Todesrunen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Corina C. Klengel

Todesrunen

Harzkrimi

Impressum

Corina C. Klengel

ISBN 978-3-947167-08-1

ePub Edition

V1.0 (03/2021)

© 2021 by Corina C. Klengel

Abbildungsnachweise:

Umschlag © Corina C. Klengel | ccklengel.de

Porträt ders Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: mail@harzkrimis.de


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Allgemeiner Hinweis:

Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Prolog


Der gallische König Ambicatus, der das Keltenland tapfer und glücklich regierte, wollte das Land von seiner Überbevölkerung befreien. Er sandte die Söhne seiner Schwester, Bellovesus und Segovesus, auf die Suche nach neuen Wohnsitzen. Das Los verkündete den Willen der Götter: Bellovesus zog in das freundliche Italien und Segovesus erhielt den Hercynischen Wald.

– Sage nach Livius V 33 –

1977

Die Wintersonnenwende sollte Ruhe schaffen – dringend benötigte Ruhe nach den Gräueltaten des vergangenen Jahres. Eines Jahres, in dem sich jede halbwegs vernünftige Fernsehgröße um die Moderation des unverzichtbaren Jahresrückblickes herumdrückte. Niemand mochte zurückschauen auf so viel Gewalt. Es war ein Jahr der Extreme gewesen. Radikale Linke hatten ebenso viel Unrecht geschaffen wie radikale Rechte.

Einzig der Harz durfte sich ein Schmunzeln erlauben, als bekannt wurde, dass die DDR, die mit der Grenze durch das urgermanische Naturschutzgebiet eine schmerzende Wunde gezogen hatte, zehntausend Volkswagen vom Typ Golf bestellte.

Wintersonnenwende – seit Urzeiten feierte man in der Nacht zum 21. Dezember die Rückkehr des Lichts. In der christlich geprägten Welt war das Fest auf den 24. Dezember verschoben worden und hatte den Namen ›Weihnacht‹ bekommen. Doch im Harz, wo sich der alte, an der Natur orientierende Glaube länger gehalten hatte als anderenorts, huldigte man hier und da noch dem Sonnenfest. Auch in diesem Jahr sandte so manches, mit einer Kerze beleuchtetes Fenster der Harzer Holzhäuser die Jahrtausende alte Botschaft in die dunkle Winternacht: Wanderer mögen diesem Licht folgen und hier Schutz vor Odins wilden Horden suchen. Jene, die in der längsten Nacht des Jahres für die Wiederauferstehung des Lichts beteten, gehören zu einer uralten Zunft von Gläubigen, deren Religion bis in die Zeit der stolzen Kelten zurückreicht.

Eine dieser Wintersonnenwendfeiern im Oberharz fiel in diesem Jahr jedoch recht verhalten aus. Das traditionelle Gebäck in Form eines Hirsches – den Keltengott Cernunnos darstellend – blieb fast unberührt liegen. Auch dem Met wurde nur mäßig zugesprochen. Sechs Wochen zuvor, an dem Tag, an dem man im alten Glauben das Neujahrsfest feierte, war eine Altgläubige schmachvoll missbraucht worden. Die junge Frau, die aus tiefster Seele an das Gute im Menschen glaubte, verstand das ›Warum‹ des Verbrechens an ihr nicht. Ihre Sinne, die durch ihre glaubensbedingt besondere Lebensform sensibler waren als bei anderen Menschen, schienen von der Erniedrigung wie gelähmt. So bekam sie nichts von dem mit, was sich an diesem Wintersonnenwendfest um sie herum zusammenbraute. Hätte sie geahnt, was man ihretwegen vorhatte, sie hätte trotz des Kummers versucht, es zu verhindern.

Das Haus, in dem die junge Wicca lebte, stand als eines der letzten ganz oben am Hang von Braunlage, einem schmucken Ort im Oberharz, der im 13. Jahrhundert als Waldsiedlung entstanden war. Trotz der Touristen lebte man in dörflicher Anteilnahme zusammen. Man wusste, die junge, schöne Frau und ihre Mutter kamen nicht von hier, man wusste auch, sie hatten einen anderen Glauben, aber beide waren herzlich in die Gemeinschaft aufgenommen worden.

Die Tat an der jungen Wicca erschütterte die Gemeinschaft und Zorn brach sich Bahn. Kaum beherrschbar. Es war ein Unrecht geschehen. Und wie immer, so zog auch hier ein Unrecht das nächste nach.


Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

– 1. Buch Mose 4 –

Hermann Bordfeld zog die neue Lederjacke am Revers in Form und legte den roséfarbenen Hemdkragen akkurat über den der rehbraunen Jacke. Zufrieden mit dem, was er sah, strich er sich das volle, dunkle Haar nach hinten. Die Koteletten, die sich bis fast zu den Mundwinkeln zogen, gaben dem kantigen Gesicht die Weichheit, die der gängigen Mode entsprach. Obwohl sie nur Halbbrüder waren, sahen sich Hermann und Gerfried verblüffend ähnlich. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, bevor sich Hermann wieder mit seinem Abbild beschäftigte.

Derweil lümmelte Gerfried auf dem abgeschabten Hanssendrehstuhl herum und beobachtete Hermanns Vorbereitungen auf das abendliche Rendezvous. Wie immer hatte er das Gefühl, dass Hermann ihm etwas wegnahm. Vielleicht rührte das daher, dass Hermanns Mutter mit dem Vater der beiden verheiratet gewesen war, im Gegensatz zu Gerfrieds Mama. Obwohl sein Vater ihn adoptiert hatte und er seinen Namen trug, kennzeichnete eine immerwährende Eifersucht die Beziehung zwischen den beiden Brüdern. Gerfried ließ keine Möglichkeit ungenutzt, seinen um nur wenige Tage jüngeren Halbbruder mit Blicken, Gesten oder Worten zu triezen. Er wusste, wie sehr sich sein Bruder über ihre verblüffende Ähnlichkeit ärgerte. Während Hermann stets um Individualität bemüht war, kopierte Gerfried seit vielen Jahren hartnäckig Kleidungsstil und Frisur seines Bruders, um sich dann königlich über dessen Zorn zu amüsieren.

Ihre Mütter waren Schwestern gewesen. Seit Gerfried und Hermann auf der Welt waren, hatte ihr Vater die beiden Jungen immer wieder aufgestachelt und gegeneinander gehetzt, um sie zu stählen und um herauszufinden, wer von ihnen der Bessere war. So waren die beiden zu hervorragenden Kämpfern geworden. Kämpfer, die eine Organisation wie der Orden brauchte und schätzte.

Gerfried streckte sich und fuhr mit den Fingern der linken Hand sachte über die frische Tätowierung an seinem rechten Arm, die noch etwas juckte. Nach außen hin widmete er sich wieder dem kleinen Schwarzweißfernseher in der Ecke des gemeinsamen Appartements. Er belächelte den Kommissar mit der unvorteilhaften Brille und dem Trenchcoat, doch sein Blick huschte immer wieder zu seinem Bruder zurück. Etwas hatte sich an ihm verändert. War dieses Mädchen der Grund dafür?

Gönnerhaft bemerkte Gerfried: »Zeig ihr nicht so deutlich, dass du es ernst meinst, sonst bist du die Kleine gleich los.«

»Halt die Klappe. Was weißt denn du schon«, schnappte Hermann.

Gerfried hob erstaunt eine Augenbraue. Hermann verlor selten die Kontrolle über seine Gefühle. War hier tatsächlich etwas im Gange, was nicht sein durfte?

Die Organisation hatte Hermann aufgetragen, die Hexe, die so viel über die Harzer Geschichte herausgefunden hatte, als Informationsquelle anzuzapfen. Er sollte das Mädchen, das dem sagenhaften Artefakt nähergekommen war als jeder andere, mit seinem Charme einwickeln. Gelänge es Hermann tatsächlich, das Artefakt zu finden, so würde er im Orden unweigerlich aufsteigen.

Auch Gerfried hatte dem Orden die Treue geschworen, doch die Eifersucht auf seinen Bruder war stärker. Die Aussicht, dass Hermann einen höheren Rang einnehmen würde, schmerzte wie eine schwärende Wunde. Aber auch, dass es Hermann war, der diesen leckeren Käfer bearbeiten durfte, passte ihm gar nicht. Nachdenklich betrachtete er seinen Bruder. Hermann hatte keine Probleme, sich Frauen gefügig zu machen. Sie schätzten die Kombination von Stärke, Charme und einem angenehmen Äußeren. Vorzüge, die auch er selbst zu bieten hatte. Und doch hatte er bei der hübschen Kleinen nicht landen können. Nicht einmal die Ähnlichkeit mit Hermann hatte ihm genutzt. Schnell hatte sie ihn durchschaut und abblitzen lassen. Aus Zorn hatte er dem Mädchen erzählt, warum sein Bruder sie umgarnte. Gerfried biss die Zähne aufeinander, als er an die Ohrfeige dachte, die sie ihm daraufhin versetzt hatte. Die kleine Hexe hatte die Lektion, die er ihr dafür erteilt hatte, mehr als verdient.

»Ist schon ein heißer Feger, die Kleine«, sagte Gerfried beiläufig.

Hermanns Bewegungen verlangsamten sich.

»Woher willst du das wissen?«

Gerfried verkniff sich nur mühsam das boshafte Grinsen, als er dem Gesicht seines Bruders das Begreifen ansah.

»Du warst dort? Du hast sie gesehen?«, fragte Hermann schneidend.

 

Hermann war gefährlich, wenn er wütend wurde, dennoch gab sich Gerfried entspannt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, grinste anzüglich und wandte sich wieder Kommissar Derrick zu, der sich zu dramatischer Musik steif und unbeholfen mit einer kleinen, geradezu albern wirkenden Walther PPK 7,65 an einer Mauer entlang schob.

Gerfried wusste genau, dass Hermann sich jetzt fragte, ob die Organisation ihn womöglich durch seinen Bruder kontrollierte. Der Zorn verhärtete seine Züge, doch er hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle und wandte sich wieder ab.

Gerfried beschloss nachzusetzen. »Ich glaube, du hast in den letzten Wochen etwas vergessen«, bemerkte er spitz.

Hermann blickte ihn kurz über die Schulter hinweg an. »Und das wäre?«

»Den Grund, warum du die Kleine umgarnen sollst.«

»Kümmere du dich um deine Aufgaben!«

Gerfried musterte ihn mitleidig. »Du sollst sie benutzen und nicht umwerben wie ein liebeskranker Stieglitz.« Er grinste höhnisch. »Du bekommst sie doch eh nicht, sie ist schließlich eine Hexe. Außerdem … du glaubst doch nicht, dass diese Bergbauern da oben zulassen würden, dass du ihnen so einen hübschen Käfer vor der Nase wegschnappst!«

Hermann presste die Kiefer aufeinander. Seine Züge verrieten Ärger und Sorge zugleich. Gerfried bildete sich sogar ein, für den Bruchteil einer Sekunde Angst darin aufflammen zu sehen. Zufrieden lehnte er sich zurück und widmete sich wieder dem Fernseher.

So traf ihn Hermanns Angriff auch völlig unvorbereitet. Sein Bruder war blitzartig durch den Raum gestoben, seine Linke schoss vor und schloss sich wie ein Schraubstock um Gerfrieds Kehle.

Leise zischte Hermann seinem Bruder zu: »Ich warne dich nur dieses eine Mal … lass deine Finger von ihr!«

»Schon gut«, krächzte Gerfried. »Schon gut. Ich stehe eh nicht auf uneingerittene Pferdchen!«

Sie maßen sich mit Blicken. Gerfried dachte kurz an das Messer, das er stets unter dem weiten Schlag seiner karierten Hose trug. Es war, als hätte Hermann seine Gedanken gelesen. Die Hand an seiner Kehle spannte sich an – eine ungewöhnlich starke Hand, die viele Jahre Kampftraining an einem Breitschwert hinter sich hatte. Erbarmungslos drückte diese Hand Gerfrieds Kinn nach oben. Gerfried fühlte Hermanns Rechte auf seiner Schulter. Eine kurze Drehung und sein Genick würde bersten. Keiner sagte einen Ton. Es war auch nicht nötig. Gerfried hatte verstanden.


Gerfried atmete erst aus, als die Tür ihrer gemeinsamen Studentenbude vibrierend ins Schloss fiel. Nachdenklich rieb er sich den Hals und stellte mit einem unguten Gefühl in der Magengegend fest, dass er wohl einen monumentalen Fehler gemacht hatte. Hermann war auf dem Weg zu ihr, und Gerfried ahnte, was seinen Bruder erwartete. Im Gegensatz zu Hermann wusste Gerfried, dass der Brief, der seinem Bruder dieses dümmliche Grinsen ins Gesicht getrieben hatte, nicht von ihr war. Nicht das Mädchen, sondern ihre Freunde und Nachbarn würden Hermann erwarten. Und es würde kein freundlicher Empfang werden. Aber würden sie mit jemandem wie Hermann fertig? Nach dem Vorfall eben hatte er seine Zweifel. Gerfried runzelte die Stirn. Falls Hermann diesen Abend wider Erwarten überleben sollte, hatte er ein Problem.

An der Kleinen hatte sein Bruder offenbar einen größeren Narren gefressen, als er geahnt hatte. »Die Organisation sollte es erfahren…«, murmelte Gerfried missmutig. Sie hatten Hermann einen Auftrag gegeben, an dem bereits Heinrich Himmler gearbeitet hatte. Und nun setzte Hermann den Auftrag in den Sand, weil er sich in die kleine Hexe verguckt hatte. Die Organisation wollte zu Ende bringen, was 1935 begonnen worden war. Es ging um altes Kulturgut. Um Germanentum, die wahre Geschichte Deutschlands. Und was machte Hermann? So etwas Unprofessionelles wäre ihm nie passiert, dachte Gerfried verdrossen.

Er verwarf den Gedanken, die Organisation zu informieren, er würde sich damit nur selbst ans Messer liefern. Heute Nacht kam es in Braunlage zum Eklat. Wieder strich Gerfried über die Tätowierung. Hermann trug bereits die Sig-Rune. Sein Bruder war kurz davor, die nächste Stufe zu erreichen. Die Initialisierung war am Jahresfest Imbolc vorgesehen, in sechs Wochen.

Erst hatte dieser Schwächling Anton den Bullen Informationen zugespielt, und nach dieser Nacht würde Hermann ausfallen, der wichtigste Protegé der hiesigen Division.

»Geschieht ihnen recht«, murmelte Gerfried trotzig. »So ist das halt, wenn man den Auftrag an einen Versager gibt!«

Er vermutete, dass man den Westharzer Standort wohl erst einmal aufgeben musste. Wenn sie herausbekamen, dass er es gewesen war, der dem Orden so geschadet hatte, würden sie ihn bestrafen. Er ballte die rechte Hand zur Faust. Die Spitze des tätowierten Schwertes zeigte auf seine Pulsadern. Sie würden ihm den Arm nehmen, denn die Tätowierung enthielt das Signum der Ordenszugehörigkeit.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst. Die Organisation war weit verzweigt und stark. Die wenigsten wussten, wie weit ihr Einfluss reichte. Es war wohl besser, wenn er Deutschland schnellstmöglich verließ. Auch gut. Er hatte eh vor, zu gehen. Das Gefasel von psychologischer Kriegsführung in seiner Kaserne hier in Clausthal konnte er schon nicht mehr hören. Als ob man mit so einem Gewäsch einen Krieg gewinnen konnte. Es war Zeit für Veränderungen, wirkliche Veränderungen.

Missmutig schob er das Lehrbuch über Geschosstypen auf seinem Schreibtisch hin und her, als sein Blick auf die Telefonnummer auf einem Zettel fiel, deren gleichmäßige, sinnlich-runde Ziffern einen roten Kussmund überdeckten. Es war zwar noch zwei Tage zu früh, aber er konnte genauso gut jetzt schon zu ihr fahren. Er wusste, dass sie ihn sehnlich erwartete. Ein bisschen Spaß mit ihr und dann über Frankreich nach Nordafrika. Ja, das war gut. Dort würden sie ihn nicht suchen. Würden sie wirklich nicht?

Er sah sich um. Und wenn hier ein wenig Chaos entstünde? Chaos, das auf einen Kampf hindeutete? Ein Streit zwischen den beiden Brüdern würde der Organisation seinen Weggang erklären.

Zufrieden mit seinem Entschluss stand er auf, um die kleine Altbauwohnung kurz und klein zu schlagen. Er zog sein Messer aus der Beinhalterung, schnitt sich die linke Handfläche auf und hinterließ blutige Handabdrücke an Möbeln und Wänden. Dann packte er einige wenige persönliche Sachen, darunter das Schwert, das er von seinem Vater bekommen hatte, und verließ die Wohnung in Clausthal-Zellerfeld, die er sich mit seinem Bruder geteilt hatte, für immer.


Mit einem unguten Gefühl zog Hermann die knarzende Haustür ins Schloss und trat in die kalte Nacht hinaus. Gerfried war also in Braunlage gewesen. Er hatte sie gesehen. Was hatte er dort gewollt? Er querte die durch Schnee beengte Straße und ging auf seinen Wagen zu, während seine Gedanken bereits seinem Zielort entgegeneilten. Braunlage, der adrette Kurort im Oberharz mit seinen gepflegten Holzhäusern und seiner Gastfreundlichkeit, die Johann Wolfgang von Goethe fast auf den Tag genau zweihundert Jahre zuvor genossen hatte. Was würde der Geheimrat über die Wunde gedacht haben, die man seinem Land und Volk zugefügt hatte, eine Wunde in Form einer volksverachtenden Grenze, die sich nur wenige Kilometer östlich von Braunlage in die herrliche urdeutsche Natur fraß? Irgendwann würde es der Organisation gelingen, dieses Monument des Scheiterns zu eliminieren, da war sich Hermann sicher.

Als der Autoschlüssel die leichte Eisschicht über dem Schloss durchstieß, kehrten seine Gedanken zu Gerfried zurück. Und damit auch sein Zorn. Er hätte ihn töten sollen. Irgendwann würde er das auch tun. So hätte es Vater gewollt. Nur der Stärkste sollte überleben. Doch diese Prüfung musste noch warten. Die Organisation hatte alles verboten, was auf sie aufmerksam machte. Hermann hasste die Notwendigkeit des Unauffälligen, sah sie jedoch ein. Schließlich waren sie schon einmal gescheitert. Nur weil ein Mann die Grenzen überschritten hatte, war der Krieg, der alles geändert hätte, verloren gewesen.

Man hatte ihm, Hermann, den Auftrag erteilt, das Artefakt zu finden. Ob es seinem Besitzer tatsächlich zu der in diversen Sagen beschworenen Macht verhalf, wusste er nicht. Doch das hatte ihn auch nicht zu interessieren. Schon der Führer hatte Artefakte wie den Longinus-Speer gesammelt und Hermann hatte dererlei Vorgehen nicht in Frage zu stellen. Von dem Überbleibsel des legendären Keltenschwertes aus der Zeit der römischen Besetzung Germaniens war wenig bekannt. Ein Druide aus dem Harz soll es geschmiedet haben. Dem Schwert wurden ähnliche Kräfte nachgesagt wie der Heiligen Lanze.

Ihr Antlitz erschien vor seinem inneren Auge. Sie war eine Altgläubige, eine Wicca, damit gehörte sie zu den Bewahrern des Artefaktes. Sie war der Schlüssel zu altem Wissen. Doch für ihn war sie weit mehr …

Bei dem Gedanken, dass sein Bruder bei ihr gewesen war, stieg heißer Zorn in ihm hoch. Zwar war sich Hermann sicher, sie hätte Gerfried nie mit ihm verwechselt, wie so viele andere, doch sie hätte seinem Bruder natürlich auch nicht die Tür gewiesen. Nun ahnte Hermann, dass Gerfried der Grund dafür war, dass sie nicht mehr mit ihm hatte sprechen wollen. Was hatte er ihr erzählt? So etwas war typisch für Gerfried. Hermann stellte einmal mehr fest, wie sehr er seinen Bruder hasste.

Aber nun war alles gut. Sie hatte ihm geschrieben. Heute, am Wintersonnenwendfest, würde er sich mit ihr aussprechen. Er ließ den Kratzer sinken und zog den Brief aus der Tasche. Ihr Maiglöckchenparfum stieg ihm in die Nase und verursachte ein wohliges Kribbeln in seinem Inneren. Liebster Hans … Sie kannte ihn nur unter seinem zweiten Vornamen, den er stets bei verdeckten Operationen benutzte. Es wurde Zeit, dass sie ihn besser kennenlernte. Versonnen steckte er den Brief in seine Tasche zurück. Das bohrende Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, legte sich etwas, als er sich in den Sitz fallen ließ. Prüfend betrachtete er den leicht verhangenen Nachthimmel. Es sah immer noch nach Schneefall aus, aber die Bundesstraße würde wohl einigermaßen geräumt sein. Er war ein guter Fahrer. Ein paar Schneewehen würden ihn nicht aufhalten.

Die letzten Häuser Clausthals glitten an ihm vorbei. Er passierte eine freie Fläche, die sich in diffuses Mondlicht getaucht an den angrenzenden Wald schmiegte, bevor er wieder in das Dunkel des Waldes tauchte. Er folgte der Bundesstraße über den Hochharz. Es begann zu schneien. Die Straße vor ihm verlor durch wirbelndes Weiß an Kontur. Verschneite Fichtenwälder huschten an ihm vorbei. Hin und wieder lichtete sich der Wald um eine vereiste Seefläche herum, in der sich das Mondlicht spiegelte. Niemand war auf den Straßen. Die Harzer kannten ihre Natur und maßen sich nicht mit ihr. Sie genossen lieber einen gemütlichen Fernsehabend am bullernden Ofen. Unterhalb der Achtermannshöhe bog er rechts ab. Er malte sich bereits aus, wie sie durch den Winterwald schreiten würden, als er die ersten gelben Tupfen beleuchteter Fenster erkannte, die zu Braunlage gehörten.

Sie hatte geschrieben, dass sie mit ihm allein sein wollte. Einen Abendspaziergang am Andreasberger Teich hatte sie vorgeschlagen. Etwas einsam, dachte er belustigt, aber sie liebte ja die Natur und kannte die Umgebung Braunlages wie kaum ein anderer.

Das Mondlicht tauchte die verlassenen, durch Schneeberge verengten Straßen in ein unwirkliches Licht. Er verließ die Hauptstraße und arbeitete sich eine steile, aber gut geräumte Wohnstraße hinauf. Die spärlich vorhandenen Straßenlaternen durchbrachen die Dunkelheit nur unzureichend mit ihren milchigen Lichtkegeln. Dieses Wohnviertel mit seinen so unterschiedlichen Baustilen hatte schon tagsüber etwas Verwunschenes. Die Hanglage, große Gärten, villenartige Bauten und hohe Bäume mehrten diesen Eindruck noch. Im fahlen Licht der Nacht wurden Lebensbäume und Zaunpfeiler zu bedrohlich wirkenden Wächtern von Häusern mit Türmchen und Zinnen, deren Umrisse sich schemenhaft abzeichneten. Auf dem Weg zu ihrem Haus spähte er angestrengt in jede abgehende Gasse, doch es war niemand zu sehen. Kurz darauf hielt er an einem Waldweg, stellte den Scheinwerfer aus und wartete, bis sich seine Augen an das Mondlicht adaptiert hatten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch einige Minuten Zeit hatte. Unruhe erfasste ihn. Jedoch waren nächtliche Dunkelheit, die Nähe des Waldes oder gar die Einsamkeit nicht der Grund dafür. Diese Dinge waren ihm seit seiner Kindheit wohlbekannt. Sein Vater hatte ihn und seinen Bruder oft zu nächtlichen Trainingsausflügen mitgenommen. Hermann verließ den Wagen und ließ automatisch den Blick in die Runde schweifen. Er spitzte die Ohren und ging dann langsam in den Waldweg hinein, der zum Andreasberger Teich führte. Immer wieder blieb er, wie er es beim Training gelernt hatte, unerwartet stehen und horchte auf Schritte. Doch er konnte weder jemanden sehen noch hören. Der Mond erschien zwischen den Wolken. Er war fast voll. Es schneite nicht mehr ganz so stark. Wieder ließ er den Blick über die Häuser unterhalb seines Standortes schweifen. In ihrem Haus brannte Licht. Warum hatte sie sich ausgerechnet heute mit ihm treffen wollen? Feierten sie und ihre Mutter heute nicht die Wintersonnenwende? Oder hatten sie ihren Termin angepasst und feierten erst am Heiligen Abend? Eigentlich passte das nicht zu ihr. Irgendetwas stimmte hier nicht.

 

Einer unerklärlichen Ahnung folgend zog er sich in den Wald zurück. Es war fast neun. Mit geschmeidigen Bewegungen huschte er den Waldweg entlang. Plötzlich vernahm er ein leises Knacken hinter sich. Sein Körper spannte jeden Muskel an. Er war also nicht allein. Sein Nebenbuhler? Dieser grobschlächtige Harald und seine Kumpanen? Wieder horchte er angestrengt in die Dunkelheit. Erneut knackte es, dieses Mal rechts von seinem Standort. Natürlich! Sie folgten ihm deshalb nicht, weil sie bereits da waren. Besser gesagt, sie waren bereits hinter ihm und schnitten ihm den Rückweg ab. Auf das Überraschungsmoment setzend hetzte er los und verschwand zwischen den Bäumen.

Damit hatte er die Jagd auf sich eröffnet. Überall ringsherum begannen Äste unter trampelnden Stiefeln zu bersten. Gefrorenes Laub knirschte. Zweige schabten über Winterjacken. Niemand bemühte sich noch um Stille. Es mochten zehn, vielleicht fünfzehn Männer sein. Er war ihnen in die Falle gegangen. Er hielt sich jedoch nicht mit der Frage nach dem Warum auf, angesichts dieser Übermacht konnten ihm nur noch Kondition und niederste Kampfinstinkte helfen. Bewusst atmete er lang durch, sondierte seine Lage, während er durch den Wald rannte. Er bezweifelte, dass seine Verfolger ihrem Körper mehr abverlangten, als es die tägliche Arbeit auf einem Oberharzer Kleinhof oder in einem Büro erforderte. Er dagegen lief seit seinem zehnten Lebensjahr täglich mehrere Kilometer. Noch immer bewegte er sich in hohem Tempo vorwärts. Die Distanz zwischen ihm und seinen Jägern vergrößerte sich, wie er an den leiser werdenden Rufen erkannte. Vielleicht konnte er sie zerstreuen und einzeln angreifen.

»Schnappt euch das Schwein!« Hermann erkannte die Stimme sofort. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Gesicht auf. Groß, dunkelhaarig, mit einem Blick voll eifersüchtigem Hass. In diesem Augenblick erkannte er, dass der Brief, der ihn her gelockt hatte, gar nicht von ihr stammte. Liebe macht wirklich blind, haderte er.

Nun knackte es nicht mehr nur hinter ihm. Es waren mehr, als er vermutet hatte. Sie hatten sich bereits vorher verteilt und versuchten, ihn einzukreisen. Eine Wolke schob sich dem Mondlicht in den Weg und gab ihm eine Chance. Schwungvoll ließ er sich fallen, rollte unter etwas, das wie ein Hagebuttenbusch aussah, und blieb regungslos liegen. Bis sie sein notdürftiges Versteck erreichten, musste sich sein Atem so weit beruhigt haben, dass sie ihn nicht hörten. Vielleicht hatte er Glück und sie liefen an ihm vorbei. Und dann? Zum Wagen zurück? Er verwarf diese Idee. Sicher warteten dort Wachen auf ihn. Er spähte aus seinem Versteck.

Es schien, als sei der halbe Ort auf den Beinen, um ihn zu hetzen. Einige liefen tatsächlich an seinem Versteck vorbei. So leise wie möglich richtete er sich auf. Er musste die Richtung ändern. Links von ihm schnitt ihm der Andreasberger Teich den Fluchtweg ab. Er spähte in den Sternenhimmel, um sich zu orientieren, und versuchte es in nordwestlicher Richtung. Vielleicht gelang es ihm, in einem weiten Bogen zurück zur Harzhochstraße zu laufen. Noch lief er nicht. Er schonte seine Kräfte und baute auf Geräuschlosigkeit. Dann sah er Taschenlampen aufblitzen und fluchte innerlich. Nun blieb ihm nur noch seine Kondition. Er lief los. Um ihn herum schien der Wald zu brodeln. Sie hatten seinen Richtungswechsel erkannt und folgten ihm. Ein Bach glitzerte im Mondlicht. Er übersprang ihn und hastete weiter. Ein paar Stimmen kamen näher. Er musste sie abhängen, um die Straße nordöstlich von ihm zu erreichen. Allerdings hatte er noch einige Kilometer vor sich.

Während er lief, befühlte er seine Taschen nach etwas, was sich als Waffe verwenden ließ. Währenddessen horchte er nach hinten. Das Taschenmesser rutschte ihm in die Hand. Noch im Lauf öffnete er es. Im nächsten Moment traf ihn ein derber Schlag an der Schläfe und er ging zu Boden. Warmes Blut lief ihm in den Kragen und über die Hand. Zwar kämpfte er erfolgreich gegen die wabernden Schleier einer Bewusstlosigkeit, blieb aber dennoch liegen, ohne sich zu rühren. Verhalten tastete er nach dem Messer. Endlich fühlte er etwas Hartes zwischen den Fingern. Seine Chance kam, als sich sein Widersacher zu ihm herunterbeugte.

»Das wird dir eine Lehre s…« Weiter kam Hermanns Verfolger nicht, denn das Messer fuhr dem jungen Mann aus Braunlage in den Oberschenkel. Hermann drehte es etwas und zog es aus dem blutenden Fleisch. Mühsam richtete er sich auf und rammte der gekrümmten Gestalt seine Faust ins Gesicht. Torkelnd rannte er weiter. Rechts sah er nur sehr verschwommen. Das Blut lief. Stimmen und die Geräusche von unzähligen Füßen, die durch das Unterholz brachen, schienen von überall her zu kommen. Hermann sah seine Chancen, diese Nacht zu überleben, zum ersten Male schwinden. Er erreichte einen Waldweg und folgte ihm. Mehrfach dachte er, seine Lungen würden bersten. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Kilometer um Kilometer rannte er. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser. Hatten vielleicht einige von ihnen aufgegeben? Es ging bergan. Neben ihm gurgelte ein weiterer Bach. Endlich gönnte sich Hermann ein ruhigeres Tempo, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und presste eine Hand voll Schnee auf die Wunde an seiner Stirn. Schwer atmend näherte er sich einem Abzweig. Er konnte die Straße hören. Die Straße? Die Autos fuhren nicht vorbei, sie näherten sich seinem Standort und Hermann erkannte fröstelnd, von diesen Fahrzeugen hatte er keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil. Hermann fluchte und wandte sich nach links, von der Harzhochstraße weg. Er war gezwungen, dem Weg zu folgen, da der Wald rechts und links zu dicht war, doch er musste schnellstens von dem Weg runter. Sie waren ihm mit Autos auf den Fersen. Endlich sah er rechts einen Pfad abzweigen und folgte ihm in den Wald. Die Wagen hielten. Autotüren gingen auf und wurden zugeschlagen. Das Stimmengewirr folgte ihm. Hermann stolperte über einen steinigen, engen Pfad, bis sich überraschend eine Lichtung auftat. Die Lichtung endete in einem Abgrund. Dahinter verbreitete sich das Mondlicht über die Kuppen ausgedehnter Wälder. Er hatte verloren.

Hermanns Fäuste trafen noch so manchen Kiefer, bevor er seine eigenen Rippen brechen hörte und zusammensackte. Von allen Seiten hagelte es Fäuste, Tritte und Schläge. Er hörte noch einige Wortfetzen wie: »… wieder ein Wanderer die Klippen heruntergestürzt … den Rest erledigt die Kälte!«

Er fühlte sich hochgehoben. Stürzte. Dann wurde es endgültig Nacht.


Kriminalhauptkommissar Harmsen gab ein kühles »Na, das war ja wohl nichts« von sich, während er sich verkniffen umsah. Hans-Joachim Berking fluchte derb, wusste er doch genau, wem diese vernichtenden Worte galten. Schließlich war er es gewesen, der diesen Einsatz in monatelanger Arbeit vorbereitet hatte. Sie hatten ja einiges erwartet, aber nicht diese höhnische Leere.

»Verdammt! Wo sind die denn alle hin?« Ullrich Schüssler sah sich konsterniert um. Einige der uniformierten Kollegen, die das einsame Gehöft nördlich von Bad Harzburg unweit der Grenze gestürmt hatten, konnten sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie freute man sich ja schon, wenn die besser verdienenden Kripo-Kollegen in Zivil einen Fehler machten. Aber natürlich war es auch zum Teil Erleichterung. Erleichterung darüber, es nicht mit einer unberechenbaren und bewaffneten Truppe von Rechtsradikalen aufnehmen zu müssen, die hier ihr Hauptquartier gehabt haben sollte.