Auf der Suche nach Indien

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»Be­steht aber die Lek­ti­on nicht da­rin, dass du alle in­di­schen Ver­teidi­ger ein­la­den soll­test, ­eine Zi­ga­rette mit dir zu rau­chen?«

»Viel­leicht. Aber die Zeit ist leider be­schränkt, und das Fleisch ist schwach. Mir ist es im­mer noch lie­ber, im Klub zu­sam­men mit meines­gleichen zu rau­chen.«

»Wa­rum dann aber nicht die Ver­teidi­ger in den Klub ein­la­den?«, ­fragte Miss Ques­ted hart­nä­ckig weiter.

»Nicht er­laubt.« Er war freund­lich und ge­dul­dig und ver­stand of­fen­sicht­lich auch, wa­rum sie nicht ver­stand. Er ließ durch­­blicken, dass auch er ein­mal wie sie ge­dacht ­hatte, aber nicht sehr lan­ge. Auf die Ve­ran­da hin­aus­tre­tend, rief er mit fes­ter Stim­me et­was in Rich­tung des Mon­des. Sein sais ant­wor­te­te, und ohne den Kopf zu sen­ken, gab er An­weisung, seinen Ein­spän­ner vor­fah­ren zu las­sen.

Mrs. Moo­re, die vom Klub­be­trieb ein we­nig be­nom­men war, be­kam im Freien gleich wie­der ­einen kla­ren Kopf. Sie be­trach­tete den Mond, des­sen Glanz das Pur­pur­rot des um­ge­ben­den Him­mels mit ­einem bläss­­lichen Gelb­grün trüb­te. In Eng­land war der Mond ihr stets leb­los und fremd­ar­tig vor­ge­kom­men. Hier war er mit der Erde und al­len an­de­ren Ge­stir­nen zu­sam­men in den Schal der Nacht ein­ge­hüllt. Ein plötz­­liches Ge­fühl für die Ein­heit al­les Ge­schaf­fe­nen, der Ver­wandt­schaft mit al­len Him­mels­kör­pern durch­strömte die alte Frau wie Was­ser ­einen künst­­lichen Teich, ­eine selt­sa­me Fri­sche hin­ter sich las­send. Sie ­hatte nichts ge­gen »Cou­sin Kate«, nichts ge­gen die Na­ti­o­nal­hym­ne ein­zu­wen­den, aber der Nach­hall von beidem war nun in ­einen neu­en Klang ein­ge­gan­gen, so wie Cock­tails und Zi­gar­ren in das nur für ihr in­ne­res Auge sicht­ba­re Bild von Blu­men ein­ge­gan­gen wa­ren. Als an der Stra­ßen­bie­gung die Mo­schee auf­schim­mer­te, lang­ ge­streckt, kup­pel­los, rief sie aus: »O ja – bis hier­her bin ich ge­kom­men, hier bin ich ge­we­sen.«

»Wann denn ge­we­sen?«, ­fragte ihr Sohn.

»In der Zwi­schen­pau­se.«

»Aber Mut­ter, so et­was darfst du dir ein­fach nicht leis­ten.«

»Das darf Mut­ter nicht?«

»Nein, wahr­haf­tig, nicht in die­sem Land. Es ge­hört sich ein­fach nicht. Man hat sich beispiels­weise vor den Schlan­gen in Acht zu neh­men. Am Abend kom­men sie ge­wöhn­lich aus ih­ren Schlupf­lö­chern he­raus.«

»Ach ja, das hat auch der jun­ge Mann in der Mo­schee ge­sagt.«

»Das klingt ja ganz ro­man­tisch«, be­merkte Miss Ques­ted, die, Mrs. Moo­re von Her­zen zu­ge­tan, sich ehr­lich da­rü­ber freu­te, dass ihr ein kleines Aben­teu­er ver­gönnt ge­we­sen war. »Du triffst in der Mo­schee ­einen jun­gen Mann und er­zählst mir dann nichts da­von!«

»Ich war ge­ra­de drauf und dran, es dir zu er­zäh­len, Ad­ela, aber ir­gend­wie bog die Un­ter­hal­tung dann in ein an­de­res Gleis ein, und ich ver­gaß es. Mein Ge­dächt­nis wird im­mer un­zu­ver­läs­si­ger.«

»War er nett?«

Mrs. Moo­re zö­gerte ein we­nig, um dann mit vol­lem Nach­druck zu er­klä­ren: »Au­ßer­or­dent­lich nett.«

»Wer war’s denn?«, forschte Ron­ny.

»Ein Arzt. Ich weiß nicht, wie er hieß.«

»Ein Arzt? Ich ken­ne in Tschan­dra­pur keinen jun­gen Arzt. Wie merk­wür­dig! Wie sah er denn aus?«

»Er war ziem­lich klein, ­hatte ­einen kleinen Schnurr­bart und flin­ke Au­gen. Er rief mir et­was zu, als ich mich noch im dunk­len Teil der Mo­schee be­fand – et­was, das sich auf meine Schu­he be­zog. Auf die­se Weise ka­men wir ins Ge­spräch. Er bil­dete sich ein, dass ich wel­che an­hät­te. Aber glück­­licher­weise ­hatte ich dran ge­dacht, sie ab­zu­tun. Er er­zählte mir von seinen Kin­dern, und dann hat er mich bis zum Klub­ein­gang ge­bracht. Er kennt dich.«

»Ich wünsch­te, du hät­test ihn mir ge­zeigt. Ich ahne nicht, wer es ist.«

»Er kam nicht mit in den Klub. Er ­sagte, er dür­fe nicht mit hi­nein.«

Ron­ny ging end­lich ein Licht auf. »Ach du lie­ber Him­mel«, rief er, »das war doch nicht etwa ein Mo­ham­me­da­ner? Wa­rum hast du mir nur um al­les in der Welt nicht er­zählt, dass du dich mit ­einem Ein­ge­bo­re­nen un­ter­hal­ten hast? Ich war völ­lig auf dem Holz­weg.«

»Ein Mo­ham­me­da­ner! Das ist ja groß­ar­tig«, rief Miss Ques­ted aus. »Ron­ny, sieht das deiner Mut­ter nicht ganz ähn­lich? Wir re­den fort­wäh­rend da­von, dass wir et­was vom wirk­­lichen In­di­en se­hen wol­len, und sie geht hin und sieht es. Und dann ver­gisst sie, dass sie es ge­se­hen hat!«

Aber Ron­ny fühlte sich be­un­ru­higt. Nach den Wor­ten seiner Mut­ter ­hatte er an­ge­nom­men, dass der Arzt der jun­ge Mug­gins vom an­de­ren Ufer des Gan­ges war, und er ­hatte be­reits alle ka­me­rad­schaft­­lichen Ge­füh­le ge­zückt. Was für ­eine Ver­wechs­lung! Wa­rum ­hatte sie nicht we­nigs­tens mit ­einem Ne­ben­ton in der Stim­me an­ge­deu­tet, dass sie von ­einem In­der sprach! Ge­reizt und ein we­nig dik­ta­to­risch, be­gann er sie zu ver­hö­ren: »Er rief dir in der Mo­schee et­was zu, wie? In wel­chem Ton? Un­ver­schämt? Was ­hatte er zu so spä­ter Stun­de dort zu su­chen? Nein, es ist nicht die Stun­de ih­res Ge­bets.« Das Letz­te­re war die Ant­wort auf ­eine Fra­ge Miss Quest­eds, die sich ih­rer­seits un­ge­mein in­te­res­siert ­zeig­te. »Er hat dich also we­gen deiner Schu­he zur Rede ge­stellt. Dann war es Un­ver­schämt­heit. Ein al­ter Kniff. Ich wünsch­te, du hät­test sie an­be­hal­ten.«

»Ja, un­ver­schämt war es schon, aber ein Kniff? Er war mit den Ner­ven so ziem­lich am Ende – das konnte ich am Ton seiner Stim­me er­ken­nen. So­bald ich ant­wor­te­te, be­nahm er sich völ­lig an­ders.«

»Du hät­test ihm über­haupt nicht ant­wor­ten sol­len.«

»Na hör mal«, warf die lo­gi­sche jun­ge Dame ein, »wür­dest du nicht zum Beispiel von ­einem Mo­ham­me­da­ner er­war­ten, dass er dir ant­wor­te­te, wenn du ihn da­rum bä­test, in der Kir­che seinen Fez ab­zu­neh­men?«

»Das ist et­was an­de­res, et­was völ­lig an­de­res. Das kannst du nicht ver­ste­hen.«

»Nein, ich weiß, aber ich möchte es gern ver­ste­hen. Wo­rin liegt denn, bit­te, der Un­ter­schied?«

Wenn sie sich doch nicht im­mer ein­mi­schen woll­te! Was seine Mut­ter be­traf, so war von ihr nicht all­zu viel zu be­fürch­ten – sie war nichts als ­eine Tou­ris­tin, Reise­be­gleite­rin, die je­der­zeit wie­der nach Eng­land zu­rück­keh­ren durfte und von de­ren Ein­drü­cken auch gar nicht viel ab­hing. Aber mit Ad­ela, die ernst­lich er­wog, ihr weite­res Le­ben in die­sem Land zu ver­brin­gen, ver­hielt es sich weit­aus be­denk­­licher. Wie läs­tig, wenn sie von vorn­her­ein mit ­einer fal­schen Ein­stel­lung an die gan­ze Ein­ge­bo­re­nen­fra­ge he­ran­gin­ge! Die Stute zum Hal­ten brin­gend, ­sagte er: »Da ist euer Gan­ges.«

Die Auf­merk­sam­keit der beiden Frau­en war tat­säch­lich ab­ge­lenkt. Vor ih­nen in der Tie­fe war plötz­lich ein selt­sa­mer Schim­mer sicht­bar ge­wor­den, der we­der mit dem Was­ser noch mit dem Mond­licht zu tun ­hatte – er stand wie ­eine Leucht­gar­be auf dem Feld des Dunk­els. Ron­ny er­klär­te, dass das die Stel­le sei, an der die neue Sand­bank sich bil­de­te, dass das schwärz­­liche Ge­kräu­sel am obe­ren Ende der Sand sei, und dass in ih­rer Nähe auch die Leichen aus Ben­ares her­ab­trie­ben – oder viel­mehr he­rab­treiben wür­den, wenn die Kro­ko­di­le es zu­lie­ßen. »Von ­einer Leiche ist nicht mehr viel üb­rig, wenn sie nach Tschan­dra­pur ge­langt.«

»Auch Kro­ko­di­le im Fluss, wie schreck­lich«, mur­melte die Mut­ter. Die jun­gen Leute wech­sel­ten rasch ­einen Blick und ­lä­chel­ten. Es be­lus­tigte sie stets ein we­nig, die alte Dame von sol­chen An­wand­lun­gen leisen Schaud­ers heim­ge­sucht zu se­hen, und da­mit war die Ein­tracht zwi­schen ih­nen wie­der­her­ge­stellt. »Was für ein schreck­­licher Fluss«, fuhr Mrs. Moo­re fort. »Was für ein herr­­licher Fluss!« Sie seufz­te. Der Schim­mer war be­reits am Ver­blas­sen, viel­leicht, weil mit Mond oder mit Sand ­eine Ver­än­de­rung vor sich ge­gan­gen war. Bald war es wohl auch um die hel­le Gar­be ge­sche­hen, und nichts an­de­res wür­de von ihr mehr ver­bleiben als ein win­zi­ger zit­tern­der Licht­kreis, wie ein­ge­glüht in die flu­ten­de Lee­re. Die Frau­en über­leg­ten, ob sie den Wech­sel der Be­leuch­tung noch ab­war­ten soll­ten oder nicht, wäh­rend rings um sie her die Stil­le be­reits in kleine Flacker­laute von Un­ru­he zer­brö­ckelte und die Stute zu zit­tern be­gann. Um ih­ret­wil­len be­schlos­sen sie, nicht län­ger zu war­ten. Sie fuh­ren gleich weiter bis zum Bun­ga­low des Rich­ters, wo Miss Ques­ted schla­fen ging und Mrs. Moo­re noch ­eine kur­ze Un­ter­re­dung mit ih­rem Sohn ­hatte.

Er wollte noch mehr von dem mo­ham­me­da­ni­schen Arzt wis­sen, den sie in der Mo­schee ge­trof­fen ­hatte. Es ge­hörte zu seinen Pflich­ten, ver­däch­ti­ge In­di­vi­du­en an­zu­zeigen, und mög­­licher­weise war es ir­gend­einer der zweifel­haf­ten ha­kim aus dem Ba­sar­vier­tel, der auf ein Op­fer ge­lau­ert ­hatte. Als Mrs. Moo­re ihm be­rich­te­te, dass es je­mand war, der im Minto-Hos­pi­tal an­ge­stellt war, at­mete er er­leich­tert auf und be­merk­te, der Bur­sche müs­se Aziz heißen, und er sei ein­wand­frei, völ­lig ein­wand­frei.

»Aziz – was für ein reizen­der Name!«

»Ihr beide kamt also ins Ge­spräch. Hat­test du den Ein­druck, dass er freund­lich ge­son­nen war?«

Ohne die Be­deu­tung die­ser Fra­ge zu er­mes­sen, ant­wor­tete sie:

»O ja, das schon, zu­min­dest nach ­einer kleinen Weile.«

»Ich meine, ganz all­ge­mein. Schien er uns gel­ten zu las­sen – die bru­ta­len Er­o­be­rer, die blut­lo­sen Bü­ro­kra­ten – und wie man uns so nennt?«

»O ja, ich glau­be schon – bloß die Cal­len­dars nicht. Für die Cal­len­dars hat er nicht das Ge­ringste üb­rig.«

 

»Oh. Das hat er dir ohne alle Um­schweife ge­sagt, wie? Das wird den Ma­jor in­te­res­sie­ren. Ich über­le­ge nur, wo­rauf er mit seiner Be­mer­kung hi­naus­woll­te.«

»Ron­ny, Ron­ny, das wirst du doch Ma­jor Cal­len­dar um Him­mels wil­len nicht weiter­be­rich­ten?«

»O doch. Ich muss es so­gar.«

»Aber lie­ber Jun­ge –.«

»Wenn der Ma­jor er­füh­re, dass ein mir un­ter­stell­ter In­der schlecht von mir spricht, wür­de er es mir auch gleich wie­der­erzäh­len.«

»Aber lie­ber Jun­ge – ­eine Pri­vat­un­ter­hal­tung!«

»Nichts ist in In­di­en pri­vat. Das wusste Aziz ge­nau, als er so of­fen sprach. Mach dir also keine Ge­dan­ken. Er muss für seine Äu­ße­rung ir­gend­ein be­stimm­tes Mo­tiv ge­habt ha­ben. Ich bin so­gar über­zeugt, dass die Be­mer­kung nicht ehr­lich ge­meint war.«

»Wie­so denn nicht ehr­lich ge­meint?«

»Er putzte den Ma­jor nur he­run­ter, um Ein­druck auf dich zu ma­chen.«

»Lie­ber – ich weiß wirk­lich nicht, wie du das meinst.«

»Es ist der neu­este Kniff des ge­bil­de­ten Ein­ge­bo­re­nen. Frü­her pfleg­ten sie ein­fach zu katz­bu­ckeln, aber die jün­ge­re Ge­ne­ra­tion legt es da­rauf an, männ­­liche Un­ab­hän­gig­keit zu be­kun­den. Sie sind auch der Meinung, dass man auf die­se Weise bei ­einem der he­rum­reisen­den Par­la­ments­mit­glie­der mehr he­raus­schla­gen kann. Aber ob ein Ein­ge­bo­re­ner an­gibt oder win­selt: im­mer steckt hin­ter seinen Be­mer­kun­gen noch et­was an­de­res, ir­gend­et­was, und sei es auch nur die Ab­sicht, sein iz­zat zu ver­stär­ken – auf gut Eng­lisch, Ein­druck zu schin­den. Na­tür­lich gibt es Aus­nah­men.«

»Bei uns zu Hau­se pfleg­test du Leute nie mit sol­cher Elle zu mes­sen.«

»In­di­en ist nicht Zu­ Hau­se«, ent­geg­nete er et­was schroff. Aber um seine Mut­ter zum Schweigen zu brin­gen, ­hatte er sich ge­wis­ser Wen­dun­gen und Ar­gu­mente be­dient, die er äl­te­ren Be­am­ten ab­ge­lauscht ­hatte. Er fühlte sich seiner selbst nicht ganz si­cher. Als er ­sagte: »Na­tür­lich gibt es Aus­nah­men«, ­hatte er Tur­ton zi­tiert, wäh­rend die Wen­dung »das iz­zat ver­stär­ken« auf Ma­jor Cal­len­dar selbst zu­rück­ging. Beides be­währte sich und war auch bei den Klub­un­ter­hal­tun­gen gän­gi­ge Mün­ze. Aber Mrs. Moo­re war klug ge­nug, bei Ron­ny das Selbst­be­ob­ach­tete vom ­Nach­ge­re­deten zu un­ter­scheiden, und es be­stand die Ge­fahr, dass sie konk­rete Beispie­le von ihm ver­lan­gen wür­de.

Aber sie ­sagte le­dig­lich: »Es lässt sich nicht leug­nen, dass al­les das recht ver­nünf­tig klingt. Trotz­dem darfst du un­ter keinen Um­stän­den Ma­jor Cal­len­dar auch nur das Ge­ringste von dem weiter­ge­ben, was ich dir von Dr. Aziz er­zählt habe.«

Ron­ny ­hatte das Ge­fühl, seiner Kaste ge­gen­über nicht ganz lo­yal zu han­deln, trotz­dem ver­sprach er seiner Mut­ter, wo­rum sie ihn bat. Nur fügte er hin­zu: »Zum Aus­gleich sprich du auch bitte nicht mit Ad­ela über Aziz.«

»Nicht über ihn? Wie­so?«

»Ach, du lie­ber Gott, Mut­ter, da wä­ren wir nun glück­lich wie­der am Aus­gangs­punkt an­ge­langt – ich kann dir wirk­lich nicht al­les er­klä­ren. Ich möchte nicht, dass Ad­ela sich die ge­rings­ten Ge­dan­ken macht – das ist der ein­zi­ge Grund. Sie wür­de sich gleich die Fra­ge vor­le­gen, ob wir die Ein­ge­bo­re­nen rich­tig be­han­deln – und noch mehr sol­chen Un­sinn.«

»Aber sie ist ja eigent­lich nach In­di­en ge­kom­men, um sich Ge­dan­ken zu ma­chen – ge­ra­de da­rum ist sie ja hier. Sie hat auf dem Schiff im­mer wie­der da­von ge­spro­chen. Wir hat­ten ­eine län­ge­re Un­ter­hal­tung, als wir in Aden zu­sam­men an Land gin­gen. Sie hat dir, wie sie es aus­drückt, bis­her nur beim Spiel zu­ge­se­hen, aber noch nicht bei der Ar­beit, und sie ­hatte das Ge­fühl, an Ort und Stel­le zu­nächst ein we­nig Um­schau hal­ten zu müs­sen, be­vor sie sich end­gül­tig ent­scheidet – und be­vor du dich ent­scheidest. Sie möchte al­len und al­lem ge­recht wer­den.«

»Ich weiß«, ­sagte er et­was mut­los.

Der Beiklang von Dring­lich­keit in seiner Stim­me machte ihn für seine Mut­ter wie­der zum kleinen Jun­gen, der un­be­dingt be­kom­men muss­te, was er ha­ben woll­te, und sie ver­sprach zu tun, wo­rum er ge­be­ten ­hatte, und beide ga­ben sich ­einen Gu­te­nacht­kuss. Er ­hatte ihr je­doch nicht ver­bo­ten, über Aziz nach­zu­den­ken, und eben das tat sie, so­bald sie sich in ih­rem Zim­mer be­fand. Im Licht der Er­klä­rung ih­res Soh­nes ließ sie die Be­geg­nung in der Mo­schee noch ein­mal an sich vo­rü­ber­zie­hen, um he­raus­zu­fin­den, wes­sen Ein­druck der rich­ti­ge sei. Ja, es ließ sich schon et­was durch­aus Un­er­freu­­liches da­raus he­raus­le­sen. Der Arzt ­hatte sie zu­nächst an­ge­faucht, ­hatte er­klärt, Mrs. Cal­len­dar wäre nett, und ­hatte dann – nach­dem er sich ver­ge­wis­sert ­hatte, dass er sich auf si­che­rem Ge­län­de be­fand – den Ton ge­wech­selt. Er ­hatte über die Krän­kun­gen ge­jam­mert, die er ­hatte aus­ste­hen müs­sen, und sich zu­gleich ihr, Mrs. Moo­re, ge­gen­über als Be­schüt­zer auf­ge­spielt, ­hatte in ­einem ein­zi­gen Satz ein Dut­zend wi­der­spre­chen­der Fest­stel­lun­gen ge­macht, war zu­dring­lich, eitel und im Gan­zen wohl auch nicht ver­trau­en­er­we­ckend ge­we­sen. Ja, das stimmte schon al­les – aber was für ein fal­sches Bild er­gab es am Ende! Was an Aziz wirk­lich le­ben­dig war, war völ­lig da­raus ent­schwun­den.

Als sie ih­ren Man­tel auf­hän­gen woll­te, ent­deckte sie, dass die Spitze des Gar­de­ro­ben­ha­kens von ­einer kleinen Wes­pe ein­ge­nom­men war. Sie ­hatte die­se be­son­de­re Wes­pe oder ­eine ih­rer An­ver­wand­ten schon am Tage be­merkt. An­ders als die eng­­lischen Wes­pen hat­ten die in­di­schen lan­ge gel­be Beine, die sie beim Flie­gen he­rab­hän­gen lie­ßen. Viel­leicht ver­wech­selte die­se Wes­pe den Ha­ken mit ­einem Zweig – kein Tier in In­di­en kann zwi­schen Au­ßen- und In­nen­raum un­ter­scheiden. Fle­der­mäu­se, Rat­ten, Vö­gel, In­sek­ten le­gen sich kaum da­von Re­chen­schaft ab, ob sie im In­nern ­eines Hau­ses nis­ten oder im Freien. Für sie ge­hört al­les zu ­einem ewi­gen Dschun­gel, das ab­wech­selnd Häu­ser und Bäu­me, Bäu­me und Häu­ser her­vor­treibt. Da saß also die kleine Wes­pe schla­fend auf ih­rem Ha­ken, wäh­rend drun­ten in der Ebe­ne die Scha­ka­le heu­lend ihre Ge­lüste kund­ta­ten und gleich­zeitig das Dröh­nen von Trom­meln er­scholl.

»Du hüb­sche Kleine«, ­sagte Mrs. Moo­re zu der Wes­pe. Die An­ge­re­dete schlief un­ge­stört weiter, aber Mrs. Moo­res Stim­me schwang fort von ihr, hi­naus, die ver­stö­ren­den Laute der Nacht noch zu meh­ren.

4

Der Ver­wal­tungs­di­rek­tor hielt Wort. Am nächs­ten Vor­mit­tag ließ er zahl­reichen hö­her­ge­stell­ten In­dern der Um­ge­bung Ein­la­dungs­kar­ten zu­ge­hen, auf de­nen zu le­sen stand, dass er sie am fol­gen­den Diens­tag zwi­schen fünf und sie­ben Uhr nach­mit­tags im Gar­ten des Klub­hau­ses er­warte und dass auch Mrs. Tur­ton sich freu­en wer­de, alle die­je­ni­gen ih­rer weib­­lichen An­ge­hö­ri­gen zu be­grü­ßen, die sich nicht mehr an die Vor­schrift des pur­dah ge­bun­den fühl­ten. Die­ser Schritt rief all­ge­meine Auf­re­gung her­vor und wur­de in ver­schie­de­nen Sphä­ren leb­haft er­ör­tert.

»Das geht na­tür­lich auf ­eine An­ord­nung des Pro­vinz­statt­hal­ters zu­rück«, lau­tete Mah­moud Alis Er­klä­rung. »Tur­ton wür­de auf eige­ne Faust so et­was nie­mals ris­kie­ren. Die ganz ho­hen Be­am­ten sind an­ders: sie ha­ben für uns Ver­ständ­nis, der Vi­ze­kö­nig hat Ver­ständ­nis, und sie wol­len uns an­stän­dig be­han­delt se­hen. Nur kom­men sie nicht oft ge­nug her und le­ben zu weit ent­fernt. In­zwi­schen –«.

»Es ist nicht weiter schwie­rig, aus der Fer­ne Ver­ständ­nis zu be­zeigen«, er­klärte ein al­ter voll­bär­ti­ger Mann. »Ich schät­ze ein freund­­liches Wort umso hö­her, je dich­ter es vor meinem Ohr ge­spro­chen wird. Und das hat Mr. Tur­ton ge­tan – aus wel­chem Grund auch im­mer. Er spricht, und wir hö­ren. Ich sehe nicht ein, wa­rum wir noch län­ger da­rü­ber dis­ku­tie­ren sol­len.« Wo­rauf ein paar Zi­tate aus dem Ko­ran folg­ten.

»Leider ver­fü­gen wir an­de­ren nicht über deine Fried­fer­tig­keit, Na­wab Baha­dur, und über deine Ge­lehr­sam­keit auch nicht.«

»Der Pro­vinz­statt­hal­ter mag mir per­sön­lich ge­wo­gen sein, aber ich ma­che ihm auch meiner­seits das Le­ben nicht schwer. Wie geht es Ih­nen, Na­wab Baha­dur? – Dan­ke der Nach­fra­ge, Sir Gil­bert, recht gut. Und wie geht es Ih­nen? – Und das wäre dann auch al­les. Aber da­für kann ich ein Sta­chel in Mr. Tur­tons Fleisch sein, und wenn er mich zu sich bit­tet, neh­me ich seine Ein­la­dung an. Ich wer­de so­gar eigens von Dil­ku­sha in die Stadt dazu kom­men, auch wenn an­de­re Ab­ma­chun­gen dann ver­tagt wer­den müs­sen.«

»Wo­mit Sie sich leider selbst et­was ver­ge­ben«, ­sagte plötz­lich ein kleiner Schwarz­haa­ri­ger.

Ein Ge­mur­mel all­ge­meiner Miss­bil­­ligung er­hob sich. Wer war denn die­ser un­ge­bil­dete Em­por­kömm­ling, der sich er­dreis­te­te, den füh­ren­den mo­ham­me­da­ni­schen Grund­be­sit­zer der Ge­gend zu kri­ti­sie­ren? Mah­moud Ali teilte zwar seine Meinung, fühlte sich aber ver­pflich­tet, ihm zu wi­der­spre­chen. »Mr. Ram Chand«, ­sagte er, mit der Hand an der Hüfte steif vor­wärts wip­pend.

»Mr. Mah­moud Ali!«

»Mr. Ram Chand, der Na­wab Baha­dur kann wohl selbst ent­scheiden, wann und wie man sich et­was ver­gibt, ohne dass wir ihm da­für erst die Maß­stä­be lie­fern.«

»Ich glau­be kaum, dass ich mir et­was ver­ge­ben wer­de«, ­sagte der Na­wab Baha­dur in durch­aus freund­­lichem Ton, zu Mr. Ram Chand ge­wandt. Ge­ra­de weil die­ser un­höf­lich ge­we­sen war, ­hatte er ihn vor den Fol­gen seines Ver­hal­tens zu schüt­zen. Ei­nen Au­gen­blick lang war er ver­sucht ge­we­sen zu ant­wor­ten: »Ja, ich wer­de mir wohl et­was ver­ge­ben«, aber die­se Ent­geg­nung ver­warf er als zu we­nig rück­sichts­voll. »Ich kann beim bes­ten Wil­len nicht ein­se­hen, wie­so wir uns et­was ver­ge­ben soll­ten. Wirk­lich, das kann ich nicht ein­se­hen. Die Ein­la­dung ist doch höchst huld­voll sti­­lisiert.« In der Über­zeu­gung, dass er die ge­sell­schaft­­liche Kluft zwi­schen sich und seinen Zu­hö­rern nicht noch mehr ver­min­dern durf­te, ließ er sich von seinem ele­gan­ten En­kel, den er stets um sich zu ha­ben pfleg­te, den Wa­gen ho­len. Dann wie­der­holte er noch ein­mal al­les, was er zu­vor schon ge­sagt ­hatte – nur et­was aus­führ­­licher –, und schloss mit den Wor­ten: »Bis Diens­tag also, meine Her­ren – ich hof­fe, wir wer­den uns alle im Blu­men­gar­ten des Klubs wie­der­se­hen.«

Die­ser Meinung kam ein be­son­de­res Schwer­ge­wicht zu. Der Na­wab Baha­dur war ein Groß­grund­be­sit­zer und Wohl­tä­ter, der es we­der an men­schen­freund­­licher Ge­sin­nung noch an Ent­schluss­kraft feh­len ließ. Bei al­len Is­lam­ge­mein­den der Pro­vinz stand sein Name in ho­hem An­se­hen. Er war ein groß­mü­ti­ger Feind und ein zu­ver­läs­si­ger Freund, und seine Gast­lich­keit war ge­ra­de­zu sprich­wört­lich: »Schen­ke, aber leihe nicht – wer wür­de es dir nach dem Tode noch dan­ken?«, lau­tete seine Lieb­lings­de­vi­se. Er hielt es für ver­werf­lich, im Voll­be­sitz des Reich­tums da­hin­zu­ge­hen. Wenn also ­eine sol­che Per­sön­lich­keit be­reit war, aus fünf­zig Ki­lo­me­ter Ent­fer­nung mit dem Wa­gen zu kom­men, um dem Ver­wal­tungs­di­rek­tor die Hand zu schüt­teln, dann rückte die gan­ze Ver­an­stal­tung in ein an­de­res Licht. Denn er ge­hörte nicht zu den Be­rühmt­heiten, die die Nach­richt ver­breiten las­sen, sie wür­den sich auf der und der Ge­sell­schaft höchst­per­sön­lich ein­fin­den, die dann aber im letz­ten Au­gen­blick aus­bleiben und das kleine­re Kropp­zeug al­lein im Netz zap­peln las­sen. Wenn er ­sagte, er wür­de kom­men, dann kam er auch. Nie­mals täusch­te, ent­täuschte er seine An­hän­ger. Die Män­ner, de­nen er eben ­einen Vor­trag ge­hal­ten ­hatte, re­de­ten einan­der nun auch ih­rer­seits leb­haft zu, an der ge­plan­ten Ge­sell­schaft teil­zu­neh­men, wenn­gleich sie im Stil­len über­zeugt wa­ren, dass sein Rat un­ver­stän­dig war.

Er ­hatte in dem kleinen ge­schlos­se­nen Raum in der Nähe des Ge­richts ge­spro­chen, in dem die An­wälte und K­lien­ten war­te­ten. Die K­lien­ten, die ih­rer­seits auf An­wälte war­te­ten, hock­ten drau­ßen im Staub. Sie hat­ten von Mr. Tur­ton keine Ein­la­dung er­hal­ten, aber auch tief un­ter ih­nen gab es noch Zahl­lo­se, Leu­te, die nur ­einen Hüft­schurz, an­de­re, die nicht ein­mal so ­viel tru­gen, und die ihr gan­zes Le­ben da­mit ver­brach­ten, vor ­einer schar­lach­rot ge­kleide­ten Pup­pe mit zwei höl­zer­nen Stäb­chen ein Klap­per­ge­räusch zu voll­füh­ren, mensch­­liche We­sen, die, in im­mer weite­ren und tie­fe­ren Ab­stu­fun­gen, auch im­mer weiter dem Ge­sichts­kreis der Ge­bil­de­ten ent­gleiten, bis keine ir­di­sche Ein­la­dung sie mehr zu er­fas­sen ver­mag.

 

Viel­leicht soll­ten alle Ein­la­dun­gen über­haupt vom Him­mel selbst aus­ge­hen, und viel­leicht soll­ten die Men­schen lie­ber auf den Ver­such ver­zich­ten, ­eine in­ne­re Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit vor­zu­täu­schen – all­zu leicht er­weitern sie nur die zwi­schen ih­nen be­ste­hen­de Kluft. Auf je­den Fall wa­ren die­ser Meinung der alte Mr. Grays­ford und der jun­ge Mr. Sor­ley, die beiden ein­zi­gen Mis­si­o­na­re, die hin­ter den Schlacht­häu­sern wohn­ten, bei Reisen stets drit­ter Klas­se fuh­ren und nie­mals im Klub er­schie­nen. In un­se­res Va­ters Hau­se sind vie­le Woh­nun­gen, lehr­ten sie, und nur dort wür­den auch die un­ver­ein­bar-man­nig­fal­ti­gen Ar­ten der Men­schen­gat­tung will­kom­men ge­heißen und ge­speist. Auf Seiner Ve­ran­da sollte von den Die­nern keiner je ab­ge­wie­sen wer­den, ob weiß- oder dun­kel­häu­tig, und keiner sollte zum Ste­hen ver­ur­teilt sein, so­fern er sich nur mit lie­ben­dem Her­zen nä­her­te. Und wa­rum sollte gött­­liche Gast­freund­lich­keit es bei den Men­schen be­wen­den las­sen? Man brauch­te, ganz un­ter­tä­nig sei es be­merkt, nur an die Af­fen zu den­ken. Sollte es nicht auch für die Af­fen noch ir­gend­eine Woh­nung ge­ben? Nein, meinte der alte Mr. Grays­ford, aber Mr. Sor­ley, der fort­schritt­lich ge­sinnt war, ­sagte ja. Er ­konnte keinen Grund da­für se­hen, wa­rum nicht auch den Af­fen Mit­an­teil an der ewi­gen Se­lig­keit ver­gönnt sein soll­te, und er ­hatte sich in die­sem Sin­ne auch be­freun­de­ten Hin­dus ge­gen­über recht ver­ständ­nis­voll aus­ge­las­sen. Und die Scha­ka­le? Von den Scha­ka­len hielt Mr. Sor­ley nicht ganz so ­viel, aber da die Güte Got­tes ja un­er­mess­lich war, so mochte sie sich auf alle Ar­ten von Säu­ge­tie­ren er­stre­cken. Und die Wes­pen? Beim Ab­stieg zu den Wes­pen war Mr. Sor­ley nicht ganz ge­heu­er zu­mu­te, und wenn das Ge­spräch da­rauf kam, fühlte er sich stets ge­neigt, das The­ma zu wech­seln. Und Oran­gen, Kak­teen, Kris­tal­le und Stra­ßen­schmutz? Und die Bak­te­ri­en, die Mr. Sor­ley in seinem In­nern be­her­berg­te? Nein, nein, so­ weit sollte man doch lie­ber nicht ge­hen. Ir­gend­wel­che Ge­schöp­fe muss­ten von un­se­rem himm­­lischen Beisam­men­sein schon aus­ge­schlos­sen wer­den – was sollte sonst für uns selbst üb­rig­ bleiben?

5

Die Bridge-Par­ty ver­lief nicht ge­ra­de er­folg­reich – zu­min­dest nicht in dem Sin­ne, in dem Mrs. Moo­re und Miss Ques­ted ­eine Ge­sell­schaft sonst er­folg­reich zu nen­nen ge­wohnt wa­ren. Sie fan­den sich schon sehr früh dazu ein, da die Ge­sell­schaft ja ih­nen zu Eh­ren ge­ge­ben wur­de. Aber die meis­ten der in­di­schen Gäste hat­ten sich noch frü­her ein­ge­fun­den und stan­den auf der an­de­ren Seite der Ten­nis­plät­ze he­rum, ohne sich von der Stel­le zu rüh­ren.

»Es ist eben erst fünf«, ­sagte Mrs. Tur­ton. »Mein Mann wird gleich aus dem Amt zu­rück sein und das Gan­ze in Schwung brin­gen. Ich habe keine Ah­nung, wie das ge­sche­hen soll. Wir ha­ben bis­her noch nie ­eine sol­che Ge­sell­schaft im Klub ge­ge­ben. Mr. ­Hea­slop, wenn ich selbst nicht mehr un­ter den Le­ben­den ­weile: wer­den Sie dann noch weiter Ge­sell­schaf­ten sol­cher Art ver­an­stal­ten? Der alte Typ des Bur­rah Sah­ib wür­de sich im Gra­be um­dre­hen, wenn er je da­von zu hö­ren be­kä­me.«

Ron­ny lachte ehr­er­bie­tig. »Du woll­test et­was Nicht-nur-Ma­le­ri­sches zu se­hen be­kom­men«, ­sagte er zu Miss Ques­ted, »und da hast du es nun. Was hältst du von un­se­rem ari­schen Bru­der, wenn er dir in Tro­pen­helm und kur­zen Ga­ma­schen ent­ge­gen­tritt?«

We­der die An­ge­re­dete noch Ron­nys Mut­ter fühl­ten sich be­mü­ßigt zu ant­wor­ten. Sie lie­ßen ­einen et­was be­küm­mer­ten Blick über den Ten­nis­platz schweifen. Nein, das war si­cher nicht ma­le­risch. Der Osten ­hatte sich seiner ir­di­schen Herr­lich­keit ent­äu­ßert und war beim Ab­stieg in ein Tal be­grif­fen, des­sen an­de­re Seite vor­erst noch nicht er­kenn­bar war.

»Die Haupt­sa­che ist, sich im­mer wie­der vor Au­gen zu hal­ten, dass keiner der hier An­we­sen­den wirk­lich zählt. Und um­ge­kehrt sind die, auf die es an­kommt, alle nicht hier – habe ich nicht recht, Mrs. Tur­ton?«

»Völ­lig recht«, ­sagte die hohe Dame, sich zu­rück­leh­nend. Sie »sparte sich«, wie sie selbst es aus­zu­drü­cken be­lieb­te, »auf« – nicht etwa für ir­gend­ein an je­nem Nach­mit­tag oder auch nur in je­ner Wo­che be­vor­ste­hen­des Er­eig­nis, son­dern für ­eine künf­ti­ge Ge­le­gen­heit un­be­stimm­ten Da­tums, bei der ­einer der höchs­ten Be­am­ten zu ihr zu Be­such kom­men und ihre ge­sell­schaft­­lichen Ta­lente auf die Pro­be stel­len wür­de. Fast je­des Mal war ihr öf­fent­­liches Auf­tre­ten durch ­eine sol­che Art der Zu­rück­hal­tung ge­kenn­zeichnet.

Ih­rer Zu­stim­mung nun­mehr si­cher, fuhr Ron­ny fort: »Die ge­bil­de­ten In­der wer­den uns im Fall ­einer Aus­einan­der­set­zung gar nichts nüt­ze sein. Es lohnt ein­fach nicht, sie fried­lich zu stim­men – und eben da­rum zäh­len sie auch nicht mit. Die meis­ten der Leu­te, die du hier vor dir siehst, sind im Grun­de ih­res Her­zens Re­bel­len, und die üb­ri­gen Schlapp­schwän­ze. Der Mann, der in In­di­en den Bo­den be­a­ckert – das ist ein an­drer Kerl. Und auch der Afg­han ist ein rich­ti­ger Mann. Aber die­se Leute hier – bil­de dir bitte nicht ein, dass sie In­di­en ver­kör­pern.« Er wies auf die un­ge­glie­derte Mas­se hin­ter dem Ten­nis­platz, die ge­le­gent­lich mit dem Auf­blit­zen ­eines Klemm­ers und der Schlen­ker­be­we­gung ­eines Fu­ßes an­zu­deu­ten schien, dass sie seiner hoch­nä­si­gen Be­mer­kun­gen ge­wahr wur­de. Eu­ro­pä­i­sche Kleidung war wie Aus­satz über sie ge­kom­men. We­ni­ge wa­ren ihr völ­lig ver­fal­len, aber nie­mand war ganz von ihr ver­schont ge­blie­ben. So­bald Ron­ny zu Ende ge­spro­chen ­hatte, trat zu beiden Seiten des Ten­nis­plat­zes völ­­lige Stil­le ein. Im­mer­hin ge­sell­ten sich der eng­­lischen Grup­pe noch ein paar weib­­liche Gäste zu, de­ren Wor­te, kaum ge­äu­ßert, im ­Lee­ren zu ver­hal­len schie­nen. Über den beiden La­gern schweb­ten, gleich­sam un­par­teiisch, ein paar Pa­pier­dra­chen, über die der mas­si­ge Schat­ten ­eines Geiers glitt, und mit ­einer al­les an­de­re noch be­schä­men­den Un­par­teilich­keit ließ der keines­wegs tief­far­bi­ge, son­dern durch­sich­tig schim­mern­de Him­mel rings um­her sein Licht her­nie­der­strö­men. We­nig wahr­schein­lich, dass da­mit die Hö­hen­fol­ge be­reits an ih­rem Ende an­ge­langt sein soll­te. Musste sich über dem Him­mel nicht noch ein an­de­res deh­nen, das alle ein­zel­nen Him­mel über­wölbte und selbst die­se noch an Un­par­teilich­keit über­trumpf­te? Und da­rü­ber wie­de­rum …

Man un­ter­hielt sich über »Cou­sin Kate«.

Die Eng­län­der hat­ten ver­sucht, auf der Büh­ne ih­ren eige­nen Le­bens­stil wie­der­zu­ge­ben, und sich da­bei als gute eng­­lische Bür­ger kos­tü­miert – die sie ja in Wirk­lich­keit wa­ren. Nächs­tes Jahr woll­ten sie das Lust­spiel »Qua­lity Street« oder das Sing­spiel »The Ye­omen of the Guard« zur Auf­füh­rung brin­gen. Ab­ge­se­hen von die­sem all­jähr­­lichen Ab­ste­cher aber woll­ten sie von der Li­te­ra­tur nicht viel wis­sen. Die Män­ner hat­ten keine Zeit da­für üb­rig, und die Frau­en hiel­ten sich al­lem fern, was sie mit den Män­nern nicht teilen konn­ten. Ihre künst­le­ri­sche Ah­nungs­lo­sig­keit war be­mer­kens­wert, und sie lie­ßen sich auch keine Ge­le­gen­heit ent­ge­hen, sie sich ge­gen­seitig un­ter die Nase zu reiben. Es war die Le­bens­ein­stel­lung der Pub­lic School, die hier in In­di­en viel üp­pi­ger ins Kraut schie­ßen durf­te, als es ihr in Eng­land je­mals hätte ge­lin­gen kön­nen. Wenn von den In­dern zu spre­chen un­in­te­res­sant ge­wor­den war, so galt es als ge­ra­de­zu un­ge­hö­rig, die schö­nen Künste zu er­wäh­nen, und Ron­ny war seiner Mut­ter über den Mund ge­fah­ren, als sie sich nach seiner Brat­sche er­kun­dig­te. Eine Brat­sche war fast et­was Un­wür­di­ges, je­den­falls nicht die Art von Mu­sik­instru­ment, de­ren man in der Öf­fent­lich­keit Er­wäh­nung tun durf­te. Mrs. Moo­re stellte bei sich fest, wie lax und kon­ven­ti­o­nell ihr Sohn im Ur­teil ge­wor­den war. Als sie frü­her ein­mal in Lon­don ge­mein­sam »Cou­sin Kate« auf der Büh­ne ge­se­hen hat­ten, ­hatte er ­eine schnodd­ri­ge Be­mer­kung nach der an­de­ren da­rü­ber ge­macht. Nun gab er, um nie­mand zu krän­ken, vor, das Stück für gut zu hal­ten. Im Lo­kal­blatt war ­eine »un­freund­­liche Be­spre­chung« er­schie­nen – »kein weißer Kri­ti­ker hätte es fer­tig­ge­bracht, so et­was zu schreiben«, ­hatte Mrs. Les­ley be­merkt. Ge­wiss wur­de das Stück ge­rühmt, und eben­so Ins­ze­nie­rung und Dar­stel­lung als Gan­zes, aber da­für fand sich in der Be­spre­chung fol­gen­der Satz: »Wenn Miss Derek in ih­rer Er­scheinung dem Cha­rak­ter ih­rer Rol­le auch aufs Reizendste ge­recht wur­de, so er­man­gelte sie doch der not­wen­di­gen Büh­nen­er­fah­rung und ver­gaß ge­le­gent­lich ih­ren Text.« Die­ser win­zi­ge Hauch von ech­ter Kri­tik ­hatte weit­hin Är­ger­nis er­regt – nicht etwa bei Miss Derek selbst, die durch­aus dick­fel­lig war, wohl aber bei ih­ren Freun­den. Miss Derek ge­hörte nicht mit zu Tschan­dra­pur. Sie weilte auf vier­zehn Tage zu Gast bei den McBry­des, dem Po­­lizeichef und seiner Frau, und war so lie­bens­wür­dig ge­we­sen, im letz­ten Au­gen­blick ­eine bei der Be­set­zung ver­blie­be­ne Lü­cke fül­len zu hel­fen. Was für ­einen Ein­druck von Gast­lich­keit sollte sie aus die­ser Stadt mit sich da­von­tra­gen!