem Kopf nach Luft, prustet noch einmal kurz und findet endlich wieder zu sich selbst. „Ich war gewiss schon immer ein Schwerenöter, das stimmt. Des Weibes edle Kurven haben mich von Kindesbeinen an fasziniert. Aber dass ich Wortspiele verwende, um mir deren Gunst zu erschleichen, das liegt mir nun gar nicht. Nee, ich gönne dir das Glück mit der Martha von Herzen, die Rose der Schuhmacherzunft wurde sie vor ein paar Jahren genannt, weil sie bei unseren Zunftfesten immer so besonders reizend aussah, gleichzeitig aber auch jede Annäherung unmöglich machte – so wie eine Rose eben sticht.“

Ruprecht nickt zu seinen Worten, hebt den Krug und gibt dem Freund Bescheid. Mit dem Unterarm wischt er den Schaum vom Kinn und antwortet: „Da hast du dich fein herausgewunden. Ich glaubte, dir den Riechzinken verbiegen zu müssen, aber so wird es beim gemeinsamen Besuch der Latrine zum Wasserlassen bleiben. So lange, wie wir uns nicht gesehen haben, werden wir noch einige Maß zu uns nehmen.“

Kaspar hebt die Schultern. „An mir soll es nicht liegen, aber was wird deine Martha dazu sagen? Und lass dir das Bier nicht zu sehr in den Kopf steigen, der Herr Stadtschreiber sollte immer eine Respektsperson sein!“

„Und darauf solltet ihr anstoßen!“, tönt es hinter Ruprecht und als er sich umwendet, erkennt er Nurembergs Friedrich, einen Spielgefährten seit frühester Kindheit, da drüben Hinter der Bach. Gern lädt er ihn ein, mit an seinem Tisch Platz zu nehmen, zumal auch dieser mit Kaspar vertraut ist.

„Wieso bist du nicht im ‚heiligen Georg‘? Johanna hat Martha gesteckt, du wärest oft dort“, versucht Ruprecht zu ergründen.

„Was denn, ist mein liebes Schwesterlein geschwätzig mit den Nachbarn? Ich sollte ihr die Rute zu kosten geben, dass ‚sie das dreiste Maul hält!“ Friedrich scheint ehrlich erbost zu sein, sich als Gesprächsthema der Gasse zu wissen. Kaspar jedoch legt ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. „Reg dich nicht auf, solange die Leute über dich reden, bist du interessant, lebst du. Wenn du keinen Grund für Tratsch und Klatsch mehr bietest, dann haben dich die Würmer auf dem Kirchhof bereits aufgefressen. Übrigens muss dir das Geld locker in der Tasche sitzen, wenn du dir das Bier im ‚Georg‘ leisten kannst.“

„Alles nur Gerede!“, wehrt Friedrich ab. „Das Bier kostet genau wie hier, aber der Heimweg ist deutlich kürzer. Nur sitzen heute die Leute der Gilde dort zusammen und so bin ich hierher ausgewichen – sehr zum Glück, muss ich sagen, sonst hätte ich euch nicht getroffen.“

„Wieso zum Glück“, wirft Ruprecht ein, „meinst du vielleicht, dass wir deine Zeche übernehmen?“

Beinahe hochmütig blickt Friedrich auf: „Das wird nicht nötig sein, heute habe ich noch genug Kredit beim Wirt. Mein Kerbholz ist glatt und in der Tasche drückt mich ein Guldengroschen.“

„Na, wenn das so ist, dann rück zu uns herüber, musst nicht in aller Einsamkeit den Krug leeren“, schlägt Kaspar vor und bereitwillig wechselt Friedrich den Platz.

Bereits dreimal hallte der Stundenruf des Türmers durch die Gassen, als Ruprecht erstmals überlegt, ob er nicht langsam den Heimweg antreten sollte. Martha wird sicher schon unruhig sein, denn dieses Fernbleiben war nicht vorgesehen. Außerdem wollten sie sich um ein Grundstück bewerben, wo sie ihr eigenes Haus errichten könnten. Seit Wochen zogen sie schon durch die Gassen der Stadt und hielten Ausschau nach einem leerstehenden Häuschen. Selbst ein neues Haus zu errichten, traut sich Ruprecht nicht zu und für eine Auftragserteilung fehlt das Geld.

„He, träume nicht, Schreiberling!“, kommt die mahnende Stimme Kaspars von gegenüber.

Schuldbewusst zieht Ruprecht die Schultern nach oben. „Ich habe gerade überlegt, ob ich nicht lieber langsam heimwärts ziehe. Mein Weib wird schon unruhig sein, denn sie ist es nicht gewohnt, dass ich fernbleibe.“

„Ach was, lass dein Weib ruhig hin und wieder allein, sonst nimmt es dich an die Leine und das letzte bisschen Freiheit ist dahin.“ Friedrich hebt demonstrativ seinen Krug. „So jung sehen wir uns nicht wieder und ganz sicher wird es nicht zur Gewohnheit, dass wir Michaels Gäste sind.“

Zustimmend nickt Kaspar. „Sehr wohl gesprochen, lass uns einen Schluck nehmen. Wer kann schon sagen, ob sich die Möglichkeit zum Umtrunk noch einmal so ergibt.“ Dumpf schlagen drei Holzkrüge aneinander und besiegeln Ruprechts Verbleib in der Runde. Einzig der Wirt scheint mit dieser Entwicklung so gar nicht zufrieden, denn er würde lieber nach langem Tagewerk auf sein Nachtlager kriechen.

Nichtsdestotrotz lassen ihn die Männer hochleben. Mit sehr wichtigtuerischem Blick neigt Kaspar seinen Kopf zu Ruprecht. „Hast du schon gehört, Schreiber, der Schütz muss dem Wettiner ordentlich eine Nase gedreht haben! Mit der Saigerhütte in der Chemnitzaue wird er dem Markgrafen Albrecht die Silbergroschen verweigern und das Recht wird noch auf seiner Seite sein!“

Während Ruprecht gerade noch ein erstauntes „Ooh!“ herausbekommt, lässt Friedrich die Faust auf die Tafel krachen. „Das ist ein starkes Stück und durchaus eines Schütz würdig. Allerdings glaube ich nicht, dass sich der Markgraf das so gefallen lässt. Der wird sich seine Groschen schon zu holen wissen.“

Es könnte eines Schulmeisters nicht würdiger erscheinen, wie Kaspar den Zeigefinger der Rechten gegen die Decke streckt. „Was denkt ihr, der Schütz ist ein listiger Fuchs. Nur geschmolzenes Silber muss dem Landesherrn übergeben werden. Mit der Saigerhütte aber wird es nicht herausgeschmolzen und so kann es der Schütz behalten!“

„Ihr schwätzt, wie ihr es versteht“, wirft endlich Ruprecht ein. „Wenn auch der Schütz bald die Tochter vom Nickel Tyle freien wird, bleibt doch der Tyle oberster Herr der Hüttengesellschaft. Und der hat sich vom Markgrafen das Recht verbriefen lassen, über das gewonnene Kupfer und Silber bestimmen zu können. Albrecht verzichtet auf das Regalrecht. Im Übrigen wird in der Saigerhütte sehr wohl das Erz geschmolzen. Geh doch hin und lass dir zeigen, was dort passiert. Die verschiedenen Teile der Schmelze verhalten sich bei den Temperaturen unterschiedlich und so kann man sie voneinander trennen.“

Unwirsch winkt Kaspar ab. „Diese Klugscheißerei ist nicht zum Aushalten! Es ist Wurst, ob der alte Nickel Tyle oder der junge Ulrich Schütz, ob geschmolzen oder gesaigert! Außerdem: was soll das Regalrecht sein? Für mich ist das eher die Erlaubnis, etwas aus dem Regal herauszunehmen – so wie der Wirt den Krug für mein Bier.“

Genüsslich lehnt sich Friedrich zurück, streckt die Beine und lässt seine Hand auf die Schulter seines erregten Nachbarn fallen. „Nun halte die Luft an! Wenn der Ruprecht Genaueres weiß, dann lass ihn. Wir haben ohnehin nichts davon, ob der Groschen an den Landesherrn geht oder nicht. Ob der Nickel oder der Ulrich die Münzen einstreicht, kann uns gleich sein, wir hören weder die Groschen klingen noch schenkt man uns dafür ein Bier ein. Trinken wir lieber auf unser Wohl!“

Kalt und feucht deckt der Nebel den Schmutz der Gassen zu, als die drei Zecher endlich das Wirtshaus verlassen und vor der Tür Abschied voneinander nehmen. Dem übermäßigen Biergenuss ist es geschuldet, dass ihre Stimmen durch die schmale Häuserschlucht hallen, worauf bald schon schlaftrunkene Bürgerstimmen ärgerlich Ruhe zur Nacht einfordern. Gleich darauf sieht sich Ruprecht allein in der Dunkelheit und sich entfernende Schritte zeigen an, dass sich seine Freunde auf den Heimweg begeben haben.

Schwer atmend lehnt er sich an den Zaunpfosten zu seiner Rechten und sucht sich zurechtzufinden. In biergeschuldeter Welligkeit wirken die schemenhaften Schattenrisse der Stadtbebauung desorientierend auf den Zecher. Suchend tappen die Schritte unter Ausnutzung der gesamten Gassenbreite endlich weiter und bald schon sieht er sich unerwartet in der zurückgewichenen Begrenzung auf dem Marktplatz gegenüber dem Rathaus. „Mein Gott, wie komme ich denn hierher?“, stammelt er trunken. „Wie soll ich zu meinem Marthel finden?“, lallt er mehr oder weniger leise und würgt gleich darauf den sauren Biergeschmack aus der Kehle zurück in den Bauch.

„Wer da!“, tönt plötzlich eine barsche Stimme von rechts. Eine Laterne tut sich auf und stellt den Betrunkenen im grellen Licht bloß. Es ist Nik, der Nachtwächter, der da unvermutet an ihn herantritt. „Mein Gott, Ruprecht, was hast’ in dich hineingeschüttet, dass du so aussiehst? Ist dein junges Weib so schlimm, dass du saufen musst?“

 

„Nnnein, ich habe doch nur …“, stammelt der Betrunkene und gleich darauf ergießt sich ein Schwall Erbrochenes über das Beinkleid Niks. Der springt erschrocken zurück und lässt dabei den Stiel der Hellebarde auf Ruprechts Schädel niedersausen.

„Du besoffenes Stück!“, schreit er erschrocken und steppt zur Seite, als ein erneuter Schwall aus dem Mund Ruprechts dringt, der nun die Augen verdreht und zusammensackt.

Der Hüter städtischer Nachtruhe lässt die Waffe wie die Lampe fallen und sucht den Betrunkenen zu halten, was ihm jedoch nicht gelingt und so wälzt der sich gleich darauf im Straßenschmutz.

In der kleinen Hütte vor der Stadt dreht sich die alte Mechthild auf ihrem Lager hin und her. Wirre Gestalten tanzen durch ihren Traum und lassen sie hilflos stöhnen. Monströs erscheint ihr die vertraute Figur von Rudolf, der ihr zaghaft zuwinkt und doch zugleich die Zunge herausstreckt, dabei die Augen schielend auf die eigene Nasenspitze richtend.

Erschrocken setzt sich die Alte auf und starrt in das Dunkle der Behausung. Urplötzlich ist sie hellwach und lauscht in die Nacht. Kein ungewöhnlicher Ton stört die vorstädtische Stille und doch fühlt sie sich gerufen. Irgendetwas flüstert ihr hartnäckig zu, dass sie sofort dem Ruprecht zu Hilfe eilen muss, dass er jedoch keineswegs in Gefahr ist.

„Ach, Junge“, flüstert sie vor sich hin, „was hast du nun wieder angestellt und das zu nachtschlafener Zeit?“

Bereits des Öfteren sagte ihr die innere Stimme, wenn dem Jungen etwas Schlimmes widerfahren ist. Zumeist wusste sie dann indessen Beistand in seiner Nähe. Heute hingegen ist alles so ungewöhnlich. Es geht ihm schlecht, aber er hat keine Schmerzen.

Die Alte schließt nachdenklich die Augen und dann weiß sie es: der Suff hat ihren Liebling niedergerungen! „Warts ab, Bürschlein!“, schnieft sie durch die lückenhaften Zähne, „Dir werde ich schon das passende Kräutlein verabreichen, dass dir nie wieder in den Sinn kommt zu saufen!“

Zielsicher greift sie im Dunkeln nach einem Säckchen, das von der niedrigen Decke herabhängt und schlingt sich ein wollenes Tuch um die Schultern. Sie schlüpft in die Pantoffeln und verlässt eilig das Häuschen.

Wie allen Vorstädtern sind ihr die Unzulänglichkeiten in der Stadtbefestigung wohlbekannt, so dass sie die Mauern passieren kann, ohne die Stadtwache zu bemühen. Nicht weit vom Johannistor, zum Bretturm zu, kennt sie einen engen Durchlass. Den pflegt sie zu nutzen, wenn sie zu städtischen Kranken gerufen wird, die dem Bader nicht trauen, den Medikus nicht bezahlen können und doch Hilfe brauchen. In solchen Fällen ist der heimliche Besuch von größtem Vorteil.

Eilig hastet sie durch die dunklen Gassen zum Markt, wo sie den Nachtwächter, über einen dunklen Schatten gebeugt, stehen sieht.

„Was ist mit ihm, Nik?“, flüstert sie und hockt sich neben den Wachmann. Jetzt erkennt sie die jämmerlich hilflose Gestalt des Betrunkenen.

„Was soll schon mit ihm sein? Es braucht keine feine Nase, die Ursache seines Zustandes zu erkennen. Stockbesoffen ist der feine Herr und seine eklige Kotze hat mein Beinkleid ruiniert. Ich denke, der Kerker wird ihn zur Besinnung bringen!“, schimpft der Wachmann.

Beschwichtigend winkt die Alte ab. „Was soll das Gekeife, Nik?! Warst du nie betrunken? Mir sind da andere Dinge zu Ohren gekommen. Ich glaube nicht, dass ihn die Nacht im Kerker bessert. Ganz sicher wird damit die Stelle des Schreibers weg sein und das kann nicht deinem Interesse entsprechen!“

Nik bekundet durch ein mürrisches Nicken seine Zustimmung, was Mechthilde nur mit Mühe in der Finsternis des nächtlichen Gassengrundes zu erkennen vermag. Drängend zischt sie: „Also los, tragen wir ihn flugs in seine Gasse, bevor ihn jemand in diesem Zustand sieht!“

Dieses Ansinnen ist dem Nachtwächter freilich zuwider. „Das fehlt gerade noch, Alte! Nicht nur, dass ich jämmerlich nach dem Gekotzten rieche, jetzt soll ich auch noch hineinfassen?! Des Tischlers Karren wird dem Trunkenbold schon das passende Gefährt sein und wenn dieser Transport gesehen wird – unser Problem ist das nicht.“ Spricht es und eilt davon, seine Worte in Taten umzusetzen.

Mechthild indes lauscht in die nachtstille Stadt, ob da nicht doch ein heimlicher Beobachter zu bemerken sei, bereit, den Ruf des jungen Stadtschreibers zu verderben. Nicht allzu viel später erklingen die polternden Fahrgeräusche des Karrens, die in ein Scheppern übergehen, als der Nachtwächter auf Höhe der Sankt Johannisgasse auf das Marktpflaster einbiegt. Eilig hebt Mechthild die Beine ihres Schützlings, während ihn Nik unter den Achseln erfasst. Gemeinsam wuchten sie den Hilflosen auf das Gefährt und die Alte hofft inständig, dass trotz des Lärms niemand auf das Geschehen aufmerksam wird.

Eben haben sie die Einmündung Uff der Bach in die Lange Gasse erreicht, die hier nach links weg Hinter der Bach benannt ist, als im Hause des Stange ein Fensterladen aufgestoßen wird. Gespenstig weiß schimmert das Gesicht des alten Andreas im dunklen Geviert des Fensters und im zahnlosen Zischen klingt die Frage durch die Nacht, was zu dieser Zeit so dringlich zu transportieren sei.

„Mach die Luke wieder zu, Stange, sonst schütte ich dir den Bottich Jauche vor die Tür!“, bellt der Nachtwächter, worauf der helle Schatten verschwindet und ein dumpfer Knall das Schließen des Fensters bekundet.

Eilig drückt Nik den Karren in die Gasse und Mechthild legt sich ordentlich ins Zeug, das Gefährt zum Prescherchen Anwesen zu bringen. Nur weg aus der Gasse!

Als endlich das Haus des Tischlers erreicht ist, hallt laut das ungeduldige Klopfen der schwieligen Fäuste durch die Gasse. „He, Meister Prescher, macht auf! Ich bringe da ein stinkendes Stück Scheiße!“, dröhnt des Nachtwächters Stimme wenig feinfühlig, dass Mechthild sich genötigt fühlt, Einhalt zu gebieten. „Schweig, Schwachkopf! Wenn du solchen Lärm machst, dann hättest du ihn auch gleich auf dem Markt liegen lassen können! Ich frage mich, was du im Schädel hast. Wenn du nicht gerade isst, scheint er einfach nur leer zu sein!“

„Hö, hö, sieht so dein Dank für die Hilfe aus, Weib? Ich frag mich, wieso ich überhaupt geholfen habe!“ Nik scheint ernsthaft beleidigt, wer lässt sich gern – und wenn es auch gut umschrieben ist – dumm nennen und so lenkt die Alte ein: „Sei nicht zimperlich, bist keine Jungfer! Aber wenn du die ganze Stadt weckst, hättest du ihn gar nicht erst hierherbringen müssen. Kannst dir morgen vom jungen Prescher einen Krug Bier spendieren lassen für deine Mühe.“

Endlich kündet ein Rumoren im Haus an, dass sie zur Kenntnis genommen wurden. Eben gibt der Riegel die Tür frei und sie öffnet sich leise knarrend nach innen, als sich der Betrunkene auf dem Karren ächzend erhebt.

„Oh Gott“, stöhnt er röchelnd, „was habe ich angestellt? Wer kann die Maß Bier zählen, die ich in mich hineingeschüttet habe! Nie wieder werde ich auch nur einen Tropfen von dem Gesöff trinken. Wenn mich so mein Marthel sieht, die jagt mich von dannen!“

„Und sie täte recht daran!“, erklingt die Stimme des Tischlermeisters, der kein bisschen schlaftrunken scheint „Jedenfalls war dir in der Gastwirtschaft offensichtlich dein Weib völlig egal, genauso wie auch die Schreibstube des Rates und die Gunst deiner Gönner! Aber glaube nicht, dass du in meiner Werkstatt wieder ein Auskommen findest! Eigentlich sollte ich dich gleich aus dem Haus jagen!“