Auf der Suche nach Indien

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E. M. Forster

Auf der Suche nach Indien

Roman

Aus dem Englischen von

Wolfgang von Einsiedel


Titel der Originalausgabe: »A Passage to India«

Copyright © The Provost and Scholars of King’s College,

Cambridge, 1924, 1979

Copyright für die deutsche Übersetzung:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1985

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-18-7

Buch I

Mo­schee

1

Mit Aus­nah­me der – oh­ne­hin vier­zig Ki­lo­me­ter ab­ge­le­ge­nen – Mara­bar-Grot­ten hat die Stadt Tschan­dra­pur dem Be­su­cher nichts Un­ge­wöhn­­liches zu bie­ten. Vom Gan­ges nicht so sehr be­spült wie ge­säumt, zieht sie sich ein paar Ki­lo­me­ter weit am Ufer ent­lang, kaum zu un­ter­scheiden von all dem Un­rat, den sie so groß­zü­gig ab­la­gert. Da der Gan­ges an die­ser Stel­le nicht heilig ist, sind auf der Fluss­seite auch keine Ba­de­stu­fen zu se­hen, ja, von der Fluss­seite ist über­haupt nicht viel zu be­mer­ken. Das weite, wech­sel­vol­le Pa­no­ra­ma des Stro­mes ist von Ba­sa­ren ver­stellt. Die Stra­ßen sind dürf­tig, die Tem­pel un­an­sehn­lich, und wenn es auch ein­zel­ne statt­­liche Häu­ser gibt, so lie­gen sie doch in Gär­ten ver­steckt oder ste­hen in Hin­ter­gas­sen, de­ren Schmutz nur den ge­la­de­nen Gast nicht ab­zu­schre­cken ver­mag. Nie­mals war Tschan­dra­pur groß oder schön, aber vor 200 Jah­ren lag es an der breiten Han­dels­stra­ße, die das – da­mals kai­ser­­liche – Ober­in­di­en mit der See ver­band, und aus je­ner Zeit stam­men auch die statt­­lichen Häu­ser. Im 18. Jahr­hun­dert er­starb die Freu­de am Zie­rat, die oh­ne­hin auf die obe­ren Schich­ten be­schränkt war. Im Ba­sar­vier­tel ist nicht das Ge­ringste von Ma­le­rei, und so gut wie nichts von Schnit­ze­rei wahr­zu­neh­men. Das Holz selbst scheint aus Lehm zu be­ste­hen – je­der Stadt­be­woh­ner aus wan­deln­dem Lehm. So he­run­ter­ge­kom­men, so ein­tö­nig ist al­les, was dem Blick des Be­schau­ers be­geg­net, dass man fast wün­schen könn­te, der gan­ze Aus­wuchs wür­de bei der nächs­ten Über­schwem­mung vom Gan­ges wie­der in den Erd­bo­den zu­rück­ge­spült. Tat­säch­lich stür­zen Häu­ser zu­sam­men, er­trin­ken Men­schen, die man auch un­be­küm­mert ver­we­sen lässt, aber im All­ge­meinen bleibt die Um­riss­­linie der Stadt mehr oder we­ni­ger die Gleiche, auch wenn sie, wie ­eine nie­de­re und doch un­zer­stör­ba­re Le­bens­form, sich hier ein we­nig baucht, dort ein we­nig zu­sam­men­zieht.

Auf der dem Fluss ab­ge­wand­ten Seite sieht al­les gleich an­ders aus. Hier be­fin­det sich ein ova­ler mai­dan und ein lang ge­strecktes düs­te­res Hos­pi­tal. Auf dem hö­her ge­le­ge­nen Ge­län­de in der Nähe des Bahn­hofs ste­hen ein paar Häu­ser, die wohl­ha­ben­den Eu­ra­si­ern ge­hö­ren. Hin­ter der Ei­sen­bahn, de­ren Gleise zum Fluss pa­ral­lel ver­lau­fen, senkt der Bo­den sich und reckt sich dann wie­der ziem­lich steil in die Höhe. Auf der zweiten Er­he­bung ist die kleine Be­am­ten­sta­ti­on er­rich­tet, und von hier aus ge­se­hen bie­tet Tschan­dra­pur fast ein neu­es Bild. Es ist ­eine Gar­ten­stadt, nein, keine Stadt, son­dern ein Hain, spär­lich mit Hüt­ten ge­spren­kelt. Ein tro­pi­scher Lust­gar­ten, von ­einem ed­len Strom be­spült. Die bu­schi­gen Pal­men und Nim-Bäu­me, die Man­go- und Pe­pul­bäu­me, sonst stets von den Ba­sa­ren ver­deckt, schie­ben sich nun­mehr ins Blick­feld und ver­de­cken ih­rer­seits die Ba­sa­re. Von ur­al­ten künst­­lichen Teichen ge­speist, schwin­gen sie sich aus Gär­ten, oder sie bers­ten aus er­sti­cken­dem Busch­werk und ver­fal­len­den Tem­peln. Nach Licht und Luft drän­gend und von stär­ke­ren Kräf­ten er­füllt als der Mensch und al­les von ihm Ge­schaf­fe­ne, scheinen sie über der un­te­ren Ab­la­ge­rung da­hin­zu­schwe­ben, um einan­der mit ih­ren Zweigen und win­ken­den Blät­tern zu grü­ßen, ­eine Wohn­statt für ge­fie­derte We­sen. Vor al­lem nach der lan­gen Re­gen­zeit ver­hül­len sie, was in der Tie­fe vor sich geht, aber im­mer von Neu­em ver­klä­ren sie, auch ver­dorrt oder un­be­laubt, in den Au­gen der weiter oben hau­sen­den Eng­län­der das Bild der Stadt. Des­halb ver­mag auch der Neu­an­kömm­ling die­se Stadt zu­nächst nicht für so küm­mer­lich zu hal­ten, wie er es nach ih­rer Be­schreibung er­war­ten soll­te: erst an Ort und Stel­le wird er ge­neigt sein, sich ­eines Bes­se­ren be­leh­ren zu las­sen. Was die Be­am­ten­sta­ti­on selbst be­trifft, so löst sie keiner­lei stär­ke­re Emp­fin­dung aus. Sie ent­zückt den Be­trach­ter nicht, aber sie stößt ihn auch nicht ab. Sie ist höchst zweck­mä­ßig an­ge­legt. An weit­hin sicht­ba­rer Stel­le be­fin­det sich ein Klub­ge­bäu­de aus ro­tem Back­stein, an we­ni­ger sicht­ba­rer ein Kram­la­den und ein Fried­hof. Die kleinen Bun­ga­lows lie­gen gleich­mä­ßig ver­teilt an Stra­ßen, die einan­der recht­wink­lig schneiden. Nein, die­se Sied­lung hat nichts Häss­­liches an sich, aber wirk­lich schön ist nur die Aus­sicht, die man von ihr aus ge­nießt. Und mit der Stadt selbst hat sie nichts an­de­res ge­mein als den sie beide über­wöl­ben­den Him­mel.

Auch am Him­mel pfle­gen al­ler­lei Ver­än­de­run­gen vor sich zu ge­hen, we­ni­ger auf­fäl­­lige als die bei Fluss und bei Pflan­zen­wuchs. Bis­weilen wird der Him­mel durch Wol­ken in ­eine Land­schaft ver­wan­delt, aber für ge­wöhn­lich ist er nur ­eine weite Kup­pel, von Misch­tö­nen über­haucht. Der vor­wal­ten­de Farb­ton ist Blau, am Tage zu Weiß ver­blas­send, wo er ans Weiß der Erde rührt, nach Son­nen­un­ter­gang aber von ­einem neu­en Saum um­kränzt – Oran­ge, das nach der Höhe zu in zar­tes­tes Pur­pur über­geht. Aber der blaue Un­ter­grund bleibt be­ste­hen, auch des Nachts. Wie Lam­pen hän­gen dann von der De­cke des un­ge­heu­ren Ge­wöl­bes die Ster­ne he­rab. Der Ab­stand zwi­schen beidem ist win­zig klein, ver­g­lichen mit der da­hin­ter sich breiten­den Fer­ne, und die­se fer­ne­re Fer­ne hat, wenn­gleich dem Be­reich al­ler Far­be ent­rückt, als Letzte das Blau von sich ab­ge­tan.

Es ist der Him­mel, der al­les ver­fügt – nicht nur die Wech­sel­folge des Wet­ters, der Jah­res­zeiten, son­dern auch den Au­gen­blick, in dem die Erde sich wie­der zu schmü­cken hat. Aus eige­nen Kräf­ten ver­mag die Erde nur we­nig zu tun, es sei denn, dass sie hie und da ein paar Blu­men her­vor­treibt. Aber wenn es dem Him­mel ge­fällt, kann er Herr­lich­keit auf die Ba­sa­re Tschan­drap­urs nie­der­reg­nen, ein lich­tes Se­gens­zeichen von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont gleiten las­sen. Der Him­mel ist des­sen fä­hig, weil er so stark, so ge­wal­tig ist. Seine Stär­ke, täg­lich er­neu­ert, rührt von der Son­ne her, seine Grö­ße von der tief un­ter ihm ru­hen­den Erde. Kein Ber­ges­gip­fel stört die Rein­heit der Wöl­bungs­­linie. Meile um Meile liegt die Erde flach hin­ge­streckt, wirft sich ein we­nig auf und duckt sich wie­der. Nur im Sü­den, wo ein paar Fin­ger und Fäuste den Bo­den durch­sto­ßen ha­ben, ist die end­lo­se Flä­che ge­bro­chen. Die­se Fäuste und Fin­ger sind die Fels­hü­gel des Mara­bar, die in ih­rem In­nern die selt­sa­men Grot­ten ber­gen.

2

Das Fahr­rad fiel zu Bo­den, ehe ein Die­ner es auf­fan­gen konn­te, und der jun­ge Mann, der es eben los­ge­las­sen ­hatte, sprang die Stu­fen zur Ve­ran­da em­por. Er spru­delte über vor Leb­haf­tig­keit.

»Hami­dul­lah, Hami­dul­lah«, rief er, »kom­me ich zu spät?«

»Er­spa­re dir jede Ent­schul­di­gung«, ­sagte sein Gast­ge­ber. »Du kommst im­mer zu spät.«

»Sei doch bitte so freund­lich, mir auf meine Fra­ge zu ant­wor­ten. Bin ich jetzt zu spät ge­kom­men? Hat Mah­moud Ali schon al­les auf­ge­ges­sen? Dann will ich lie­ber wo­an­ders hin. Mr. Mah­moud Ali, wie geht es Ih­nen?«

»Dan­ke der Nach­fra­ge, Dr. Aziz. Ich pfeife ge­ra­de auf dem letz­ten Loch.«

»Und das aus­ge­rech­net vor dem Es­sen? Ar­mer Mah­moud Ali!«

»Hami­dul­lah weilt schon nicht mehr un­ter den Le­ben­den. Er hat den Geist auf­ge­ge­ben, als Sie ge­ra­de an­ge­ra­delt ka­men.«

»Ja, das stimmt«, be­merkte der an­de­re. »Stell dir bitte vor, dass wir beide aus ­einer an­de­ren, bes­se­ren Welt das Wort an dich rich­ten.«

»Gibt es in eu­rer bes­se­ren Welt mög­­licher­weise auch so et­was wie ­eine hoo­kah?«

»Lass das Al­bern, Aziz. Wir sind ge­ra­de da­bei, et­was höchst Be­trüb­­liches zu er­ör­tern.«

Die hoo­kah war, wie ge­wöhn­lich im Haus seiner Freun­de, zu fest ge­stopft und glu­ckerte miss­mu­tig. Aziz setzte ihr lie­be­voll zu, bis der Ta­bak ihm in Lun­ge und Nase em­por­schoss und den Beiz­ge­ruch bren­nen­den Kuh­dungs ver­trieb, der sich bei seiner Fahrt durchs Ba­sar­vier­tel da­rin ein­ge­nis­tet ­hatte. Ein köst­­liches Ge­fühl! Aziz ge­riet bald in ­einen Ent­rü­ckungs­zu­stand, der zwar er­schlaf­fend, aber gleich­zeitig er­fri­schend war und hin­ter des­sen Schleiern auch die Un­ter­hal­tung der beiden an­dern ihm nicht son­der­lich be­trüb­lich vor­kom­men wollte – sie er­ör­ter­ten ge­ra­de, ob es über­haupt mög­lich sei, mit ­einem Eng­län­der be­freun­det zu sein. Mah­moud Ali be­stritt es, Hami­dul­lah ver­trat die ge­gen­tei­lige Meinung, aber das mit so vie­len Vor­be­hal­ten, dass keine Ge­reizt­heit zwi­schen ih­nen auf­kom­men konn­te. Ja, Aziz fand es herr­lich, drau­ßen auf der breiten Ve­ran­da zu lie­gen, wäh­rend vor seinen Au­gen der Mond im­mer hö­her stieg und in seinem Rü­cken die Die­ner das Es­sen an­rich­te­ten, ohne dass ir­gend­et­was Un­lieb­sa­mes zu be­fürch­ten ge­we­sen wäre.

»Du brauchst nur an das zu den­ken, was mir sel­ber heute Vor­mit­tag zu­ge­sto­ßen ist.«

 

»Ich be­haupte auch nur, dass es in Eng­land mög­lich ist«, er­wi­derte Hami­dul­lah, der vor lan­ger, lan­ger Zeit ein­mal dort ge­we­sen war, ehe das zur gro­ßen Mode wur­de, und der in Cam­bridge so gast­­liche Auf­nah­me ge­fun­den ­hatte.

»Hier ist es je­den­falls un­denk­bar, Aziz. Herr Rot­na­se hat mich vor Ge­richt heute schon wie­der be­leidigt. Ich ma­che ihm keinen Vor­wurf da­raus. Er ­hatte den Auf­trag, mich zu be­leidi­gen. Noch bis vor Kur­zem war er wirk­lich ganz nett, aber nun ha­ben sie ihn ’rum­ge­kriegt.«

»Ja, hier dür­fen sie nicht sein, was sie sein wol­len – das meine ich ge­ra­de. Sie kom­men mit der gu­ten Ab­sicht her, Gen­tle­men zu sein, und müs­sen sich dann gleich sa­gen las­sen, dass sich das gar nicht schickt. Denk an Les­ley, denk an Bla­kis­ton. Heute ist es dein Herr Rot­na­se, und mor­gen wird es Fiel­ding sein. Ich er­in­ne­re mich noch, wie es am An­fang mit Tur­ton war. Ihr wer­det’s mir beide nicht glau­ben, aber ich bin da­mals mit Tur­ton zu­sam­men in seinem Wa­gen he­rum­kut­schiert – in ­einem an­de­ren Teil der Pro­vinz – aus­ge­rech­net mit Tur­ton! O ja, wir stan­den ein­mal auf ganz ver­trau­tem Fuß mit­einan­der. Er hat mir so­gar seine Brief­mar­ken­samm­lung ge­zeigt.«

»Und nun ist er si­cher da­von über­zeugt, dass du sie ihm sti­bit­zen wür­dest. Tur­ton. Aber Herr Rot­na­se wird sich ein­mal noch sehr viel schlim­mer auf­füh­ren als Tur­ton.«

»Das wohl kaum. Sie sind am Ende alle gleich hier, der ­eine ist nicht bes­ser und nicht schlim­mer als der an­de­re. Ein Eng­län­der braucht nach meiner Meinung nur zwei Jah­re hier zu sein, ein Tur­ton oder ein Bur­ton oder wer sonst. Den ein­zi­gen Un­ter­schied macht ein Buch­sta­be. Und die Eng­län­de­rin­nen schaf­fen es in ­einem hal­ben Jahr. Sie gleichen sich wie ein Ei dem an­de­ren. Ist es nicht so?«

»O nein«, er­wi­derte Mah­moud Ali, in den Ton bit­te­ren Scher­zens ein­stim­mend – bei je­dem Wort schmerz­haft be­rührt und zu­gleich amü­siert. »Ich meiner­seits ent­de­cke im­mer neue Un­ter­schie­de zwi­schen un­se­ren Herrn und Ge­bie­tern. Herr Rot­na­se müm­melt vor sich hin, Tur­ton spricht deut­lich, Mrs. Tur­ton nimmt Schmier­gel­der, Frau Rot­na­se da­ge­gen nicht – kann es auch gar nicht, weil es sie bis­her noch nicht gibt.«

»Schmier­gel­der?«

»Wuss­ten Sie denn nicht, dass die Tur­tons im Zu­sam­men­hang mit ir­gend­einem Ka­nal­pro­jekt ein­mal der Re­gie­rung von Zent­ral­in­di­en leih­weise zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­den und dass ir­gend­ein Rad­scha ihr ­eine Näh­ma­schi­ne aus pu­rem Gold zum Ge­schenk mach­te, da­mit die Was­ser­stra­ße durch sein Ge­biet ge­leitet ­wür­de?«

»Und hat er das er­reicht?«

»O nein. In dem Punkt ist näm­lich Mrs. Tur­ton ganz ge­ris­sen. Wenn wir ar­men Nig­ger Schmier­gel­der an­neh­men, dann tun wir auch wirk­lich, wo­für man uns be­zahlt – und gleich ha­ben wir das Ge­setz auf dem Hals! Die Eng­län­der ste­cken Schmier­gel­der ein, ohne auch nur das Ge­ringste da­für zu un­ter­neh­men. Ich fin­de sie be­wun­derns­wert.«

»Wir alle fin­den sie be­wun­derns­wert. Bit­te, Aziz, reich mir doch die hoo­kah.«

»Oh – noch nicht. Sie schmeckt so gut!«

»Du al­ter Ego­ist.« Hami­dul­lah hob plötz­lich die Stim­me und rief im Kom­man­do­ton nach dem Es­sen. Die Die­ner rie­fen zu­rück, dass es fer­tig sei. Was gar nichts an­de­res hieß, als dass sie sel­ber wünsch­ten, es fer­tig zu ha­ben, und was auch in die­sem Sin­ne ver­stan­den wur­de, denn nie­mand rührte sich von der Stel­le. Hami­dul­lah fuhr weiter in der Un­ter­hal­tung fort, aber sein Ton­fall ­hatte ge­wech­selt, und er sprach of­fen­sicht­lich mit in­ne­rer Be­we­gung.

»Wie ver­hält es sich nun aber mit meinem Fall, dem Fall des jun­gen Hugh Banni­ster? Ja, da wäre also der Sohn meiner lie­ben da­hin­ge­gan­ge­nen Freun­de, des Pfar­rers Banni­ster und seiner Frau – die Güte, die sie mir bei meinem Auf­ent­halt in Eng­land er­wie­sen ha­ben, lässt sich we­der schil­dern noch ver­ges­sen. Sie wa­ren wie meine eige­nen El­tern, und ich konnte mit ih­nen re­den, wie jetzt mit euch. Wäh­rend der Fe­ri­en war das Pfarr­haus ein Heim für mich. Sie ver­trau­ten mir alle ihre Kin­der an – wie oft habe ich den kleinen Hugh auf den Ar­men ge­tra­gen! Auch zum Be­gräb­nis der Kö­ni­gin Vic­to­ria habe ich ihn mit­ge­nom­men und ihn da­bei auf die­sen Hän­den über die Köp­fe der Men­ge em­por­ge­hal­ten.«

»Kö­ni­gin Vic­to­ria war ganz an­ders«, mur­melte Mah­moud Ali.

»Nun höre ich, dass der Jun­ge im Le­der­han­del in Kan­pur tä­tig ist. Ihr könnt euch den­ken, wie sehr ich da­rauf bren­ne, ihn wie­der­zu­se­hen und ihm das Fahr­geld zu be­zah­len, da­mit die­ses Haus auch für ihn zum Heim wer­de. Aber es hat gar keinen Zweck. Die an­de­ren An­glo-In­der wer­den ihn längst zu ­einem der Ih­ren ge­macht ha­ben. Er wird wahr­schein­lich ver­mu­ten, ich wol­le ir­gend­et­was von ihm, und das wäre mir beim Sohn meiner al­ten Freun­de ein un­er­träg­­licher Ge­dan­ke. Oh, was ist mit die­sem Land eigent­lich schief­ge­gan­gen, Va­kil Sah­ib? Ich fra­ge Sie!«

Nun griff end­lich Aziz mit in die Un­ter­hal­tung ein. »Wa­rum im­mer­zu von Eng­län­dern re­den? … Wa­rum mit die­sen Bur­schen über­haupt be­freun­det oder nicht be­freun­det sein? Las­sen wir sie doch ein­fach aus dem Spiel und amü­sie­ren wir uns! Die Kö­ni­gin Vic­to­ria und Mrs. Banni­ster wa­ren die ein­zi­gen Aus­nah­men, und die sind nicht mehr am Le­ben.«

»Nein, nein, das kann ich nicht zu­ge­ben. Ich habe auch noch an­de­re Aus­nah­men ken­nen­ge­lernt.«

»Ich auch«, ­sagte Mah­moud Ali, ­einen un­er­war­te­ten Front­wech­sel voll­zie­hend. »Die Da­men sind sich durch­aus nicht gleich.« Die Stim­mung der Freun­de war um­ge­schla­gen, und sie rie­fen sich kleine Akte der Ge­fäl­lig­keit und der Höf­lich­keit ins Ge­dächt­nis. »Sie ­sagte auf die na­tür­lichste Weise von der Welt: Dan­ke recht schön.« – »Sie bot mir ­eine Pas­til­le an, als mein Hals von Staub ganz rau war.« Hami­dul­lah konnte sich an be­deut­sa­me­re Beispiele eng­lisch-en­gel­haf­ten Ver­hal­tens er­in­nern, aber der an­de­re, der le­dig­lich An­glo-In­di­en kann­te, musste sein Ge­dächt­nis schon nach Ba­ga­tel­len durch­wüh­len, und so war es nicht weiter über­ra­schend, dass er bald wie­der auf seine frü­he­re Fest­stel­lung zu­rück­kam: »Aber na­tür­lich sind das al­les nur Aus­nah­men, und die be­weisen ge­ra­de die Re­gel. Die Durch­schnitts­eng­län­de­rin ist wie Mrs. Tur­ton, und Sie, Aziz, wis­sen ja, was das be­deu­tet.« Aziz wusste es nicht, stimmte aber zu. Auch er war all­zu ge­neigt, seine per­sön­­lichen Ent­täu­schun­gen zu ver­all­ge­meinern – das Ge­gen­teil wäre für die An­ge­hö­ri­gen ­einer nicht ­un­ab­hän­gi­gen Na­ti­on auch mehr als schwie­rig ge­we­sen. Ja, mit ge­wis­sen Aus­nah­men wa­ren alle Eng­län­de­rin­nen hoch­nä­sig und be­stech­lich. Von der Un­ter­hal­tung wich al­ler Schim­mer, und ihr grau­far­bi­ges Band ent­rollte sich ins Un­ab­seh­ba­re.

Ein Die­ner kün­digte an, dass das Mahl auf­ge­tra­gen sei. Sie nah­men keine No­tiz von ihm. Die beiden Äl­te­ren wa­ren bei ih­rer ewi­gen Po­­litik an­ge­langt. Aziz schlen­derte in den Gar­ten hi­naus. Süß duf­te­ten die Sträu­cher – cham­pak mit grü­ner Blüte –, und Ein­zel­klän­ge per­si­scher Ver­se wog­ten ihm durch den Sinn. Mahl, Mahl, Mahl … aber als er da­für ins Haus zu­rück­kehr­te, war Mah­moud Ali seiner­seits ent­schwun­den, um seinem sais ein paar An­weisun­gen zu er­teilen. »Dann komm doch in­zwi­schen ein biss­chen mit zu meiner Frau«, ­sagte Hami­dul­lah zu Aziz, und zwan­zig Mi­nu­ten lang ver­weil­ten beide hin­ter dem pur­dah. Die Be­gum war ­eine ent­fernte Tante von Aziz – die ein­zi­ge weib­­liche Ver­wandt­schaft, die er in Tschan­dra­pur be­saß –, und sie ­hatte bei die­ser Ge­le­gen­heit al­ler­hand zu dem Fa­mi­­lien­er­eig­nis ­einer Be­schneidung zu be­mer­ken, bei der es nicht feier­lich ge­nug zu­ge­gan­gen war. Es war nicht ganz ein­fach, von der Be­gum los­zu­kom­men, weil sie erst mit ih­rem eige­nen Mahl be­gin­nen konn­te, wenn die an­de­ren das ihre be­reits hin­ter sich hat­ten, und in­fol­ge­des­sen zog sie das Ge­spräch in die Län­ge, um nicht den Ein­druck des Un­ge­dul­dig­seins zu er­we­cken. Nach­dem sie das Ri­tu­al der Be­schneidung aus­gie­big be­an­stan­det ­hatte, ging sie zu ver­wand­ten The­men über und ­fragte Aziz, wann er sich wie­der zu ver­heira­ten ge­den­ke.

Ehr­er­bie­tig, aber et­was ge­reizt er­wi­derte er: »Ein­mal ist für mich ge­nug.«

»Ja, er hat seine Pflicht schon ge­tan«, fiel Hami­dul­lah ein. »Setz ihm nur nicht zu sehr zu, den Fort­be­stand seines Na­mens hat er ja ge­si­chert – zwei Jun­gen und de­ren Schwes­ter.«

»Tan­te, bei der Mut­ter meiner Frau geht ih­nen nicht das Ge­ringste ab – bei ihr hat sie selbst die letz­ten Le­bens­ta­ge ver­bracht. Ich kann die Kin­der se­hen, wann im­mer mir da­nach zu­mute ist. Sie sind noch ganz klein.«

»Und er lässt ih­nen sein gan­zes Ge­halt zu­kom­men und lebt selbst wie ein kleiner Bü­ro­an­ge­stell­ter und sagt keinem Men­schen, wa­rum. Was sollte er nach deiner Meinung noch mehr?«

Aber das war nicht, was die Hami­dul­lah-Be­gum im Sinn ­hatte. Nach­dem sie ein paar Au­gen­b­licke lang aus Höf­lich­keit der Un­ter­hal­tung ­eine an­de­re Wen­dung ge­ge­ben ­hatte, rückte sie of­fen da­mit he­raus. »Was soll nur aus un­se­ren Töch­tern wer­den«, ­fragte sie, »wenn die Män­ner nicht heira­ten wol­len? Sie wer­den sich un­ter dem Stan­de ver­e­he­­lichen oder müs­sen so­gar –.« Und wie­der ein­mal be­gann sie mit der schon oft vor­er­zähl­ten Ge­schichte von ­einer Dame kai­ser­­lichen Ge­blüts, die in dem en­gen Um­kreis, in dem ihr eige­ner Stolz ihr ­eine Gat­ten­wahl ver­gönn­te, keinen ge­eig­ne­ten Mann ­hatte fin­den kön­nen und un­ver­mählt ihr Da­sein zu fris­ten ­hatte, auch wohl un­ver­mählt ins Grab sin­ken wür­de, weil nun, da sie dreißig war, kein Mann sie mehr ha­ben woll­te. Wäh­rend ih­nen von die­ser Tra­gö­die be­rich­tet wur­de, wa­ren beide Män­ner ehr­lich über­zeugt, dass die Ge­mein­schaft als Gan­zes da­ran mit­schul­dig war. Dann schon fast lie­ber Viel­weibe­rei, als dass ­eine Frau ohne die ihr von Gott zu­ge­dach­ten Freu­den ins Grab sin­ken muss­te! Ehe, Mut­ter­schaft, häus­­liche Macht­voll­kom­men­heit – wo­für wäre sie sonst wohl auf der Welt, und wie hätte auch der Mann, der ihr sol­ches vor­ent­hal­ten, am Jüngs­ten Tage ih­rem – und seinem – Schöp­fer un­ver­zagt ins Ant­litz b­licken sol­len? Aziz ver­ab­schie­dete sich mit den Wor­ten: »Ja, viel­leicht … aber et­was spä­ter …« – seine ste­re­o­ty­pe Ant­wort auf je­des dies­be­züg­­liche An­sin­nen.

»Du soll­test nicht hi­naus­schie­ben, was du für rich­tig hältst«, ­sagte Hami­dul­lah. »In­di­en ist nur da­rum in ein sol­ches Schla­mas­sel ge­ra­ten, weil wir al­les im­mer wie­der hi­naus­schie­ben.« Aber da er be­merk­te, dass sein ju­gend­­licher Ver­wand­ter ­eine et­was sor­gen­vol­le Mie­ne auf­ge­setzt ­hatte, fügte er ein paar be­gü­tig­en­de Worte hin­zu und machte da­mit je­den Ein­druck zu­nich­te, den seine Frau mög­­licher­weise bei ihm her­vor­ge­ru­fen ­hatte.

Wäh­rend beider Ab­we­sen­heit war Mah­moud Ali da­von­kut­schiert. Er ­hatte Be­scheid hin­ter­las­sen, dass er in fünf Mi­nu­ten wie­der zu­rück sein wer­de, dass aber die an­de­ren keines­falls mit dem Es­sen auf ihn war­ten soll­ten. Die­se lie­ßen sich denn auch mit ­einem ent­fern­ten Vet­ter der Fa­mi­lie, Mo­ham­med La­tif, der, auf Hami­dul­lahs Freige­big­keit an­ge­wie­sen, die Po­si­ti­on we­der ­eines Un­ter­ge­be­nen noch ­eines Gleich­ge­stell­ten in­ne­hat­te, zum ers­ten Gang nie­der. La­tif öff­nete die Lip­pen nur, wenn man ihn an­re­de­te, und da nie­mand es tat, blieb er selbst stumm, ohne sich im Ent­fern­tes­ten ge­kränkt zu zeigen. Hin und wie­der stieß er auf – in An­er­ken­nung des üp­pi­gen Es­sens. Ein sanf­ter, ­zu­frie­de­ner, un­red­­licher al­ter Mann, der sein gan­zes Le­ben lang nicht ­einen Fin­ger krumm ge­macht ­hatte. So­lan­ge ­einer seiner Ver­wand­ten ein Haus be­saß, durfte er selbst ­einer Heim­statt ge­wiss sein, und es war auch kaum zu er­war­ten, dass ­eine so wohl­ha­ben­de Fa­mi­lie wie die seine als Gan­zes je­mals Bank­rott ma­chen wür­de. In meh­re­ren hun­dert Meilen Ent­fer­nung führte seine Frau ein ähn­­liches Schma­rot­zer­da­sein – in An­be­tracht der Kost­spie­lig­keit ­einer Ei­sen­bahn­karte stat­tete er ihr nie­mals ­einen Be­such ab. Aziz hielt ihn, wie auch die Die­ner, ein we­nig zum Bes­ten und be­gann dann gleich, Ver­se zu re­zi­tie­ren – zu­erst auf Per­sisch und dann ge­le­gent­lich auf Ara­bisch. Er ­hatte ein gu­tes Ge­dächt­nis und war für sein ju­gend­­liches Al­ter auch recht be­le­sen. Seine Lieb­lings­the­men wa­ren der Ver­fall des Is­lam und die Flüch­tig­keit der Lie­be. Die an­de­ren lausch­ten ihm vol­ler Ent­zü­cken, denn für sie war die Dicht­kunst ­eine ge­sell­schaft­­liche, und nicht, wie über­wie­gend in Eng­land, ­eine pri­vate An­ge­le­gen­heit. Sie wur­den es nie­mals müde, Worte zu hö­ren und wie­der Wor­te. Sie at­me­ten sie mit der küh­len Nacht­luft ein und mach­ten sich auch über ihre Be­deu­tung nicht all­zu viel Ge­dan­ken. Der Name des Dich­ters – Haf­iz, Hali, Iq­bal – war in sich selbst schon Ge­währ. Das weite In­di­en – Hun­derte von Län­dern, die In­di­en hie­ßen – flüs­terte drau­ßen in der Nacht un­ter ­einem gleich­mü­ti­gen Mond vor sich hin. Aber im Au­gen­blick schien es für sie nur ein ein­zi­ges In­di­en zu ge­ben, das ihre, und sie ge­wan­nen ihre ehe­ma­­lige Grö­ße zu­rück, als sie den Ver­lust die­ser Grö­ße be­kla­gen hör­ten, sie fühl­ten sich selbst wie­der jung, weil sie an die Flüch­tig­keit der Ju­gend ge­mahnt wur­den. Ein schar­lach­ro­ter Die­ner un­ter­brach die Re­zi­ta­ti­on – der chu­prassi des bri­ti­schen Ober­arz­tes, der Aziz ein Stück Pa­pier aus­hän­dig­te.

 

»Der alte Cal­len­dar will mich in seinem Bun­ga­low se­hen«, ­sagte er, ohne An­stal­ten zum Auf­ste­hen zu ma­chen. »Er hätte im­mer­hin so höf­lich sein kön­nen, mich wis­sen zu las­sen, wa­rum.«

»Ir­gend­ein Krank­heits­fall, wür­de ich den­ken.«

»Nein, si­cher nicht, gar nichts. Er hat he­raus­ge­fun­den, wann wir beim Es­sen sit­zen, und es macht ihm Ver­gnü­gen, uns je­des Mal da­bei zu stö­ren, um uns seine Macht füh­len zu las­sen.«

»Ja, das stimmt schon, an­de­rer­seits mag es sich wirk­lich um et­was Ernst­haf­tes han­deln – man kann es ein­fach nicht wis­sen«, ­sagte Hami­dul­lah, Aziz mit eini­ger Rück­sicht ­einen Pfad zum Ge­hor­sam bah­nend. »Soll­test du dir nicht lie­ber erst den Mund spü­len, wenn du pan ge­kaut hast?«

»Wenn mein Mund erst ge­spült wer­den muss, gehe ich nicht. Ich bin In­der, und es ist ­eine in­di­sche Ge­wohn­heit, pan zu kau­en. Da­mit muss der Ober­arzt sich schon ab­fin­den. Mein Fahr­rad ­bit­te, Mo­ham­med La­tif.«

Der arme Ver­wandte stand auf. Dem Be­reich des Stoff­­lichen nur lose zu­ge­hö­rig, legte er le­dig­lich die Hand auf den Sat­tel, wäh­rend ein Die­ner den eigent­­lichen Trans­port über­nahm. Ge­mein­sam ho­ben sie das Rad über ­eine am Bo­den lie­gen­de Reiß­zwe­cke. Aziz hielt die Hän­de un­ter die Was­ser­kan­ne, trock­nete sie, drückte sich den grü­nen Filz­hut kleid­sam in die Stirn und schwirrte dann mit un­er­war­te­ter Ent­schlos­sen­heit die Stra­ße hi­nab.

»Aziz, Aziz, du un­vor­sich­ti­ger Ben­gel …« Aber er war be­reits mit­ten im Ba­sar­vier­tel, wie ein Wahn­sin­ni­ger in die Pe­da­le tre­tend. Er ­hatte keine Lam­pe, keine Klin­gel, keine Brem­se an seinem Rad. Aber was ha­ben Ne­ben­säch­lich­keiten wie die­se in ­einem Land zu be­sa­gen, in dem ein Rad­fah­rer nur die ­eine Hoff­nung hat, dass je­des der auf seinem Weg von ihm er­späh­ten Ge­sich­ter sich in Luft auf­löst, be­vor er da­mit zu­sam­men­prallt! Und um die­se Stun­de war es in der In­nen­stadt ziem­lich leer. Als ­einer der Reifen die Luft ver­lor, sprang Aziz ab und brüllte nach ­einer Ton­ga.

Zu­nächst konnte er freilich keine auf­treiben und musste auch erst das Fahr­rad im Haus ­eines Freun­des ab­stel­len. Weite­re Zeit ver­trö­delte er mit Mund­spü­len. Aber schließ­lich ras­selte er im Tri­umph­ge­fühl ho­her Ge­schwin­dig­keit der Be­am­ten­sied­lung zu. Als er ih­rer öden Ge­pflegt­heit an­sich­tig wur­de, über­fiel ihn plötz­lich ­eine ge­wis­se Nie­der­ge­schla­gen­heit. Die Stra­ßen, auf die Na­men sieg­reicher Ge­ne­ra­le ge­tauft und im rech­ten Win­kel sich kreu­zend, wa­ren sym­bo­lisch für das Netz, das Groß­bri­tan­ni­en über In­di­en ge­wor­fen ­hatte und in des­sen Ma­schen er sich jetzt ver­fing. Als er an Ma­jor Cal­len­dars Gar­ten­pforte an­lang­te, konnte er sich nur mit Mühe zu­rück­hal­ten, von der Ton­ga ab­zu­sprin­gen und den kleinen Weg bis zum Bun­ga­low zu Fuß zu­rück­zu­le­gen – mit eini­ger Mühe nicht des­halb, weil er ein un­ter­wür­fi­ges Ge­müt ­hatte, son­dern weil sein Ge­fühl – die emp­find­­liche­re Seite seines We­sens – ­eine gro­be Zu­recht­weisung be­fürch­te­te. Im vo­raus­ge­hen­den Jahr war es ein­mal zu ­einem be­son­de­ren »Fall« ge­kom­men. Ein vor­neh­mer In­der war am Haus ­eines bri­ti­schen Be­am­ten vor­ge­fah­ren, war aber vom Die­ner zur Um­kehr ge­nö­tigt und von ihm be­deu­tet wor­den, er sol­le auf an­ge­mes­se­ne Weise wie­der ­er­scheinen – ein ein­zi­ger »Fall« un­ter Tau­sen­den von Be­su­chen bei Hun­der­ten von Be­am­ten, aber ein leider weit­hin be­kannt ge­wor­de­ner Fall. Der jun­ge Mann wollte ihn keines­wegs wie­der­holt se­hen. Er ent­schloss sich zu ­einem Komp­ro­miss und ließ au­ßer­halb des breiten Licht­scheins hal­ten, der über die Ve­ran­da fiel.

Der Ober­arzt war nicht zu Hau­se.

»Aber der Sah­ib hat mir wohl Be­scheid hin­ter­las­sen?«

Der Die­ner er­wi­derte mit ­einem gleich­gül­ti­gen Nein. Aziz war in hel­ler Ver­zweif­lung. Es war ein Die­ner, dem er bei ­einer frü­he­ren Ge­le­gen­heit aus pu­rer Ver­gess­lich­keit kein Trink­geld ge­ge­ben ­hatte, und nun konnte er das nicht mehr nach­ho­len, weil Leute in der Vor­hal­le wa­ren. Er war über­zeugt, dass ­eine Nach­richt für ihn da war und dass der an­de­re sie ihm aus Ra­che vor­ent­hielt. Wäh­rend beide noch hin und her re­de­ten, tra­ten die Leute he­raus. Es wa­ren zwei Da­men. Aziz lüf­tete den Hut. Die ­eine, in gro­ßer Abend­to­i­let­te, streifte den In­der mit ­einem ein­zi­gen Blick und wandte sich ins­tink­tiv von ihm ab.

»Ja, Mrs. Les­ley, es ist ­eine Ton­ga«, rief sie auf­ge­regt.

»Un­se­re Ton­ga?«, ­fragte die Zweite, bei Aziz’ An­blick dem Beispiel der Ers­ten fol­gend.

»Man sollte die Ga­ben der Göt­ter nicht miss­ach­ten«, gellte sie, und beide spran­gen hi­nein. »Ton­ga Wal­lah, Klub, Klub. Wa­rum rührt der Idi­ot sich nicht von der Stel­le?«

»Fahr schon los – ich wer­de mor­gen be­zah­len«, ­sagte Aziz zu dem Kuli. Und als die­ser sich in Be­we­gung setz­te, rief er höf­lich: »Es ist mir ein Ver­gnü­gen, meine Da­men.« Sie ant­wor­te­ten nicht – sie wa­ren viel zu sehr mit ih­ren eige­nen An­ge­le­gen­heiten be­schäf­tigt.

Da war es nun also wie­der ein­mal pas­siert, das Üb­­liche – ge­ra­de wie Mah­moud Ali es vor­her be­schrie­ben ­hatte. Die un­ver­zeih­­liche Krän­kung: seine Ver­beu­gung über­se­hen, sein Ge­fährt in Be­schlag ge­nom­men. Ge­wiss hätte es noch schlim­mer kom­men kön­nen. Ir­gend­wie be­ru­higte es ihn, dass die Da­men Cal­len­dar und Les­ley kor­pu­lent wa­ren und mit ih­rem Schwer­ge­wicht den hin­te­ren Teil der Ton­ga her­un­ter­drück­ten. Schö­ne Frau­en wür­den ihm är­ger zu schaf­fen ge­macht ha­ben. Er wandte sich dem Die­ner zu, drückte ihm ein paar Ru­pien in die Hand und ­fragte noch­mals, ob nicht Be­scheid für ihn da sei. Je­ner wie­der­holte in sehr höf­­lichem Ton die frü­he­re Ant­wort. Ma­jor Cal­len­dar war ge­ra­de vor ­einer hal­ben Stun­de ab­ge­fah­ren.

»Ohne et­was zu be­mer­ken?«

In Wirk­lich­keit ­hatte er ge­sagt: »Die­ser ver­dammte Aziz!« – Wor­te, die der Die­ner wohl ver­stan­den ­hatte, die zu wie­der­ho­len er aber nun zu höf­lich war. Man kann zu­viel Trink­geld ge­ben und auch zu we­nig: die Mün­ze, mit der man sich die gan­ze Wahr­heit er­kauft, muss erst noch ge­prägt wer­den.

»Dann will ich ihm ein paar Zeilen schreiben.«