Spurlos

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Spurlos
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Foto Marco Volken

Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Kinder-und Jugendbüchern sowie Bergmonografien. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem King Albert Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis. Im Limmat Verlag sind seit 1977 zahlreiche Bücher erschienen, u.a. die Andrea-Stamm-Trilogie «Steinschlag», «Spurlos» und «Finale».

«Emil Zopfi ist DER deutschsprachige Bergschriftsteller der Gegenwart. Er erreicht mit seinen Werken nicht nur Bergsteiger, sondern auch das breite Publikum.» King Albert Mountain Award

Emil Zopfi

Spurlos

Roman


I CLIMB EVERY MOUNTAIN

I CROSS EVERY SEA

TO LAY IN YOUR ARMS FOR ETERNITY

BONNIE TYLER

1

Sie trug seine Asche auf den Berg. Es war Frühling, noch lag Schnee in den Mulden der Alp. Der Himmel blass. Stille.

Sie hörte nur ihren Atem und ihre Schritte in den nassen Stauden der Alpenrosen und später, während sie über die Geröllhalden anstieg, das Knirschen des Schotters unter den Sohlen. Musik, tausendmal gehört, der Klang des Bergs.

Ihr Vater war gestorben, als sie in Patagonien am Cerro Torre kletterte. Per Funk war die Meldung ins Camp gekommen, sie war sogleich abgereist. Obwohl es zu spät war für alles. Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt wie jeden Tag, war auf dem Sofa eingeschlafen. Sanft hinübergeschlummert, ohne Abschied und mit einem Lächeln im Gesicht, wie es seine Art war. Am gleichen Tag hatten sie am Cerro Torre ihren höchsten Punkt erreicht, zweihundert Meter unter dem Gipfel, dann war ein Sturm aufgezogen.

Auf dem Weg zur Hohen Platte, der unter den Wänden von Sila und Plattenburg nach Westen führt, fasste Andrea spontan den Entschluss, direkt durch die Westwand zu klettern. Es war noch kalt, aber das machte ihr nichts aus, in Patagonien hatte sie im Sturm härteste Seillängen geführt. Sie stieg an, über steilen Hartschnee einem Rinnsal folgend. Eine alte Route, die niemand mehr ging, brüchiger Fels, Schluchten, Bänder, Risse. Sie stieg schnell, Geröll löste sich unter ihren Schuhen, kollerte in die Tiefe. Das war Musik, Hard Rock. Die Route hatte sie längst verloren, sie kletterte in der Falllinie höher und höher, einer Reihe von Kaminen folgend, manchmal fast im Innern des Bergs, der sie umfing wie ein Mutterschoss.

Dann die Sonne, ein kurzer Blockgrat, eine Senke und dahinter der Gipfel mit dem schiefen Holzkreuz. Eine rostige Konservenbüchse steckte zwischen den Felsbrocken des Steinmanns, darin ein Notizbuch. Nur wenige Leute besuchten diesen Gipfel. Einsam und schwer zugänglich, passte er zu ihrem Vater. Sie ass einen Getreideriegel, trank Wasser, die Urne hatte sie neben sich auf die Steine gelegt. Ein Zylinder aus gebranntem Ton, sehr leicht. Das war von dem schweren Mann übrig geblieben. Sie hatte sich vorgenommen, die Urne vom Gipfel in den Abgrund zu schleudern, sie würde zerschellen, seine Asche in Klüften zerstäuben, die nie ein Mensch betrat. Sie hob die Urne auf, legte sie wieder hin. Sie brachte es nicht übers Herz, das Gefäss in die Tiefe zu schmettern. Irgendwie müsste ich Abschied nehmen vom alten Herrn, dachte sie, aber sie wusste nicht wie. Augen schliessen, sich nochmals an ihn erinnern, an das Schöne und Gute, und alles andere vergessen? Sie legte den Kopf auf die Knie und weinte leise.

Dann stieg sie über den Blockgrat gegen Süden ab, fand einen Spalt unter einem Felsabsatz, schob die Urne hinein und verschloss die Öffnung mit grossen Steinen.

«Auf Wiedersehen Robert», sagte sie, dann kletterte sie über Felsstufen hinab zu einem Ringhaken, zog das Seil ein und glitt hinab ins Joch. Es war Nachmittag, sie war keinem Menschen begegnet.

2

Ein Stein fiel, hoch über ihm in der Wand. Magnus erschrak, duckte sich hinter einem Block. Seine Knie zitterten. Vorsichtig hob er den Kopf, zog den Feldstecher aus dem Futteral, stützte die Ellbogen auf und suchte den Berg ab. Eine Gestalt glitt wie eine Spinne am seidenen Faden durch die Felswand in die Tiefe. Metall klirrte, als sie sich anklinkte, am Seil zog. Es löste sich, kringelte über Absätze und Stufen, Steine rieselten herab. Dann hüpfte die Spinne wieder weg vom Fels, schwebte in die Tiefe, landete in einer Scharte des Grates, der von der Wand gegen das Joch zog. Eine Frau in gelber Windjacke. Leicht setzte sie über die Zacken und Türme des Grates hinweg. Ein Tanz über dem Abgrund. Magnus stockte der Atem. Sonnenlicht fiel unvermittelt durch ein Wolkenloch, die gelbe Jacke leuchtete auf. Dann verschwand sie hinter einer Kante. Magnus suchte mit dem Feldstecher den Grat ab, glaubte, sie sei gestürzt. Da schwang sie sich über die Kante, direkt über ihm. Er hörte ihren Atem, das Klirren der Karabinerhaken an ihrem Gürtel.

Er zog den Kopf ein, schob den Feldstecher ins Futteral. Gelegentlich hatte er Bergsteiger beobachtet, wenn er durch die Gegend streifte. Keiner bewegte sich so leicht und so sicher wie die kleine Frau. Wie eine Artistin im Zirkus, den er mit seiner Mutter besucht hat, unten in Pratt. Mit einem Sprung setzte sie über eine Scharte, balancierte mit ausgebreiteten Armen auf der Gratschneide, hüpfte über Zacken hinweg, als spiele sie Himmel und Hölle.

Dann stand sie im Joch, wenige Schritte von seinem Felsblock entfernt. Magnus hielt den Atem an. Hörte, wie sie ihren Rucksack ablegte, einen Schluck aus einer Flasche nahm, ihr Kletterzeug einpackte, das Seil rollte. Er drückte sich an den feuchten Fels, der nach Meer roch, Fisch und Salz und Seetang. Er hatte gelesen, dass die Berge vor Millionen Jahren aus einem Meer wuchsen. Er hatte Steine gefunden, auf denen sich die Schalen von Muscheln abzeichneten. Den schönsten, geformt wie eine Schnecke, trug er im Hosensack.

Mit der Zunge leckte Magnus den feuchten Fels, schmeckte das Salz des Meeres, das er noch nie gesehen hatte. Nur in seinem Kopf, in seinen Träumen existierte es.

Die Frau hatte ihn nicht entdeckt. Er atmete tief, verliess sein Versteck. Vom Joch aus sah er sie weit unten, wo der Weg über die Felsstufe mit dem Drahtseil führte. Wie eine Gämse eilte sie zu Tal. Mit dem Feldstecher schaute er ihr nach, bis sie den Weg verliess, über ein Schneefeld abrutschte und verschwand.

3

Im Dorf parkte Andrea vor der «Alpenrose». Wolken waren aufgezogen, frühe Dämmerung lag über den Blockhäusern und der Kapelle mit dem frei stehenden Glockenturm. Aus Gewohnheit hatte sie angehalten, wie immer nach einer Bergtour. Doch heute gab es keinen Kaffee, das Restaurant war geschlossen. Anita, die Wirtin, lag im Spital.

Andrea blieb im Jeep sitzen, kein Mensch liess sich blicken, das Dorf schien ausgestorben. Dann bemerkte sie das Schild an der Tür. Sie stieg aus. Zu verkaufen stand darauf, dazu eine Telefonnummer. Anita würde also nicht mehr zurückkehren. Andrea hatte sie besucht, bevor sie nach Patagonien verreist war. Sie war zuversichtlich gewesen, hatte von einer Therapie auf natürlicher Basis gesprochen, einer Kur mit Mistelpräparaten.

Andrea lehnte sich an den Zaun am Rand des Parkplatzes, betrachtete das grosse Haus. Es musste sehr alt sein. In den Kellergewölben hatte Anita eine Kunstgalerie eingerichtet. Die Grundmauern aus Bruchstein waren meterdick, darauf stand Fachwerk, mit Schindeln verkleidet, die sich im Laufe der Jahrzehnte silbergrau verfärbt hatten. Der Dachstuhl war eingesunken.

«Interessiert Sie das Objekt?» Ein Mann trat hinter ihrem Jeep hervor, sie hatte ihn nicht bemerkt. Er war nicht viel grösser als sie, blond, mit nach hinten geklebten Haaren, trug einen Pullover aus Naturwolle unter der schwarzen Lederjacke, schwarze Jeans. «Peter Frey. Ich bin der Gemeindeverwalter.» Sein Händedruck war ohne Kraft.

«Andrea Stamm.»

«Ich habe von Ihnen gehört. Die Bergführerin, oft unterwegs in der Gegend.»

«Warum wird die ‹Alpenrose› verkauft?»

«Eine traurige Geschichte. Die Gemeinde musste das Haus übernehmen.»

Frey nahm seine Brille von der Nase, rieb die Gläser mit zwei Fingern am Pullover. «Das Haus wäre doch eine Basis für Ihre Kletterschule.» Er setzte die Brille wieder auf, trat so nahe neben Andrea, dass sie einen Schritt zurückwich.

«Leider bin ich ziemlich knapp bei Kasse.»

«Überlegen Sie es sich. Es ist ein Schnäppchen, unter uns gesagt. Ich kann Ihnen Kontakt zur Regionalbank vermitteln. Für Investitionen im Berggebiet gibt es Hypotheken zum Vorzugszins.»

Andrea griff nach der Türklinke des Jeeps, sah dann nochmals zur «Alpenrose». Düster und leblos die Fassade, die Fenster blind, vom Rauch vergilbte Vorhänge. Ein Fensterflügel hatte sich gelöst, schwang mit einem leichten Windstoss gegen den Rahmen. Sie dachte an Anita, die Wirtin und Künstlerin, die im Spital um ihr Leben rang. Die «Alpenrose» war ihr Traum gewesen. Und da kam einer und sprach von Schnäppchen und von Vorzugszins.

«Denken Sie in Ruhe über meinen Vorschlag nach.» Der Gemeindeverwalter zog eine Karte aus der Brieftasche. Dr. Peter Frey. Unternehmensberater. Eine Adresse im Dorf, eine zweite in der Stadt. E-Mail, Website, Mobilnummer.

Andrea steckte die Karte ein, übersah die ausgestreckte Hand, stieg in den Jeep. Er nickte ihr zu, lächelte breit und zeigte dabei sein Gebiss. Dann schritt er zum Glockenturm hinüber, neben dem ein silbergrauer BMW stand. Im Rückspiegel sah sie, wie er bei der Feriensiedlung am Dorfeingang den Blinker setzte und bergwärts abbog zu einer der Villen, die auf Betonpfeilern an den Hang gebaut waren. Schwer vorzustellen, warum sich ein Unternehmensberater in diesem abgelegenen Tal niederliess und die arme Gemeinde verwaltete.

 

Während Andrea durch die Dämmerung ins Tal fuhr, den Knopf ihres iPod im Ohr, begleitete sie Bonnie Tylers raue Stimme. It’s a heartache, nothing but a heartache. Hits you when it’s too late. Hits you when you are down.

Sie dachte an Vaters Reihenhaus in der Stadt. Ob es ein Testament gab? Vielleicht hatte er Erspartes oder eine Lebensversicherung hinterlassen. Ning, seine Partnerin im Alter, würde einen Teil erben. Den andern sie, die einzige Tochter, zumindest den gesetzlichen Pflichtteil. Sie hatte sich um all diese Fragen noch nicht gekümmert, seit sie zurückgekehrt war.

4

Der Vater stand am Fenster der Werkstatt. Fahles Licht auf dem Gesicht voller Falten und Bartstoppeln. Er schaute hinüber zur «Alpenrose». Seine Hände fuhren in den Hosentaschen unruhig auf und ab, wie Maulwürfe, die sich in die Erde bohren.

«Magnus?» Seine Stimme war belegt. Er sah sich nicht um.

Magnus murmelte einen Gruss. Hängte Rucksack, Faserpelz und Hut an einen Haken beim Kanonenofen. Das Feuer aus Abfallholz war am Verglimmen. Angenehm warm strahlte das Abzugsrohr. Er holte eine Zeitung vom Stapel, stopfte die nassen Schuhe aus, stellte sie aufs Blech neben den Ofen.

«Die ‹Alpenrose› wird verkauft», sagte der Vater gegen das Fenster.

«Ich weiss.»

Magnus hatte das Schild gesehen. Am Morgen hatte es der Verwalter hingehängt. Er war an ihm vorbeigegangen, hatte nicht gegrüsst. Ein geschniegelter Herr, keiner von hier.

«Wo bist du gewesen?» Der Vater trat vom Fenster weg, stützte sich mit einer Hand auf die Hobelmaschine. In seinem Bart hingen Holzspäne. Er hatte gearbeitet. Ein kleiner Auftrag nur. Wenn er keinen hatte, drechselte er Spindeln und Speichen und fertigte Spinnräder. Magnus schwieg.

«Auf der Alp?»

Er nickte. Wärmte die Hände am Ofenrohr, ohne das heisse Metall zu berühren.

«Liegt noch Schnee dort oben?»

«Nicht mehr viel.»

Der Vater begann, die Werkbank aufzuräumen. Er blies Späne von einem Drechselstahl, hängte ihn an seinen Platz im Werkzeugschrank, klappte ein Metermass zusammen, schob es in die schmale Tasche am Hosenbein. Holte Kehrichtschaufel und Wischer und fegte die Bank. Uraltes Holz, speckig braun glänzte es, mit Kerben und Rissen. Schon Grossvater hatte hier geschreinert. Er war gestorben, bevor Magnus auf die Welt kam.

Magnus schaute zu, wie der Vater mit dem Besen Späne am Boden zu einem Haufen zusammenkehrte. Er ging zu seinem Rucksack, löste die Riemen der Klappe, unter der ein Bündel Zweige klemmte, legte sie auf die Werkbank.

Der Vater stellte den Besen neben die Tür, griff sich einen Zweig. «Weidenkätzchen. Wo hast du sie gefunden?»

«Am Alpweg.»

«Ich geb sie Sandra. Sie soll sie einstellen.» Er strich mit dem Finger über eines der silbergrauen Pelzbällchen, die wie Perlen aufgereiht auf dem Zweig sassen.

Heftig schüttelte Magnus den Kopf. «Für das da.» Er griff in den Rucksack, zog das Buch von den Waljägern heraus. Anita hatte es ihm geschenkt. Und das Fernglas.

«Morgen geh ich in die Stadt», sagte der Vater leise. «Ich nehme die Kätzchen mit.» Er holte ein Messer aus dem Werkzeugschrank, schnitt die Stile schräg an. Dann zupfte er ein paar Fasern aus einem Büschel Flachs, das über der Werkbank hing, band den Strauss. Er stellte ihn in eine Blechbüchse. «Ich hol dann noch Wasser.»

Magnus schlüpfte in ein Paar Filzpantoffeln, schlurfte durch die Werkstatt zur Treppe, die zur Wohnung führte. Das Buch hielt er unter den Arm geklemmt.

5

Das Krankenzimmer lag im Halbdunkel, Licht filterte durch Lamellenstoren, warf ein Streifenmuster aufs Bett, das von Apparaten umstellt war. Monitore und Messgeräte, verbunden mit Kabeln und Schläuchen. Andrea blieb bei der Tür stehen, glaubte für einen Augenblick, sie habe sich im Zimmer geirrt. Das Gesicht auf dem Kopfkissen war ihr fremd. Bleiche Pergamenthaut spannte sich über Wangenknochen, der Kopf war kahl bis auf einen Kranz von Stoppeln am Haaransatz. Anita blinzelte mit einem Auge ins Licht der offenen Tür, das andere blieb geschloss en, das Lid schien am Augapfel zu kleben. «Andrea. Welche Überr aschung.» Von ihrer kräftigen Stimme war nur ein heiseres Krächzen geblieben.

Sie tippte mit einem Finger auf eine Taste. Summend fuhr die Kopfstütze hoch. Sie versuchte zu lächeln, ihr Mund verzerrte sich. Die Gesichtshälfte mit dem verklebten Auge bewegte sich nicht, sie war gelähmt.

Andrea trat ans Bett, beugte sich über Anita, küsste sie flüchtig auf beide Wangen. Der Schweissgeruch der Kranken stiess sie ab. «Wie geht es dir?»

«Ich mach Fortschritte. Schau mal.» Anita hob unter der Decke ein Knie ein wenig an. «Ich kann es wieder bewegen. Die neue Therapie hilft.» Fast ganz gelähmt sei sie gewesen, Metastasen im Hirn. Die Mistelkur habe nichts gebracht, jetzt versuche sie eine Krebsdiät auf Leinölbasis. Leinöl enthalte gute Fette, die zusammen mit Eiweiss den Stoffwechsel in der Leber anregten und die Krebs erzeugenden Stoffe unwirksam machten. «Die klassischen Mediziner belächeln mich, aber sie lassen mich machen. Schaden kann es ja nicht, sagen sie. Noch mehr Chemo und Bestrahlung vertrage ich nicht.» Ihr Atem ging keuchend, das Reden erschöpfte sie.

Andrea betrachtete das Plakat, das an der Wand über dem Bett hing. Anitas letzte Ausstellung, Bergzauber – Zauberberg. Flammend rotgelbe Pinselstriche, in denen man einen Berg erkennen konnte, wenn man wollte, oder den zornigen Wunsch, die Krankheit über alle Berge zu verbannen. Etwas in der Art hatte ein gescheiter Mensch an der Vernissage erklärt und dann offiziell bekannt gegeben, dass Anita an Lungenkrebs erkrankt sei. Schneller als sonst waren rote Punkte aufgetaucht unter ihren Bildern.

Die Tür öffnete sich, eine Pflegerin trat ins Zimmer, eine attraktive Frau mit roten Nägeln und getuschten Wimpern. «Schön, dass Sie Besuch haben, Frau Bender.» Sie machte sich an den Apparaturen zu schaffen, wechselte die Flasche für die Infusion, die über dem Bett hing, setzte eine Ampulle mit einem Medikament ein. «Frau Bender ist gut aufgehoben bei uns. Nicht wahr?»

Mit geschlossenen Augen deutete Anita ein Nicken an. «Daniel besucht mich.»

«Doktor Meyer vom Notfall», erklärte die Pflegerin. «Wollen Sie sich nicht setzen?» Sie deutete auf einen Stuhl.

Andrea schüttelte den Kopf. Sie musste gehen, Daniel wollte sie auf keinen Fall begegnen. Keine alten Geschichten aufwärmen.

Die Pflegerin hob Anitas Kopf sacht an, liess die Kopfstütze zurückfahren, beugte sich über sie und träufelte Tropfen in ihre Augen. Dann verliess sie das Zimmer.

«Gestern war ich im Dorf», sagte Andrea, weil ihr nichts anderes einfiel.

«Mein Gott, ist schon Frühling dort oben?» Anita seufzte.

«Auf der Alp liegt noch etwas Schnee.»

«Ich möchte wieder mal auf die Alp.» Tränen liefen über Anitas Wangen. Vielleicht waren es die Augentropfen.

Andrea setzte sich auf die Bettkante, ergriff ihre Hand, streichelte die welke Haut. Sie trug ihre indischen Fingerringe mit den bunten Steinen und Silberreifen am Handgelenk. «Sie wollen mir die ‹Alpenrose› wegnehmen», flüsterte sie, schloss ihre Augen. «Mein Haus, meine Galerie, mein Traum.»

Andrea erinnerte sich an eine Vernissage in den Kellergewölben der «Alpenrose», Leute aus der Kunstszene der Stadt waren gekommen. Eine Sängerin. Und sogar Einheimische, zu denen Anita einen Draht gefunden hatte.

«Der Gemeindeverwalter war hier. Möchtest du die ‹Alpenrose› übernehmen?»

«Ich hab doch kein Geld.»

«Es wäre schön …» Anitas Stimme war nur noch ein heiseres Hauchen. «Da ist nur … der Glockenturm …» Ihr Kopf sank zur Seite, sie bewegte sich nicht mehr, war weggetaucht, sah vielleicht den Turm der Kapelle vor sich, hörte im Dahindämmern den harten Klang der Glocke, der sie während Jahren Tag und Nacht begleitet hatte.

Andrea verliess das Zimmer leise. Im Korridor kam ihr ein Mann entgegen, leicht vorgebeugt mit unsicherem Schritt. Sein Blick glitt über den Boden, als klafften unter dem Linoleum versteckte Gletscherspalten. Er kam ihr bekannt vor, sie war ihm vielleicht schon begegnet, ein Hüttenwart oder Senn auf einer Alp. Sein rötlicher Bartkranz war zerzaust, ein Manchesteranzug schlotterte um seine Glieder. Sie sah sich um. Vor Anitas Zimmer blieb er stehen, klopfte. In der Hand trug er einen Bund Weidenkätzchen.

6

Daniel erkannte sie sogleich, folgte ihr durch den Korridor, sein Mantel wehte offen. Er war versucht, ihren Namen zu rufen, hoffte, sie blicke sich um, doch sie schritt weiter, klein und hartnäckig wie immer. Er war sicher, dass sie es war, obwohl sie die Haare nun lang trug, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bestimmt sparte sie sich die Coiffeuse, sie musste immer sparen und würde auch noch sparen, nachdem sie einen Millionär geheiratet hätte. Das Karge und Einfache war ihr eingeprägt, wie ihre weiten und leichten Schritte und die etwas nach links abfallende Schulter, auf die sie, wie er wusste, einen blauen Schmetterling tätowiert hatte. Blue Mountain. Sie rauchte nicht, trank keinen Alkohol, fuhr einen angerosteten Cherokee Jeep; ihre Leidenschaft zeigte sich nur am Berg, sonst verbarg sie sich unter ihrer widerborstigen Kraft. Daniel war nicht sicher, was er von ihr wollte, sie hatte ihn auf schwierigen Routen geführt, sie hatten sich geküsst und einmal miteinander eine Nacht verbracht, in einer Hütte unter Wolldecken, eng umschlungen, aber vielleicht hatte er auch nur geträumt, sie hätten miteinander geschlafen. Seit seinem Unfall in Israel kletterte er nicht mehr, seit seiner Affäre mit Marit hatte er nie mehr mit einer Frau ein Verhältnis gehabt, von einem gelegentlichen One-Night-Stand abgesehen. Er folgte Andrea bis zum Foyer, sah sie durch die Flügeltür ins Freie treten. Auf dem Vorplatz beim steinernen Engel blieb sie stehen. Es schien, als denke sie darüber nach, was sie vergessen haben könnte. Er hoffte, sie kehre nochmals um, dann würde er sie begrüssen wie eine alte Bekannte, sie würden sich küssen, Erinnerungen austauschen, sich verabreden. Sie zögerte, zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Windjacke, tippte eine SMS. Er war sicher, dass sie einen Freund hatte, eine Frau wie sie unter lauter Männern, die sie bewunderten, vielleicht den Manager, den sie einmal aufs Matterhorn geschleppt hatte. Daniel war noch immer eifersüchtig auf jenen Geck, auch wenn er sich sagte, dass er zuallerletzt Grund dafür habe. Doch für Gefühle, das wusste er, gab es keine Gründe, und keine Medizin half, wenn sie einen heimsuchten. So war das mit Marit gewesen, der Kollegin im Rabin Medical Center in Tel Aviv. Sie hatte ihn nach seinem Unfall zusammengeflickt.

«Doktor Meyer!» Die Stimme einer Pflegerin hallte durch den Korridor.

«Bin gleich da!» Er trat in die Toilette, liess Wasser in seine Hände laufen, kühlte sich das Gesicht. Er riss ein Papierhandtuch aus der Box, trocknete sich ab. Betrachtete die Narbe, die sich vom Haaransatz der linken Stirnhälfte zum Nasenrücken zog. Kaum mehr sichtbar, trotz der vierzehn Stiche. Marit hatte exzellente Arbeit geleistet, er hatte von der erfahrenen Traumatologin viel gelernt in den zwei Jahren in Israel. Und in den Monaten ihrer Affäre. Er hatte alles vergessen, das alte Leben, die Berge, die Heimat und Andrea. Wie einst auf schwierigen Kletterrouten hatte es für ihn nur das Hier und Jetzt gegeben, die verzweifelte Hektik in der Klinik nach einem Attentat, die ohnmächtigen Versuche, zerfetzte Körper am Leben zu erhalten, die Nächte in Marits Wohnung über dem Hafen von Jaffa.

Er trat in den Korridor, die Pflegerin, die ihn gerufen hatte, war verschwunden. Er schritt über die Passerelle zum Neubau der Onkologie, grüsste flüchtig einen Patienten, der mit stumpfem Ausdruck den Galgen mit dem Tropf vor sich herschob und seinem Blick auswich. Er klopfte an Anitas Zimmertür und schaute hinein. An ihrem Bett sass ein Mann auf einem Stuhl, vornübergebeugt, hielt ihre Hand. Sie hatte die Augen geschlossen, vielleicht schlief sie. Auf der Bettdecke lag ein Bund Weidenkätzchen. Der Frühling war angekommen in den Bergen.

Der Mann liess Anitas Hand los, sah sich um. Einer aus dem Dorf, dachte Daniel. Er kannte ihn nicht, nickte ihm zu und schloss die Tür wieder.