Garibaldis Fuss

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Garibaldis Fuss
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Als er im Kanton Glarus lebte, erhielt Emil Zopfi ab und zu einen kleinen Geldbetrag von der Zopfi-Stiftung in Schwanden. Ein Dr. Samuel Zopfy (1804–1890) hatte verfügt, dass ab dem hundertsten Jahr nach seinem Tod alle erwachsenen «männlichen und weiblichen Glieder des Zopfi-­Ge­schlech­tes» im Kanton jährlich in den Genuss der Zinsen des Stiftungsvermögens kommen sollten.

Bei Recherchen zu einem anderen Buch stösst Zopfi auf eine interessante Geschichte: Im Oktober 1862 wird Dr. Zopfy mit den berühmtesten Ärzten Europas nach La Spezia ans Krankenlager des italienischen Freiheitshelden Giuseppe Garibaldi gerufen, um über dessen Schussverletzung zu be­raten. Wie kam der Hausarzt, Chirurg, Zahnarzt und Homöopath aus dem Glarnerland, der sich auch als Weinbauer, Fabrikant und Erfinder betätigte, zu diesen Ehren?

Mit Hilfe vieler Quellen und seiner Imagination erzählt Emil Zopfi die ­Geschichte eines armen Bäckerssohns, der es mit Bildung zu Wohlstand und einem Renommee als Arzt und Homöopath brachte, sich im Alter aber zunehmend verkannt fühlte, vor allem in seiner Heimat.


Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Infor­matik und Sprache. 1977 ­erschien im Limmat Verlag sein erster Roman «Jede Minute kostet 33 Franken». Seither hat er zahlreiche Romane, Sachbücher, Hörspiele, ­Kinder- und Jugendbücher verfasst. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizer Jugendbuchpreis, dem Kulturpreis des Kantons Glarus und dem Albert Mountain Award. Foto Marco Volken

www.zopfi.ch

Emil Zopfi

Garibaldis Fuss

Aus dem Leben des Homöopathen Samuel Zopfy 1804–1890

Limmat Verlag

Zürich


Garibaldi fu ferito

fu ferito ad una gamba

Garibaldi che comanda

che comanda il battaglion

Grande Consulto

Am 29. Oktober 1862 versammelten sich die berühmtesten Ärzte Europas in der ligurischen Hafenstadt La Spezia am Lager des Generals und Freiheitshelden Giuseppe Garibaldi. Eine Gewehrkugel war ihm zwei Monate zuvor bei einem Gefecht auf dem Aspromonte in Kalabrien in den rechten Fuss gedrungen. Der «Grande Consulto», wie man die Konferenz der Ärzte nannte, sollte entscheiden, ob eine Amputation notwendig sei oder ob es andere Möglichkeiten der Heilung gebe. Unter den siebzehn medizinischen Kapazitäten, die den menschlich und po­litisch folgenschweren Entscheid zu fällen hatten, war auch ein Schweizer. Der Hausarzt, Chirurg, Zahnarzt und Homöopath Dr. Samuel Zopfy aus dem Dorf Schwanden im Kanton Glarus.

Die Stiftung

Ich erinnere mich, wie mich mein Vater auf dem Friedhof der reformierten Kirche von Schwanden vor ein Grabmal aus schwarzem Marmor führt und erklärt, hier liege der berühmte Doktor Zopfy begraben, der Begründer der Zopfi-Stiftung. Wenn ich erwachsen sei und im Glarnerland wohne, würde ich von seiner Stiftung jedes Jahr Geld ­erhalten. Zopfy hatte verfügt, dass ab dem hun­dertsten Jahr nach seinem Tod alle im Kanton lebenden erwach­senen «männlichen und weiblichen Glieder des Zopfi-Geschlechtes» alljährlich in den Genuss der Ausschüttung aus dem durch Zinsen gemehrten Stiftungsvermögen kommen würden. «Zur künftigen ökonomischen Besserstellung des Zopfi-Geschlechtes, das mit irdischen Glücksgütern spärlich ausgestattet», heisst es in der Stif­tungs­ur­kun­de.

Während der Jahre, in denen ich mit meiner Fami­lie im Kanton Glarus wohnte, wurde mir einige Male ein Be­trag von etwa vierzig Franken überwiesen. Einmal nahm ich an einer Jahresversammlung der Stiftung teil und schrieb darüber einen Bericht in einer Zeitung. Zwei Dut­zend Zopfis hatten sich in der Gaststube der «Sonne» eingefunden, Frauen waren nicht dabei. Das Gasthaus befindet sich neben dem Rothaus, das einst dem Doktor Zopfy gehört und in dem er ab den 1830er-Jahren seine erste medizinische Praxis geführt hatte. Protokoll und Jahresrechnung wurden ­abge­nommen, der Verstorbenen ge­dacht, über Geld­an­lagen diskutiert, der Vorstand bestätigt. Ver­eins­ge­schäfte. Anschliessend lud die Stiftung zu einem Imbiss mit Sauerkraut und Speck ein. Man trank Wein und Bier, unterhielt sich, rauchte. Bei Kaffee und Schokoladentorte erzählte mir ein älterer Zopfi, dass vor Jahren ein Onkel meines Vaters, Polizist in Schwanden, den Antrag gestellt hatte, auf den tra­­ditionellen Imbiss zu verzichten. Heisst es doch in der Stiftungsurkunde: «Das Kapital darf niemals, unter keinerlei Titel noch ­Vorwand, verteilt oder geschmälert werden.» Die männlichen «Glieder des Zopfi-Geschlechtes» lehnten den Antrag ab, speisten weiter an den Versamm­lungen, denen der «Landjäger Zopfi» von da an aus Protest fernblieb.

Doch wer war dieser kuriose Doktor, der laut Nach­ru­fen auch mit Grundstücken handelte, seinen eigenen Wein kelterte, eine Seidenspinnerei und -weberei betrieb, die eines Nachts abbrannte, der eigentlich Ingenieur ha­be werden wollen, nebenbei Erfindungen machte und an einer Flugmaschine bastelte? Über seine sechzigjährigen Erfahrungen als Mediziner und Homöopath gab er im hohen Alter ein 670 Seiten umfassendes Werk im Selbstverlag heraus, Zopfys «Heilkunde».

An der Wand in der Gaststube der «Sonne» hing ein gemaltes Porträt des Stifters in einem Goldrahmen. Es zeigt einen nachdenklich dreinblickenden alten Mann mit Stirnfalten, grossen Ohren und einer vorspringenden Nase, wie sie nicht selten ist bei uns Zopfi-Männern. Die leicht nach vorn geneigte Haltung wirkt etwas resigniert und müde, melancholisch beinahe. Lachfältchen, die von den blauen Augen ausstrahlen, lassen jedoch vermuten, dass der Herr Doktor auch eine heitere Seite besass, vielleicht sogar Humor. Das kahle Haupt umgibt ein Kranz schütterer Haare. Der weisse Bart unter den schmalen Lippen, der in einer dunklen Jacke verschwindet, ist dem Maler schlecht gelungen, er sieht aus wie angeklebt. Zopfy wirkt auf diesem Gemälde wie ein strenger, aber im Grunde gütiger Sankt Nikolaus.

Durch einen Zufall beim Recherchieren einer ganz anderen Geschichte bin ich darauf gestossen, dass Zopfy zu den Teilnehmern des «Grande Consulto» am Krankenlager des verwundeten Generals Garibaldi gehört hatte. Ich sammelte weitere Informationen, und allmählich begann ich mir ein Bild dieses eigenartigen und eigenwilligen Angehörigen unseres Geschlechtes zu machen, der seinen Namen mit einem vornehmen Y schmückte. Die wenigen und zum Teil widersprüchlichen Fakten, die von ihm überliefert sind, bilden eine Art homöopathischer Grundsubstanz meiner Erzählung.

Der General

Ich stelle mir vor: ein Tag in Schwanden im Herbst 1890, Zopfys letztem Jahr. Zum Beispiel Samstag, der 27. September, es ist Kirchweih, die traditionelle «Schwander Chilbi».

Sein Mund ist trocken, als er erwacht. Die Zunge fühlt sich rau und dick an. Mit der rechten Hand tastet er über die Decke, aber da ist nichts. Das Bett neben ihm ist leer. Er wischt sich Tränen aus den Augen, starrt in die Dunkelheit. Seine Lippen bewegen sich. «Anna Maria.» Fahl schimmert das Viereck des Fensters an der Südseite der Kammer. Anna Maria ist tot, dämmert ihm allmählich. Tot, im Himmel oder wo immer. All seine Arznei und Erfahrung hatte ihr nicht helfen können. Wozu denn alles, das Studium, die Praxis, die lebenslange Erfahrung, wenn man seinen Nächsten, seinen Liebsten in ihrem Leiden nicht beistehen kann? Ihren Schmerz nicht einmal lindern, ihre Not nicht besänftigen. Wozu, wozu?

Mit dem Handrücken fährt er sich über die Wangen, die feuchten Stoppeln. Er dreht sich zur Seite, schiebt die Decke weg, tritt mit blossen Füssen auf den kalten Boden. Tastet mit den Zehen nach den Pantoffeln, findet nur den einen. Einer ist besser als keiner. Mit ausgebreiteten Armen wankt er durch die Kammer zur Tür. Sich an den Möbeln abstützend, ertastet er wie ein Blinder den Weg zur Küche. Im Herd glimmt Asche, es riecht nach Bratfett und Kohl. Er streicht ein Zündholz an, die Flamme zittert, verlöscht. Noch eines, dann brennt der Docht des Kerzenleuchters auf dem Tisch. Mit einer Kelle schöpft er Wasser aus dem Kessel neben dem Herd, trinkt und schöpft nach. Das trockene Gefühl im Mund bleibt, die Zunge geschwollen. Über die Laube schlurft er zum Abtritt, hebt den Deckel. Der Geruch, der ihm entgegenschlägt, raubt ihm den Atem. Faule Eier, Ammoniak. Man müsste das Jauchegas in Behältern fassen und verwerten, geht ihm durch den Kopf. Durch eine Öffnung in der Wand des Aborts sieht er über dem Dorf die schwarzen Konturen der Berge, ihre Spitzen und Grate zeichnen sich wie ein Scherenschnitt in den fahlen Himmel. In den Fabriken auf der andern Seite des Flüssleins Sernf brennt schon Licht in einer Reihe von Fenstern. Elektrisches Licht!

Eine neue Zeit ist angebrochen, das Zeitalter der Elektrizität, der sogenannte Fortschritt. Was wird er brin­gen? Die Häuser geheizt und hell erleuchtet mit elektrischem Strom, der das Kochen zum Kinderspiel machen soll. Eine Welt, die sich heute niemand vorstellen kann, so wie man sich in seiner Kindheit weder Glühbirnen noch von Wasserrädern getriebene Spinnmaschinen und Webstühle vorstellen konnte. Geschweige denn die Ei­sen­bahn, die das Tal an die Welt bindet. Selbst von Lokomotiven liest man, die mit elektrischem Strom statt mit Dampf getrieben werden. Schneller und heller alles, die Nacht wird zum Tag, die Welt zum Dorf.

Mit dem Kerzenleuchter in der Hand wankt er mit kleinen Schritten in die Stube. Er stellt den Leuchter auf das Bufett unter das Bild des Generals. Im flackernden Kerzenlicht scheint er lebendig zu werden. Die Brust wölbt sich unter dem roten Hemd, eine Hand stützt er in die Seite, die andere hält den Degen. Rötlich der Bart, schüttere Haare über der hohen Stirn. Die stahlblauen Augen scheinen den Betrachter zu hypnotisieren. So hat er ihn damals angeschaut, durchbohrt mit seinem Blick. Und dann dieser feine, ironische Anflug eines Lächelns. Er nickt ihm zu, die Lippen bewegen sich.

 

«Zopfy, Sie waren der Beste!»

Der alte Mann strafft sich, murmelt: «Danke, mein General.»

Er bläst die Kerze aus. Tastet sich mit der Hand das Bufett entlang zur Kammertür, streift den einen Pantoffel ab, kriecht unter die Decken und rollt sich ein.

Ein Traum

Der Duft von frischem Brot dringt in seine Träume. Immer die gleichen wiederkehrenden Bilder. Fliegen kann er, weit über die Berge hinweg, über das graue Gestein, die Felswände, die weissen Firne. Fliegen wie Ikarus, von dem Lehrer Tschudi in der Schule erzählt hat. Der Sonne entgegen.

Er hebt den Kopf. Licht dringt durch den Vorhang in die Kammer, es ist wohl spät. Er fühlt sich müde, lässt den Kopf sinken und dreht sich gegen die Wand. Das Bett ist zerwühlt, er hat geschwitzt. Wieder diese Trockenheit im Mund, als habe er Staub geschluckt. Fieber? Kein Fieber. Er schliesst die Augen, hört im Halbschlaf das Bimmeln von Glöcklein. Hell und aufgeregt, die Ziegen, die der Geissbub ins Niederental treibt.

Wie gern wäre er als Kind mitgegangen, früh am Morgen, wenn die Bergspitzen im ersten Licht leuchteten, als seien sie aus lauterem Gold. Die Ziegen aus den Ställen hinter den Häusern der Arbeiter drängten zur Herde, der Geissbub lockte sie mit seinen Rufen. Eine seltsame Sehnsucht erfasste ihn. Welch freies Leben müsste es sein dort oben auf den Weiden der Mettmenalp. Man müsste den Geissvogt fragen, aber der Vater wollte davon nichts wissen. Geissbub, das war etwas für Dummköpfe. Wir sind bessere Leute als die Fabrikarbeiter mit ihren Ziegen und Scharen von schwindsüchtigen Kindern. Dabei war der Bäcker Heinrich Zopfi kein Glückspilz, stand unter Vormundschaft. Ein Fallit, konnte nichts bestimmen ohne seinen Beistand. Die Mutter, eine starke Frau aus dem Kleintal, arbeitete sich krumm.

Zwischen Traum und Tag ist er wieder der kleine Sämeli, der auf dem Strohsack unter der Decke lag, die von Schaben zerfressen war, nach Schweiss roch und am Hals kratzte. Er hörte den Vater unten in der Backstube den Teig schlagen. Die Mutter rückte die Stühle in der Gaststube zurecht. Bis spät in der Nacht hatten Männer im «Rössli» Karten gespielt, geraucht, getrunken, gestritten. Sämeli hatte seltsame Wörter vernommen. «Revoluti­on», «Napoleon», «Metternich». Vom Kaiser von Russland war die Rede und von Franzmännern, die raubten und töteten und den Frauen nachstellten. Tausend Waisenkinder hat man aus dem Tal in andere Kantone verschickt, zu reichen Familien in den Städten im Unterland oder zu Bauern in den Ebenen. Pflegekinder, Verdingkinder, ausgebeutet, geschunden, verschwunden. Sämeli fürchtete sich, so allein in der Nacht. Die Schwestern lagen im Bett der Eltern in der Kammer nebenan, flüsterten und kicherten, ihre Strohsäcke knisterten. Gegen Morgen stieg der Duft des Brotes bis in seine Kammer unterm Dach her­auf. Ein Geruch, der ihn zeitlebens immer wieder Kind werden lässt. Der kleine Sämeli mit seiner grossen Sehnsucht.

Nun ist er wach, stemmt sich unter Schmerzen hoch. Die Gelenke sind eingerostet, Gicht plagt ihn. Eine Maschine ohne Öl. Er sucht auf dem Nachttisch nach der Taschenuhr, findet sie nicht. Mit nackten Füssen schlüpft er in den einen Pantoffel, findet den zweiten unter dem Fenster, streift sich den Morgenmantel über. Der Krug auf der Kommode ist mit Wasser gefüllt. Er fährt sich mit einem nassen Lappen übers Gesicht, kämmt den Bart und die spärlichen Kopfhaare. Dann setzt er sich an den Tisch in der Stube. Das Frühstück ist aufgedeckt, Silberbesteck, die Serviette im Ring. Frisches Brot, Butter, Konfitüre, Kaffee, ein Ei im Becher. In einem Tellerchen fein geriebenen Schabzieger. Barbara, der gute Geist, macht sich in der Küche zu schaffen. Seit seine geliebte Anna Maria im März des vergangenen Jahres verstorben ist, dient ihm die Tochter des Geissvogts Zopfi im Haushalt. Ein fleissiges, stilles Kind. Ihr linkes Bein ist von Geburt an verkürzt, darum taugt sie nicht für die Fabrik.

Zopfy streicht sich ein Butterbrot, tunkt es in den Schabzieger. Der würzige Geschmack regt den Appetit und die Verdauung an. Er kaut bedächtig, das fördert die Gesundheit. Nach München, wo als er als Student ein Zimmer mit Frühstück bezog, hatte er ein Stück Schabzieger aus der Heimat mitgebracht, in Fettpapier gewickelt. Die Hausmutter schaute ihm am ersten Morgen zu, wie er sein «Ziegerbrütli» mit Genuss verspeiste. Sie schnupperte, rümpfte ihre Nase. Eine Spezialität aus der Heimat, erklärte er, wollte sie überreden, einen Bissen zu versuchen. Doch sie liess sich nicht herbei. «Mein Herr! Ein solcher Stinkkäs kommt mir nicht mehr auf den Tisch!»

Heute fehlt ihm der Appetit. Der Zieger brennt auf der Zunge. Er klingelt Barbara, schaut zu, wie die Jungfer mit anmutigen Bewegungen das fast unberührte Frühstück wieder abträgt. Stumm und mit gesenktem Blick. Um die Haare hat sie ein Tuch gebunden, kleine Brüste zeichnen sich ab unter ihrem Kleid.

«Du isst dann auch genug, gell», sagt Zopfy, «bist ja so mager.»

«Danke, Herr Doktor», flüstert sie und verschwindet in der Küche.

Der Zahnarzt

Zopfy setzt sich auf die Chaiselongue, nimmt ein Buch zur Hand, das ihm der Buchhändler Füssli aus Zürich ­geschickt hat. «Memorie autobiografiche» von Giuseppe Ga­ribaldi. Die Erinnerungen des Generals, vor zwei Jahren in Florenz erschienen. Er legt das Buch zur Seite, als die Hausglocke klingelt, dreht sich zum Fenster und hebt mit einem Finger den Vorhang. Auf der Treppe unter dem Vordach steht eine junge Frau, die geflickte Arbeitsschürze wölbt sich über ihrem Bauch. Ein Bub klammert sich an ihren Rock.

Zopfy steht auf, hält sich an der Tischkante fest, bis sich der leichte Schwindel nach der raschen Bewegung legt. Nochmals klingelt es, ungeduldig.

«Was wollt ihr? Die Praxis ist geschlossen.»

Für immer, wollte er zu der Schwangeren sagen, aber dann sieht er die Enttäuschung in ihren grossen, braunen Augen.

«Herr Doktor, bitte …»

Sie schaut auf seine Füsse in den schäbigen Pan­toffeln. Ihre Hand, mit der sie die Arbeitsschürze über ihrem Bauch zusammenhält, ist rot verfärbt. Eine Arbeiterin aus der Stoffdruckerei.

Zopfy schaut über sie hinweg ins Tal. Der Himmel ist verhangen, die Luft dumpf und schwer. Dimmerföhn nennt man dieses Wetter. Von der Stoffdruckerei auf der Halbinsel «i der Müli», wo Sernf und Linth zusammenfliessen, treibt eine Dampffahne den bewaldeten Abhang entlang gegen das Niederental. Der Hochkamin raucht. An den Hängetürmen blähen sich blaue und rote Stoffbahnen im Wind. Die Berge, versunken im Grau, die Laubwälder in düsterem Braun. Ein Fetzen Musik weht herauf. Es ist Kilbi im Dorf, drei Tage lang wird getrunken, getanzt, karessiert und gesündigt.

«Bitte, Herr Doktor …» Die junge Frau packt den Buben am Schopf, schiebt ihn nach vorn. «Er hat Zahnweh.»

Ein schmales Gesicht, zerzauster Haarschopf, die Na­se verrotzt. Zopfy tippt mit dem Finger auf die geschwollene Backe. Der Bub zuckt zusammen, stösst einem gequälten Laut aus.

«Geh zum Doktor Hösli. Ich mache das nicht mehr.»

«Bitte, Herr Doktor …»

Zopfy wischt sich mit dem Ärmel des Morgenmantels einen Tropfen von der Nase. «Ists deiner?»

Sie nickt, starrt unverwandt auf seine Pantoffeln. Er seufzt, fasst den Buben an der Schulter. «Wie heisst du?»

Der weicht zurück, drückt sich an seine Mutter. Sie schiebt ihn weg. «Bälzli heisst er.»

Sie wird bald gebären. Morgen ist Vollmond, dann werden die Wehen einsetzen. Von den Ureinwohnern in Amerika hat er das gelernt, und seine Erfahrung hat es bestätigt.

«Dein Name?»

«Agatha Zopfi.»

«Aha? Von welchen Zopfi?»

«Aus dem Zügersten.»

«Bist verheiratet?»

Agatha läuft rot an, schaut auf. «Ja, ja. Jetzt schon.»

«So, jetzt schon.»

Also auch so ein armer Balg, der Bälzli, wie sein Neffe. Für solche Kinder hat er das Wort ergriffen an der Landsgemeinde im Mai, hat sich starkgemacht «für die Gleichstellung der ausserehelichen Kinder im Erbrecht». Dafür hat er in der Zeitung Häme geerntet. Nicht mal seinen Namen schreiben die Zeitungsfinken, wie es sich gehört. Sie ignorieren das Y, um ihn zu kränken. Im Tal hat man getuschelt und getratscht. Der Doktor Zopfy hat doch keine Kinder. Oder etwa doch? Irgendwo, heimlich vielleicht? Und jetzt, wo seine Frau verstorben ist, will er sein Vermögen einem Bastard vermachen. Schon an der Landsgemeinde im Jahr dreiundsiebzig hat er sich in Erbsachen ereifert, erinnert ihr euch?

«Also, dann kommt.»

Er geht voran ums Haus, am Garten vorbei. Im Gras unter dem Baum liegt ein Apfel. «Lies ihn auf», sagt er zum Buben. «Ist besser für die Zähne als das Schleckzeug von der Kilbi.»

Der Bub rümpft seine Rotznase, bückt sich widerwillig nach der Frucht. Agatha steckt sie in die Tasche ihrer Schürze. «Danke, Herr Doktor.»

Zopfy öffnet im Behandlungszimmer ein Fenster, stösst einen Laden auf. Licht fällt herein, frische Luft. Der Tisch ist überstellt mit Schalen, Gläsern, einem Mörser und dem Mikroskop. In einer Vitrine reihen sich Flaschen und Fläschchen mit Etiketten, das Büchergestell daneben ist vollgestopft mit ledergebundenen Werken, Papierbündeln und Manuskripten, auf denen Staub lagert. Beim Fenster zappelt eine Fliege in einem Spinnennetz. Man müsste aufräumen, vieles fortwerfen. Er mag nicht, ist müde, alt. Die gute Anna Maria, die hier Ordnung geschaffen hat, verstorben. Nach über fünfzig Jahren Ehe.

Zopfy schiebt eine Bohrmaschine mit Tretrad zur Seite, bedeutet dem Jungen, auf dem Stuhl daneben Platz zu nehmen. Er fährt ihm übers Haar. Bälzli zieht den Kopf ein, wischt sich mit dem Handrücken den Rotz von der Nase.

«Halt ihn fest!»

Agatha legt ihre Hände auf die Schultern des Buben. Der windet sich, drückt die Augen zu. Glaubt wohl, dass er so unsichtbar werde, unantastbar. Seine schwarz geränderten Fingernägel krallen sich in die Lederpolster der Stuhllehnen. Zopfy bückt sich zu ihm hinab. «Schau mich an! Und mach deinen Mund auf.»

Bälzli presst seine Lippen zusammen, dreht den Kopf zur Seite. Agatha redet leise auf ihn ein, streichelt seinen Nacken, während Zopfy aus einer Schublade Werkzeuge hervorkramt und auf einem Tuch bereitlegt, Zangen, Häklein und einen kleinen Spiegel mit Stiel.

«Mund auf jetzt!»

Der Bub bäumt sich auf, will sich dem Griff der Mutter entwinden. Zopfy packt zu, presst ihm mit zwei Fingern die Nase zusammen, sodass er nach Luft schnappt. Rasch stösst er ihm ein keilförmiges Holzstück zwischen die Zähne. Nun kann er beissen und zappeln, soviel er will. Zopfy dreht den Keil, zwängt den Mund des Buben auf. Mit einem Stab tippt er Zahn um Zahn an. Bei einem Stockzahn schreit der Bub auf.

«Aha!» Mit dem kleinen Spiegel betrachtet Zopfy den bösen Zahn von allen Seiten. Das Zahnfleisch ist entzündet und vereitert. Er fasst den Zahn vorsichtig mit einer Zange, bewegt ihn hin und her, während der Bub gurgelnde Schmerzenslaute von sich gibt. Mit einem scharfen Ruck zieht er den Zahn aus. Der Bub reisst sich los, rennt zur Tür und ins Freie. Eine Spur von Blutstropfen zieht sich über den Boden.

Zopfy hält den Zahn mit der Zange in die Höhe wie eine Trophäe. Seine Augen sind noch gut, im Juli hat er am Eidgenössischen Schützenfest in Frauenfeld teilgenommen und geschossen, auch wenn er nicht mehr ins Schwarze getroffen hat wie einst.

«Faul bis zur Wurzel. Ein Milchzahn, wird wieder nachwachsen. Gibst du den Kindern Schleckzeug?»

Agatha zuckt mit den Schultern. «Das können wir uns doch gar nicht leisten.»

«Was arbeitet dein Mann?»

«Spinner. Beim Paravicini in der Herren.»

«Und du schaffst beim Blumer in der Müli, gell.»

«In der Farbküche.» Sie hebt den Kopf. «Aber jetzt gibts gerade keine Arbeit.»

Zopfy weiss es. Die goldenen Jahre der Stoffdruck­industrie sind vorbei. Die Türken, einst die wichtigsten Kunden, kaufen die bunten Stoffe für ihre Turbane und Schleier anderswo. Holländer und Franzosen drucken mit Maschinen viermal so schnell wie die Glarner mit ihren Holzmodeln. Deutschland und Frankreich haben Schutzzölle eingeführt. Die Einrichtungen der hiesigen Stoffdruckereien sind veraltetet, ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu teuer. Die einst so stolze Industrie im Tal liegt danieder. Die Glarner Herren haben die Entwicklung verschlafen, schöne Villen gebaut, opulent gespeist, haben sich und ihre feinen Damen herausgeputzt und vierspännig durchs Tal kutschieren lassen.

 

Agatha greift in die Schürzentasche, legt ein paar Münzen den Tisch. Traurige Augen hat sie. Das Gesicht verhärmt, mattes, strähniges Haar, zum wiederholten Mal schwanger. Jung ist sie und sieht schon aus wie eine alte Frau.

«Schon gut.» Zopfy schiebt die Münzen zurück.

«Danke, danke, Herr Doktor», sagt sie, greift hastig nach dem Geld, dreht sich um und eilt ihrem Buben nach.

Zopfy wirft den Zahn in einen Kübel. Mein Letzter, denkt er. Wie lange habe ich das gemacht? Sechzig Jahre beinahe. Er tritt ans Fenster, atmet die frische Luft ein. Versinkt in Gedanken. Die Kirchglocke im Dorf schlägt die Stunde.