Todesrunen

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Kapitel 9


Ungestüm und zäh, doch auch wehleidig und ohne Ausdauer, mal unendlich grausam, dann wieder unendlich liebenswürdig und gastfreundlich. Wildheit, Feinsinn, Stumpfsinn, Begeisterung, Verstand und Gemüt wechseln sich stetig ab.

– Cassius Dio über den Charakter der Kelten XII 50 ff –

Nach einigen Tagen depressiven Herumlungerns hatten es Tillas Mitbewohner übernommen, sie wieder auf die richtige Spur zu bringen. Die Brüder Daniel und Oliver Regner bemühten sich nach Kräften, ihr zu helfen. Nicht nur, dass sie sich gebührend mit ihr über das ungerechte Gerichtsurteil echauffiert hatten, sie hatten auch Peter Ehlers Vorschlag, dass Tilla zurück nach Bad Harzburg gehen sollte, beigepflichtet und nach und nach ihre Habe in Kartons verpackt. Daniel Regner hatte ihr sogar einen Auftrag im Fliegerhorst Goslar besorgen können, in dem er stationiert war. Da Tillas Großmutter aus Wales stammte, war Englisch ihre zweite Muttersprache. In ihrer Familie hatten sie noch lange englisch gesprochen, da selbst Hedera nur schwer von der Sprache ihrer Mutter lassen konnte. Erst als Großmutter Leandra starb, hatten sie ausschließlich deutsch gesprochen. So konnte sie als Übersetzerin helfen, wenn demnächst eine Gruppe von englischen Militärs den Stützpunkt Goslar besuchte, bevor dieser geschlossen wurde.

Wenngleich ihr die Idee, in der alten und neuen Heimat vielleicht als Übersetzerin zu arbeiten, immer besser gefiel, so fiel doch ihr Abschied von ihren Mitbewohnern verhalten aus. Geradezu muffelig war sie in ihren mit letzten Umzugskartons und Großmutter Leandras Stuhl vollgestopften Wagen gestiegen, um endgültig in den Harz zurückzukehren.

Daniel und Oliver hatten recht, sie sollte versuchen, etwas aus ihren Sprachkenntnissen zu machen. Tilla dachte wehmütig an die so unterschiedlichen Brüder, die sie in der kurzen Zeit in Braunschweig sehr ins Herz geschlossen hatte. Noch wusste Daniel nicht, dass sein Bruder sich in einen Mann verliebt hatte. Vermutlich war sie die Einzige, mit der Oliver je über seine sexuelle Orientierung gesprochen hatte. Wie würde Daniel auf Olivers Freund Dirk Sundermann reagieren? Tillas Augen begannen zu brennen. Sie vermisste die beiden schon jetzt.

Die Harzberge tauchten schemenhaft im winterlichen Dunst auf. Vielleicht brachte ihr der Harz ein wenig Glück. Sie konnte es dringend brauchen. Kurze Zeit später durchfuhr Tilla Bad Harzburg in östlicher Richtung. Für eine kurze Strecke rauschten Bäume an ihr vorbei, bevor sie die Bundesstraße verließ und auf einen nur mäßig befestigten Weg abbog, der zu einer Ansammlung direkt am Wald liegender Häuschen führte. Das Haus ihrer Mutter, nun ihr Haus, lag am Ende dieses Lehmschotterweges. Ein rot-weißes Verkaufsschild buhlte um Aufmerksamkeit. Hier wollten die Besitzer einen schmucklosen kleinen Bungalow loswerden, der direkt an der Bundesstraße lag. Mit der Grenzöffnung war die Straße nach Stapelburg und Wernigerode zu neuer Bedeutung gelangt. Mit dem deutlich erhöhten Verkehrsaufkommen hatte der Bungalow seine einstige Attraktivität verloren.

»Die haben sich wahrscheinlich nicht gefreut, als die Grenze fiel«, murmelte Tilla und passierte ein merkwürdig anmutendes Wohngebilde, dessen bleiche Holzverkleidung aussah, als sei sie aus angespültem Treibholz gemacht worden. »Was ist denn das für ein komischer Klotz …«, entfuhr es ihr ungnädig. Gleichzeitig überlegte sie, wie dieses Haus früher ausgesehen haben mochte. Schemenhaft kam ihr ein weißes, villenartiges Gebäude in den Sinn, doch dieser moderne Klotz aus betonfarbenem Holz mochte sich einfach nicht mit ihrer Erinnerung verbinden. Lediglich die alten Bäume erinnerten an früher. Mit dem schmerzenden Gefühl, hier nicht mehr herzugehören, ließ Tilla ihren Wagen ausrollen. Bedrückt stieg sie aus und näherte sich ihrer Haustür.

»Du brauchst dringend einen neuen Anstrich«, erklärte sie der Tür und schloss auf. Ein Schwall abgestandener, muffiger Luft schlug ihr entgegen. Wieder glaubte Tilla, den Hauch eines Aftershaves zu riechen. Wahrscheinlich von den Polizisten, sagte sich Tilla und blieb unschlüssig im Flur stehen. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie ließ den Blick durch den Flur schweifen. Die Natursteinfliesen mit den unregelmäßigen Mustern darin hatte sie als Kind stundenlang betrachten können. Damals hatte sie auf der Treppe gesessen, die Beine durch das Treppengeländer gesteckt und diese ungegenständlichen Muster mit ihrer Fantasie gefüllt. Dort, der Zwerg, der durch die Tropfsteinhöhle ging und seine Schätze begutachtete … und dort die Elfe, die sich im Gewirr einer allzu wüchsigen Quecke verfangen hatte. Tillas Mundwinkel verzogen sich nun doch leicht nach oben. Der vertraute Geruch nach Kräutern tat sein Übriges, um ihre Stimmung etwas zu heben. Doch dann stutzte sie.

Kräuter? Wieso roch es so stark nach Kräutern? Tilla lugte um die Flurecke. Die Tür zur Apotheke stand offen und ließ das Fensterlicht in den Flur vordringen. Hatte sie diese Tür nicht sorgfältig verschlossen, als sie das Haus verlassen hatte? Tilla war sicher, dies getan zu haben. Immerhin lagerte hier jener Stoff, der ihrer Mutter die Tür zum Reich der Hel geöffnet hatte. Resolut schloss sie die Tür zum Apothekenzimmer, ging zurück und öffnete die Haustür bis zum Anschlag.

Daniel und Oliver hatten die Kartons mit ihrer Habe am Tag zuvor erst einmal in den Schuppen gestellt. Weitere Hilfe von den beiden hatte sie in einem dummen Anfall von Überheblichkeit abgelehnt, den sie nun bitterlich bereute. Wieder einmal kam sie sich unendlich allein vor. Gerade wollte sie sich dem Ausräumen ihres Wagens widmen, als sie ein fragendes Maunzen hörte. Verwundert blickte sie in die bernsteinfarbenen Augen von Paris. Die Katze ihrer Mutter hatte sich majestätisch vor ihr auf den Stufen niedergelassen und schien sie zu fragen, ob sie nun endlich wieder nach Hause könne.

»Paris! Heilige Göttin! Dich habe ich ja völlig vergessen«, stammelte Tilla kleinlaut. Das glänzend schwarze Fell der Katze zeigte, dass sie wohl von Nachbarn bestens versorgt worden war. Nachbarn, die mehr Umsicht als Tilla bewiesen hatten. Die hellen Augen des Tieres ruhten abschätzend auf Tilla, die Schwanzspitze bewegte sich tadelnd hin und her. Tilla streckte die Hand nach Paris aus, doch die entzog sich der Berührung und stolzierte an Tilla vorbei ins Haus, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Tilla sah dem Tier beschämt nach und murmelte: »Ich hab’s wohl verdient!«

Von schlechtem Gewissen geplagt eilte Tilla hinter der Katze her, die nun abwartend vor der Küchentür stand. Sie öffnete ihr, um dann jedoch wie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten auf der Schwelle stehen zu bleiben. Auf dem Küchentisch standen noch immer die Utensilien des Ereignisses, das ihr Leben in eine Achterbahn verwandelt hatte. Da die Polizei von Selbstmord ausgegangen war, hatte es keine weiteren Untersuchungen gegeben. Für einen Augenblick bildete Tilla sich ein, ihre tote Mutter an diesem Tisch sitzen zu sehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihre Beine wurden so zittrig, dass sich Tilla am Türrahmen festhalten musste.

Paris‘ forderndes Miauen holte sie in die Wirklichkeit zurück. Tilla schluckte und betrat zögerlich die Küche. Sie zwang ihren Blick von dem Tisch weg zu einer Tür, hinter der sich eine kleine Speisekammer befand. Hektisch suchte sie nach Katzenfutter, fand noch ein paar verbliebene Dosen nebst Trockenfutter und nahm beides mit zur Spüle. Nachdem sie Paris’ Näpfe gesäubert und dem Tier eine üppige Ration Futter hingestellt hatte, kehrte ihr Blick widerwillig zum Tisch zurück.

Sie erkannte das alte Porzellan der Wedgwood-Manufaktur aus dem englischen Burslem. Tilla starrte das farbenfrohe Muster verwirrt an. Ihre Mutter hatte das wertvolle Porzellan, das zur Aussteuer ihrer Großmutter Leandra gehörte, nur für Gäste und bedeutende Anlässe hervorgeholt. Tilla betrachtete die komplizierten goldenen Ranken auf türkisfarbenem Grund. Zögernd griff sie nach der bauchigen Teekanne, hob den fein gearbeiteten Deckel und sah hinein. Die unzähligen feinen Risse im Innern der Kanne waren durch Teein verdunkelt. Der Bodensatz des giftigen Suds war eingetrocknet und hatte ein unappetitliches Sediment hinterlassen.

»Du meine Güte, Mutsch, musstest du auch noch das gute Geschirr versauen?«, fragte Tilla säuerlich ins Nichts. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, alles, was auf dem Tisch stand, im Mülleimer zu zerdeppern. Widerwillig trug sie das Geschirr zur Spüle und betrachtete es unschlüssig. Sie war sich nicht sicher, ob man die Spuren des starken Giftes je wieder vollständig aus dieser Kanne würde entfernen können. »Klasse, Mutsch. Das Geschirr wäre sicher einiges wert gewesen. Wolltest du damit verhindern, dass ich es verkaufe? Ist dir gelungen!«

Immerhin vertrieb der Zorn ihre Schwermut. Zorn, den sie als alten, wohlbekannten Begleiter ihrer Persönlichkeit kannte, war ihr lieber als die depressiven Schübe der letzten Zeit. Tilla stapfte in den Flur, wo ein Stapel von Zeitungen lag, die niemand abbestellt hatte. Sie sortierte Post und Zeitungen auseinander und nahm den Stapel mit in die Küche. Sie würde die Kanne und die Tasse vorerst mit dem Zeitungspapier verpacken und in den Keller stellen, bis sie die Kraft hatte, zu entscheiden, was damit geschehen sollte. Und dann würde sie dieses Haus mit ihren Sachen und ihrer Gegenwart füllen, um sich nicht mehr wie ein Eindringling zu fühlen.

Nach einer halben Stunde stapelten sich bereits etliche Kartons im Flur. Nachdem sie beschlossen hatte, das Obergeschoss unbenutzt zu lassen, wuchtete sie mehrere Kartons mit ihrer Kleidung in ein Zimmer neben der Haustür, das immer als Kombination aus Gästezimmer und Büro gedient hatte. Stöhnend streckte sie ihren schmerzenden Rücken und ging hinaus, um ihren Wagen leerzuräumen.

 

Laut vor sich hinzeternd zerrte Tilla an Großmutter Leandras Sessel, den Oliver und Daniel ihr in mühevoller Millimeterarbeit ins Heck ihres Wagens gestopft hatten. Für dieses Unterfangen hatte Daniel ihr die Rückbank ausgebaut, die hinter den letzten Kartons im Schuppen lag und die sie wohl nie wieder in ihren Wagen hineinbekommen würde. Kampfbereit stierte Tilla den Sessel mit den im Chippendalestil geschwungenen Beinen an, die ihr wie abweisende Hände entgegenstaken. Egal wo Tilla zog, der Sessel hakte mal an der Fensterkurbel, dann wieder hinter der Wölbung der Radkammer oder an der viel zu kleinen Heckklappenöffnung fest.

»Verdammt! Du bist doch auch reingegangen«, kreischte Tilla den Sessel an und stampfte auf den Boden, bevor sie es mit einer anderen Strategie versuchte. Sie hielt den Sessel mühsam mit einem Knie hoch und zog gleichzeitig ruckelnd an den Beinen. Endlich bewegte er sich knirschend aus dem Wagen heraus. Leider hatte Tilla das Gewicht guter alter Handwerksarbeit sowie ihren unsicheren Stand unterschätzt. Als sich der Sessel zu neigen begann, kippte Tilla mit einem Verzweiflungsschrei nach hinten und lag zwischen den Beinen des Sessels gefangen im Dreck. Das widerspenstige Möbelstück kippelte bedrohlich über ihr hin und her.

Eine Hand legte sich über die Lehne und verhinderte, dass ihr der Sessel auf den Kopf kippte. Ein paar dunkle Augen folgten der rettenden Hand. Tilla musste ihrer Wut zunächst Luft verschaffen und prügelte mit beiden Fäusten auf die Sitzfläche über ihr ein. Der junge Mann betrachtete ihr Tun amüsiert und fragte: »Geht’s Ihnen jetzt besser?«

»Wenn ich dieses Mistding nicht so lieben würde, hätte ich es jetzt zu Kleinholz verarbeitet«, knurrte Tilla und robbte unter dem Sessel hervor.

»Na, dann hat er wohl Glück gehabt«, meinte der junge Mann grinsend und klopfte dem Sessel freundschaftlich die Lehne. »Wo soll er denn hin?«

Tilla rappelte sich auf die Beine und stellte fest, dass sie aussah wie ein Wildschwein nach einem Schlammbad. Leider hatte die Stadtverwaltung für diesen abgelegenen Teil von Bad Harzburg nicht den Luxus von befestigten Wegen vorgesehen und die letzte Schüttung war schon vor Jahren im Untergrund verschwunden, sodass Tilla nun mit einem gelblichen Belag paniert war.

Endlich widmete sie sich ihrem Retter. Als er den Kopf drehte, fiel ihr eine Narbe ins Auge, die sich über sein rechtes Jochbein zog. Zu dieser Narbe fügte sich eine vage Erinnerung an ein lang zurückliegendes Unglück in der Nachbarschaft, die Tilla jedoch gleich wieder entglitt. Um die Narbe herum registrierte Tilla ein Gesicht mit einer hohen Stirn, die an einem dichten, dunklen Haaransatz endete.

»Tut mir leid, aber ich weiß ihren Namen nicht mehr«, entschuldigte sie sich.

Er lächelte. »Ich bin Gerred Assmut.« Er schaute zwischen dem Sessel und der offenen Wohnungstür hin und her. »Sie kommen also zurück?«

»Äh … ja«, antwortete Tilla unwohl. Offenbar wusste er genau, wer sie war, doch sie erinnerte sich so gut wie gar nicht an ihn. Auch der Name sagte ihr nichts.

»Gut. Ich bin auch erst vor einiger Zeit zurückgekommen. Ist ein komisches Gefühl, nicht wahr? Wollen wir?«, fragte er und klopfte auf den Sessel.

Gemeinsam trugen sie ihn die Eingangstreppe hinauf ins Wohnzimmer. »Ich glaube, den hätte ich nie allein hier rauf bekommen«, stellte Tilla fest und bedankte sich nochmals.

Er grinste. »Na, dann hätten Sie doch sicher irgendwo geklingelt und da alle anderen Nachbarn schon ohne Sessel auf dem Arm recht hinfällig sind, wären Sie eh bei mir gelandet.«

Tilla lachte. »Es ist mir wahnsinnig peinlich, dass ich mich so gar nicht an Sie erinnern kann. Sie müssen wohl gewachsen sein!«

»Nun, das sind Sie auch«, stellte er belustigt fest. »Wir sind weggezogen, da trugen Sie noch Zöpfe. Es sollte mich wundern, wenn Sie sich an mich erinnern. Unser Haus stand jahrelang leer. Da haben sich die Nachbarn alle aufgeregt. Nun hab ich es umgebaut und nun regen sie sich noch mehr auf.«

»Oh, der graue Würfel an der Ecke«, rutschte es Tilla heraus.

»Genau der«, schmunzelte er und fügte hinzu: »Ich bin Architekt.«

»Ah, Architekt«, wiederholte Tilla dümmlich und zermarterte sich den Kopf nach etwas Nettem, was sich zu diesem merkwürdigen Wohngebilde sagen ließ. »Äh, wie schön, dass die Bäume bei diesem Umbau nicht weichen mussten«, brachte sie schließlich hervor.

»Ja, ich denke, den Bäumen hat’s gefallen«, antwortete er grinsend. Dann sah er die Straße hinunter und erklärte: »Ich muss los. Wir sehen uns sicherlich noch.«

»Ja, natürlich. Vielen Dank noch mal«, antwortete Tilla und sah ihm nach. An seinem Haus angekommen begrüßte er eine sehr schmale Frau mit kurzen dunklen Haaren. Tilla schloss nachdenklich die Tür. Trotz dieser Narbe im Gesicht sah dieser Mann recht gut aus. Die plötzliche Stille umgab sie wie ein schlechter Geruch. Nun bedauerte sie es, dass sie ihn nicht hineingebeten hatte. Doch dann maßregelte sie sich selbst: »Quatsch! Was hätte wohl seine Freundin dazu gesagt. Wahrscheinlich hatte dieser römische Imperator recht, mich wegen sexuellen Übereifers zu verurteilen.« Endlich war er zurück, ihr Zorn. Sie stampfte in die Küche.

Gurgelnd meldete die Kaffeemaschine, dass der Kaffee fertig war. Tilla öffnete den Küchenschrank, um sich einen Becher herauszuholen, doch ihre Hand verharrte in der Luft. Eine einzelne Tasse mit goldenen Ranken auf türkisfarbenem Grund stand dort. Verwundert nahm sie die Wedgwood-Tasse in die Hand. Eine zweite Tasse? Hier im Schrank? Das Wedgwood-Porzellan gehörte in die Vitrine im Wohnzimmer. Sie musterte die Tasse nachdenklich. Innen waren noch hellbraune Schlieren zu sehen. Jemand hatte sie nur flüchtig abgespült und in den Küchenschrank gestellt. Die Polizei? Das konnte nicht sein. Hätten dort zwei Tassen auf dem Tisch gestanden, hätten die doch sicher nach dem Besucher gefahndet. Hatte Tilla damals eine zweite Tasse gesehen? Hatte dieser Kamenz eine zweite Tasse erwähnt? Nein, da war sich Tilla sicher.

Einer Eingebung folgend wickelte sie auch diese Tasse zusammen mit der Untertasse in Zeitungspapier. Sie starrte das Paket sinnend an. War das die Lösung? Ein Besucher? Hatte der ihre Mutter zu diesem Entschluss getrieben? Oder gar gezwungen?

»Vielleicht sollte die Polizei davon erfahren«, murmelte Tilla nachdenklich. Sie stellte das verpackte Geschirr in die Ecke der Küchenbank und beschloss, sie in allernächster Zeit zur Polizei zu bringen. Tilla füllte ihren Kaffeebecher, warf einen scheelen Blick auf die Sitzecke, an der ihre Mutter gestorben war, und ging mit dem Kaffee ins Wohnzimmer.

Lustlos blätterte sie die Post ihrer Mutter durch und ließ sie auf dem Wohnzimmertisch liegen. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, aus der ein Packen brauner Umschläge ragte. Ihre Mutter hatte ihr in den vergangenen Monaten regelmäßig weitere Fortsetzungen von der Harcylugh-Geschichte geschickt. Offenbar hatte Hedera wieder angefangen, an ihrer Sagensammlung zu arbeiten. Die Historie und die Sagenwelt zu verbinden, war immer Hederas große Leidenschaft gewesen. Und dann plante sie die eigene Beerdigung? Tilla ließ den Kopf hängen.

Als sie den Blick wieder hob, starrte sie auf die Vitrine mit dem restlichen Wedgwood-Porzellan. Die Polizei würde sagen, dass ihre Mutter einfach zu faul gewesen war, die Tasse ins Wohnzimmer zu bringen. Tilla wusste es besser. Hedera hatte an ihrem letzten Tag im Leben einen Besucher gehabt. Jemand, der versucht hatte, seinen Besuch zu vertuschen. Wer tat so etwas? Ein Mörder?

Nein, das konnte nicht sein. Den giftigen Sud hatte eindeutig ihre Mutter gekocht. Wer hatte schon Eisenhut in seinem Besitz? Oder eine Verabredung zum gemeinsamen Selbstmord? Es war aber keine zweite Leiche da. Hatte dieser rätselhafte Besucher sie zum Selbstmord getrieben? Oder nur vorgegeben, das Gift zu trinken? Hatte er sie ermordet? Mit Giftsud, den Hedera selbst gebraut hatte?

Tilla erstickte in Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.

Kapitel 10


Bei den Celtae sind sowohl die Welt als auch die Seele des Menschen unvergänglich. Aber eines Tages werden nur noch Wasser und Feuer herrschen.

– Strabon IV, 4 –

Nach seiner Rückkehr von den Feuerklippen sammelte Thurizan die Seinen um sich. Er erzählte ihnen von seiner Zwiesprache mit den Göttern und ließ den Stein herumgehen. Fehuz, die Rune des Feuers, die darin zu sehen sei, stehe für einen Neuanfang, erklärte ihnen der alte Druide. Für Neuanfang, aber auch für Kampf. Aus dem Feuer werde er eine Waffe entstehen lassen, mächtiger als alle Waffen der Feinde zusammen. Gemeinsam dankten sie den Göttern für deren Rat. Alle betrachteten den Stein voller Ehrfurcht und nickten einträchtig. So deutliche Götterzeichen waren selten.

Thurizan kannte jeden Winkel seiner Heimat. Er wusste genau, wo er jenes Gestein fand, welches Metall enthielt. Es brauchte nur einen einstündigen Marsch, es zu finden. So brach er mit den Männern des Dorfes auf, um Erz zur Waffenherstellung zu bergen. Dieses Mal sammelten sie nicht, wie sonst, das Gestein mit den hellen Spuren des silbrigen Mondmetalles, sie suchten nach dunklem Erz mit roten Spuren darin. Es enthielt ein Metall, hart wie Alisannos’ Fels. Fast zwei Monde lang hatten alle zu tun, bis unzählige Körbe hin und her gewandert waren und ein großer Berg des schweren Erzgesteins vor dem irdenen Ofen im Dorf lag. Frauen und Kinder zerstießen das Erz in kleine Stücke.

In der Vollmondnacht des Gottes Lugh, der Nacht des Feuers, heizte Thurizan den irdenen Ofen mit geschwärztem Holze aus neunerlei Bäumen. Der Rauch stieg auf und Thurizan betrachtete ihn prüfend. Er wartete, bis die wirbelnde Säule weißer und grauer kleiner Wolken eine gerade Linie ergab. Nun wusste er, die Himmelsgöttin Brigidh nahm seines Feuers Atem ohne Umwege auf und schenkte ihnen damit ihr Wohlwollen. Nach einer Zeit begann Thurizan das zerkleinerte Gestein in den Schlot des Schmelzofens zu füllen. Weise in seinem Handwerk blies er die Glut, hielt inne, blies wieder und hielt wieder inne. Nach einer Weile prüfte er die Temperatur und betrachtete dazu die Glut. Alle sahen ihm interessiert zu. Er erklärte den Seinen, dass ihm die Farbe der Flammen verriet, wann jene Hitze erreicht sei, an dem das Eisen aus dem Erze zu rinnen beginne. Lächelnd wies er auf eine Grube unterhalb des Lehmschlotes. Unter großem Jubel der Dörfler begann sie sich mit einer feurigen Masse zu füllen, die sich einer Schlange gleich aus dem Rennofen wand. Die Fließfähigkeit des heißen Metalls behagte Thurizan wohl und er wusste, dies würde auch ohne Magie eine starke Waffe werden. Thurizan hatte weitere Erze mit anderen Mineralanteilen gesammelt, die, in wohl bemessenen Mengen dazugegeben, dem späteren Schwert genau die richtige Dichte zwischen spröde und biegsam geben würden. Keine andere Klinge würde dieses Schwert zum Bersten bringen, wohl aber vermochte diese Klinge ein anderes Schwert mit einem beherzten Streich zu entzweien.

So schmiedete der Druide die mächtige Waffe aus den Schätzen des Harces, welche ihm durch den Herrn der Elemente gegeben. Und Crodo war großzügig in seinen Gaben gewesen. Immer wieder hatte Thurizan das Schwert dem heiligen Feuer anheimgegeben und seine machtvollen Worte in den Rauch geraunt. Als letzten Schritt schmiedete er am Ende des Griffstückes eine eiserne Klaue aus kunstvollen Ranken, die den Sonnenstein sicher an seinem Platze hielt und doch genug des Lichtes hindurch ließ, auf dass das Zeichen des Feuers zu sehen sein würde. Nun war es vollbracht. Ein Kleinod von unvergleichlicher Schönheit und von großer Macht war entstanden. Ein Schwert nach Manier der Celtae, länger als das Gladium der Römer, schwerer als derer viere, glänzend, als habe der Sonnengott Belenus höchstselbst es berührt, der Griff verziert mit dem Metall des Mondes, endend in dem magischen Stein, der Feuer spie, wurde das Schwert in großem Zorn geführt.

Zwischen den Zeilen erkannte Tilla eine kleine Bleistiftskizze. Sie wusste, es handelte sich um die Skizze zu einem Ölbild, das ihre Mutter mal gemalt hatte. Es zeigte ein Schwert, das sich aus einer Flüssigkeit zu erheben schien. Früher hatte Tilla immer gedacht, ihre Mutter habe Excalibur, das Schwert König Artus, gemalt. Doch nun verstand sie dieses Bild im Zusammenhang mit der Geschichte. Um ein Schwert entstehen zu lassen, braucht es alle Elemente; Feuer, Wasser, Erde, Luft, hörte sie ihre Mutter wispern.

 

Seufzend ließ Tilla die Blätter mit der Harcylugh-Geschichte sinken. Überall im Haus nahm sie ihre Mutter wahr. Hier eine schwache Spur ihres Maiglöckchenparfums, dort ein Schatten, als husche Hedera gerade um die Ecke. Ihre Mutter war allgegenwärtig. Nur sie selbst existierte in diesem Haus nicht mehr.

Diese Feststellung hatte Tilla mehr als alles andere erschüttert, und sie verstand es nicht. Ihre Mutter hatte jede Spur von ihr getilgt. Kein einziges Foto von ihr hing an den Wänden, die früher unter der Last von Hederas Fotos und Zeichnungen von Tilla fast zusammenzubrechen drohten. Selbst Tillas Jungmädchenzimmer war zu einem unpersönlichen Gästezimmer umfunktioniert worden. Kraftlos saß Tilla auf dem Boden des Wohnzimmers und starrte in den Garten. Sie hatte zuletzt nicht gerade ein harmonisches Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, aber dass Hedera ihre Existenz geradezu aus diesem Haus herausradiert hatte, schmerzte unendlich.

Es hatte aufgehört zu regnen. Tilla stand auf, öffnete erst den einen, dann einen weiteren ihrer noch immer unausgepackten Koffer im Flur, bis sie ihre Laufschuhe gefunden hatte. Sie streifte sie über, schnappte sich ihre Jacke und verließ das Haus.

Nach einer viel zu kurzen Aufwärmphase lief Tilla in hohem Tempo den Waldweg entlang Richtung Stapelburg. Mit bösartiger Befriedigung registrierte sie die Warnzeichen ihres Körpers. Sie wusste sehr wohl, dass sie mal wieder die Grenzen überschritt. Es war, als wolle sie ihren Körper für das bestrafen, was geschehen war.

Ich bin schuld, ich bin schuld, ich bin schuld … hämmerte es bei jedem Schritt in ihrem Kopf und sie gab sich den Wellen des Schmerzes bewusst hin. Irgendwann kam jedoch der Punkt, den sie für sich immer mit ›Abheben‹ beschrieb. Die Seitenstiche hörten auf, der Atem fand seinen Rhythmus und die Muskeln spannten und entspannten nahezu ohne ihr Zutun. Rhythmisch und federnd lief sie Kilometer um Kilometer, bis sie die Ecker erreichte, wo sie sich nicht etwa eine Pause gönnte. In unvermindertem Tempo lief sie zurück Richtung Bad Harzburg. Doch nach einer Weile hatte sie das Gefühl, dass ihr die Lungenflügel zu zerspringen drohten, und verringerte die Geschwindigkeit. Im gleichen Maße, wie ihre Beine ruhiger wurden, verstärkte sich das Wirbeln ihrer Gedanken, was mehr schmerzte als ihre malträtierte Oberschenkelmuskulatur.

Sie hatte ihre Mutter verloren, sie hatte Nina verloren, sie war bestraft und als Hexe beschimpft worden. Und sie hatte jegliche Möglichkeit verloren, doch noch etwas über ihren Vater zu erfahren.

Fast war es, als hörte sie ihre Mutter flüstern: Deine Aura schwankt zwischen aggressivem Rot und unruhigem Orange …

»Ich weiß«, fauchte Tilla ins Nichts. »Dazu hab ich ja wohl auch allen Grund! Wie immer ist es dir auch diesmal gelungen, meinen Fragen elegant aus dem Wege zu gehen!«

Sie gab ein Geräusch von sich, das entfernt an den Kampfschrei orientalischer Frauen erinnerte, und trampelte auf dem Waldweg herum, als gelte es, ihn zum Einsturz zu bringen. Erst als sie sich etwas beruhigt hatte, merkte Tilla, dass ihr eisiger Wind entgegenpfiff. Mit einem ungnädigen Ruck zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. In diesem Moment hüllte sie ein Sonnenstrahl ein, der dem kahlen Novemberwald ein kleines Stückchen Freundlichkeit gab. Tilla ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sofort spürte sie, wie sich die dunklen Schatten ihrer Gedanken leichter zurückdrängen ließen.

So ist es recht, mein Kind, du musst dich erden, damit sich deine Energien mit denen der Natur verbinden. Die Kraft der Erde wird deine schlechten Energien verdünnen und damit umgestalten …

»Mutsch, lass mich in Ruhe! Meine Energien sind so explosiv, die reichen, um den halben Harz wegzusprengen.«

Es sind ungesunde Energien, die sich immer stärker mit deinem Selbst verbinden. Du kannst sie nur ableiten, indem du sie durch dich durchlässt und durchlebst. Nur dann kann die Wunde heilen ...

»Ich will aber nicht!« Tilla und zuckte vor der Heftigkeit ihrer eigenen Worte zusammen. Verstohlen sah sie sich um. »Heilige Göttin! Jetzt streite ich mich schon mit meiner toten Mutter auf einem Waldweg herum.« Es wurde Zeit, dass sie zurück nach Hause und zurück ins Leben kam. Es dämmerte bereits.

Die Tortur hatte sich gelohnt, denn es ging Tilla viel besser, gerade so, als habe man ihr einen viel zu engen Mantel vom Körper gestreift. Tief sog sie die erdige Herbstluft ein. Als sie aus dem Wald auf die Schotterstraße trat, die zu ihrem Haus führte, kam ihr ein dunkler Wagen entgegen. Erst dachte sie, er wolle vor ihrem Haus parken, doch dann fuhr der Wagen ruckartig wieder an und so dicht an ihr vorbei, dass Tilla in den Matsch gedrängt wurde. Verärgert starrte sie in die getönte Autoscheibe, durch die rein gar nichts zu sehen war. Sie blieb am Wegesrand stehen und staunte dem Wagen nach, der unberechtigt den Waldweg entlangfuhr.

Den Mann im Fond des Wagens traf der Anblick der jungen Frau am Wegrand wie ein Schlag. Die Emotionen, die ihn so unvermutet überkamen, erreichten erstaunlicherweise die Grenze dessen, was er kontrollieren konnte. Dennoch hätte nur ein Beobachter, der ihn sehr gut kannte, das Zucken der kleinen Narbe bemerkt, die seine rechte Augenbraue teilte. Aber da es niemanden gab, der ihn gut genug kannte, blieb sein Gefühlssturm unbemerkt. Starr blickte er die junge Frau an und wurde geradezu durchgeschüttelt von Erinnerungen, die viele Jahre zurücklagen. Die schlanke Gestalt, das flammend rote Haar, dieses Gesicht … unfassbar! Diese Ähnlichkeit erschien ihm unmöglich und doch ... Sie stand dort am Wegrand.

Die wortreiche Rede seines Sitznachbarn schroff ignorierend befahl er: »Nicht halten! Fahr weiter!«