Durch die Knochen bis ins Herz

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Durch die Knochen bis ins Herz
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Erzsebet Szemes

Tadeusz Szymański

Marian Turski

Gabor Verö

Erna de Vries

Sonja Vrščaj

Elie Wiesel

und all die anderen …

»vernehmlich werden die Stimmen, die über der Tiefe sind.«

Theodor Storm

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Ihr müsst immer tapfer sein

Oliven sind groß

Durch die Knochen bis ins Herz

Eine Ameise kommt immer davon

Das Gesicht eines Menschen

Unter ihnen leben

Nachwort

Über den Autor

Impressum

Ihr müsst immer tapfer sein

Schon bald nach unserer Ankunft in Amerika fing ich an, mich für Tennis zu interessieren. An jedem Platz, an dem mein Bruder und ich vorbeikamen, blieb ich stehen, drückte mich an den Drahtzaun und beobachtete durch die Maschen hindurch die Menschen auf den Spielfeldern, bewunderte ihre weiße Kleidung, die Schnelligkeit des Spiels und die in meinen Augen unübertrefflich elegante Bewegung, mit der die Spielerinnen oder die Spieler den am Boden liegenden Ball mit dem Schläger am Fuß entlang hochzogen und er in Richtung der geöffneten Hand flog, die ihn fest und selbstverständlich auffing und umschloss. Außerdem liebte ich das Geräusch, wenn der Ball auf den Schläger traf. Immer war es Leon, der drängte: Komm, wir müssen weiter, wir können hier nicht ewig herumtrödeln. Murrend hob ich dann die schwere Tasche mit den Zeitungen und Werbeprospekten an, und wir drehten weiter unsere Runde. Einmal würden auch wir auf einem solchen Platz stehen, einmal würden auch wir dazugehören.

Später, als ich längst glaubte dazuzugehören, habe ich mir sogar neben unserem Haus auf dem Land einen Tennisplatz anlegen lassen. Das schien mir der Gipfel meiner Wünsche zu sein, und ich war dankbar, dass mir nach allem Schlamassel das Schicksal so gnädig war und mich sogar mit einem eigenen Tennisplatz beschenkte. Trotzdem ging ich zum Spielen auch in die benachbarten Clubs, in zweien von ihnen war ich sogar Mitglied. All das, was ich hier erzähle, beginnt in einem von ihnen, dem Lake View Country and Tennis Club, der genau elf Minuten Fahrtzeit von unserem Landhaus entfernt liegt. Vor vielen Jahren, nachdem in der Nachbarschaft gemunkelt worden war, dass jetzt auch Juden als Mitglieder akzeptiert würden, hatte ich sofort die Mitgliedschaft beantragt. Sie sollten doch sehen, was sie davon haben. Dass ich gleich in den zwei ersten Jahren meiner Mitgliedschaft Vereinsmeister geworden bin, erfüllte mich damals und erfüllt mich bis heute mit kindischem Stolz, so als hätte ich ihre Ignoranz und ihre Vorurteile endgültig in die Flucht geschlagen.

Im Lake View spielte ich oft mit Barry, der nur wenige Straßen von meinem Büro in Manhattan entfernt sein Geschäft hatte. Er handelte mit Fliesen und Kacheln, renovierte Badezimmer und reparierte Heizungsanlagen. Im Lauf der Jahre hatte er sich selber zugekachelt, er war stockkonservativ und beurteilte das Leben ausschließlich auf Grund seiner Umsätze. Wenn man ihn fragte, wie geht’s, Barry?, hob er die Hand, zeigte vier Finger und sagte: Vier Angestellte. Was immer das heißen sollte. Aber er spielte ein verflixt gutes Tennis, so als liefe auf dem Platz der gute alte Barry herum, der Barry, den es gegeben haben musste, bevor er beschlossen hatte, sich mitsamt seinen Kacheln und Fliesen einzumauern. An einem Tag Anfang Mai hatten Barry und ich uns wieder einmal zu einem Match verabredet. Die Sonne brachte uns schon tüchtig ins Schwitzen, und als wir nach dem Spiel auf dem Weg zu den Duschen waren, die Handtücher lässig um den Hals gelegt, zeigte Barry beiläufig auf meinen Unterarm und fragte: Da, wo du warst, was gab es dort für Sportmöglichkeiten? Hast du dort mit dem Tennis angefangen?

In diesem Moment kam mir blitzartig ein Abend vor vielen Jahren in den Sinn, als Hannah, Eve, Ben und ich noch jung waren und uns regelmäßig einmal im Monat zum Dinner bei Katz‘s Delicatessen in der Lower East Side trafen. Auch das muss im Frühling oder Sommer gewesen sein, denn mein Freund Ben und ich trugen kurzärmelige Hemden und Hannah und Eve ärmellose Kleider. Bei keinem von uns hatten sie damals an Tinte für die Nummern gespart. Sie waren groß, krakelig und schwer zu übersehen. Nicht, dass es bei Katz‘s irgendwie aufgefallen wären. Dort saßen in diesen Jahren, die man ohne Übertreibung noch zu den Nachkriegsjahren rechnen konnte, viele, die auch Gezeichnete waren, aber dennoch entspann sich an diesem Abend zwischen uns vieren eine Diskussion, ob man sich die Nummer nicht doch besser entfernen lassen sollte, weil sie im alltäglichen, sommerlichen Umgang zu auffällig war und Menschen verschreckte oder auf Distanz hielt. Wir wollten nichts Besonderes mehr sein, wir wollten dazugehören. Das war alles. Es war Ben, der schließlich sagte: Auch wenn wir sie wegmachen lassen, wird sie nicht weg sein. Und es käme mir vor, als ließe ich meine Eltern und Geschwister im Stich, die dort geblieben sind. Ich kann sie nicht allein lassen. Sie lassen mich auch nicht allein. Das war das Ende der Debatte. Alle unsere Nummern sind geblieben. Und das ist der Grund, warum Barry nach diesem Match auf meinen Arm zeigen und seine Frage loswerden konnte.

Gleich nachdem ich vom Tennisplatz nach Hause gekommen war, rief ich Leon an, der mittlerweile Arzt am Mount Sinai Hospital in Chicago war. Ich erzählte ihm von Barrys Frage, die mich immer noch empörte, und hoffte, dass er in meine Empörung einstimmen und die Ignoranz dieser ahnungslosen und oberflächlichen Welt der Barrys mit mir verdammen würde. Aber Leon blieb ganz ruhig und sagte bloß: Erzähl ihm, wie es war. Setz dich mit ihm im Clubhaus an die Bar und rede. Du bist von uns beiden der Redner. Du musst es erzählen. Und du musst bald anfangen, sonst werden immer mehr solcher Fragen auf uns alle zurollen. Sie könnten auch fragen, ob wir beim Mittagessen die Wahl zwischen verschiedenen Menüs hatten oder ob sie für die Juden koscheres Essen angeboten haben. Oder ob wir Radio hörten und in der Lagerbibliothek Bücher ausleihen durften, ergänzte ich ihn. Wir lachten, und ich legte auf.

Jetzt lag der Ball bei mir. Und so machte ich mich am nächsten Morgen auf zu Barry, um einen Termin für ein Match und ein Gespräch danach zu verabreden. Er stand in einem dunkelblauen Overall hinter dem Ladentisch und suchte mit gesenktem Kopf etwas in einer Schublade. Wie wäre es mit einem Match am kommenden Sonntag und zwei Stunden deiner Zeit danach, fragte ich ihn, ich will dir etwas erzählen, hob meinen Unterarm etwas an und drehte die Nummer zu ihm hin. Barry war verlegen, er wurde sogar etwas rot und stand immer noch mit gesenktem Kopf vor dieser Schublade. Die ganze Sache war ihm offensichtlich peinlich. Hör zu, Sportsfreund, sagte er, als er den Kopf endlich ziemlich ruckartig anhob: Ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich bin nur ein einfacher irischer Klempner, ich verstehe wenig von der ganzen Sache, und er zeigte auf meine Nummer. Ich war einfach nur neugierig und habe gefragt. Am liebsten hätte ich mir gleich darauf die Zunge abgebissen. Wie komme ich dazu, in deine Geschichte einzudringen. Ich entschuldige mich dafür. Schon ok, Barry, antwortete ich ihm: Was sagst du zu meinem Angebot? Ok, antwortete Barry bloß und fiel mit seinem Blick schnell in die Schublade zurück. Und ich ging hinaus auf die Straßen Manhattans, auf denen an diesem frühen Morgen kaum Autos und Menschen zu sehen waren, und hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, dass es möglich sein könnte, der Angst etwas Entscheidendes entgegenzusetzen und nicht nur diesen Straßen, sondern auch dem Leben zu vertrauen. Bevor ich losgegangen war, hatte ich mit Hannah und den Kindern gefrühstückt. Das war wohl der Grund.

 

Am Freitag vor unserer Verabredung rief Barry mich an, druckste erst um das Wetter herum und fragte dann, ob es nicht einfacher wäre, wenn wir zusammen zum Tennis-Club fahren würden. Er könnte mich am Sonntag nach der Messe abholen und wir hätten schon auf der Fahrt Gelegenheit, ein bisschen zu quatschen. Was dazu führte, dass ich wie geplant mit der Familie am Freitag zu unserem Landhaus fuhr und am Sonntag früh alleine nach New York zurückrauschte, um mich von Barry abholen zu lassen. Die ganze Sache begann mich zunehmend zu verunsichern, und ich fragte mich ernsthaft, ob ich mir von Leon nicht etwas hatte aufhalsen lassen, was meine Möglichkeiten überstieg. Barry war noch im Sonntagsstaat, als er vor unserem Haus vorfuhr, schwarzer Anzug, dunkelblaue Krawatte, und als ich in das Auto stieg, meinte ich, Weihrauch zu riechen, der sich im schweren Stoff seines Anzugs festgesetzt hatte. Wir hatten noch keine halbe Meile zurückgelegt, als Barry mit der ersten Frage loslegte, und die Verlegenheit, die sich zwischen uns hatte ausbreiten wollen, verdrückte sich in Sekundenschnelle. Warum sind die so groß, fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Zahlen auf meinem Arm: Sieht aus, als hätten Kinder geübt. Und obwohl ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wo der Anfang meiner Erzählung war und wie sich das alles in Worte fassen ließ, was wir erlebt hatten, begann ich zu berichten.

Womit habe ich angefangen? Dass zwei Jungen mit ihren Eltern und vielen anderen Ende August 1944 aus einem Zug geklettert sind – kein normaler Zug, Viehwagen, verstehst du –, sie heißen Roman und Leon und sind knapp fünfzehn und dreizehn Jahre alt. Der Fünfzehnjährige ist relativ klein, hat aber ein altes Gesicht. Der Dreizehnjährige steht mit dem Gesicht eines Kindes neben den Gleisen, aber er ist hoch aufgeschossen. So kommen beide davon. Ihre Eltern, die noch jung, aber hier schon viel zu alt und ausgezehrt sind, stehen schon auf der anderen Seite einer unsichtbaren Linie, die Leben und Tod voneinander trennt. Das aber wissen sie jetzt noch nicht. Leon dreht sich oft zu den Eltern hin und kämpft mit den Tränen. Ihr seid meine großen Jungs, hat die Mutter im Zug gesagt, ihr müsst immer tapfer sein, egal was kommt, und Leon will tapfer sein. Dann führt man sie davon. Die Eltern werden im Hintergrund immer kleiner, bis sie ganz verschwunden sind. Jetzt geht es um eine langgezogene Ecke, hier kann man vom Anfang des Zuges bis zum Ende sehen. Es ist ein langer Zug, der schließlich in einem großen Backsteingebäude endet, wo sich alle in einem großen kahlen Raum entkleiden müssen. Das alles geht nicht gemütlich ab, oder zivilisiert, sondern es wird gebrüllt, geschlagen und getreten. Und dann, Barry, stehen wir nackt in einer langen Reihe, die sich schnell vorwärts bewegt. Einige recken die Hälse, um über die anderen hinwegzusehen und zu erhaschen, was dort vorne vor sich geht: Eine relativ kleine Kammer, über deren Eingang die Deutschen freundlicherweise angeschrieben haben, wozu dieser Raum dient: »Haarschneideraum« steht dort, und das heißt, dass zwei Männer in gestreiften Anzügen auf dich warten: Der eine hält dich auf dem Stuhl fest und der andere schert dir in Blitzesschnelle mit einer elektrischen Maschine die Haare ab. Das tut weh, und wo sich die Maschine in deiner Haut verbissen hat, blutet es auch. Dann, Barry, wirst du weitergeschoben. Du kannst dich nur kurz umdrehen, ob Leon noch hinter dir ist: Jetzt sitzt er auf dem Stuhl, und die Maschine beginnt erneut zu surren und zu beißen. Ein paar Meter weiter greifen dich wieder zwei der Gestreiften, und jetzt Barry, musst du aufpassen. Der eine reißt deinen rechten Arm hoch, bis er etwa waagerecht liegt, und wieder wirst du festgehalten, wie ein bockiges Schaf. Der andere kommt näher mit seiner Nadel, und ehe du dich versiehst, hat er dir mit Tinte eine Nummer eingestochen, die irgendwo in einer Liste vorgegeben war, weder gerade noch schön, es sieht aus als hätte er die Zahlen geohrfeigt und dich mit dazu. Das ist jetzt deine Nummer, das ist jetzt hier dein Name, denn du bist kein Mensch mehr, sondern ein Häftling, ein Sklave, ein Untermensch, so wie ich und wie Leon auch.

Ich habe erzählt und erzählt. Die Worte stürzten aus meinem Mund, als wären sie über Jahre eingekerkert gewesen und würden jetzt in die Freiheit entlassen. Wie groß waren die Lager I und II, wo kamen die Züge an, wie viele Menschen waren in einem Waggon eingesperrt, was bedeutete die Selektion, aus welchen Ländern kamen die Menschen, warum die Juden, warum die Roma, warum die Polen, warum die Russen, waren Leute aus Frankreich da, aus Italien, aus welchen anderen Ländern: warum, warum, warum. Wir waren längst auf dem Parkplatz am Club angekommen, aber wir stiegen nicht aus. Barry hielt das Lenkrad des Wagens mit beiden Händen fest, er hatte sich in den Sitz gepresst und guckte geradeaus, so wie ich auch. Ich sprach von unserem Hunger, vom Dreck, von den Sterbenden und den Toten. Und von unseren Eltern, die wir nie wiedergesehen haben. Als ich von den Kindern sprach, hatte ich Angst, dass er das Lenkrad zerbrechen würde. Immer wieder gingen Clubmitglieder über den Parkplatz und schauten neugierig zu unserem Wagen herüber. Der dicke Dave, der für seinen watschelnden Gang und seinen schalen und glucksenden Humor bekannt war, rief zu uns herüber: Na, habt ihr da ein Rendezvous, ihr zwei Hübschen? Lasst euch nicht stören! Ich bin sicher, dass Barry weder ihn noch irgendetwas anderes gehört hat. Er hatte sich aus seiner gefliesten Welt aufgemacht und auf meine Erinnerungen eingelassen, er empfand mit mir und er litt wie ein Hund. Ich hätte heulen können. Und musste eine Pause machen, weil ich sonst genauso zu weinen begonnen hätte wie Barry, dem lautlos die Tränen die Wangen hinunterliefen, während er noch immer das Lenkrad festhielt.

Als die Stille schon einige Zeit gedauert hatte, fragte Barry leise: Hat sich denn niemand gewehrt? Da war einer mit einem Nagel, antwortete ich, als ich im Baukommando war. Ein polnischer Jude, so wie Leon und ich. Er war etwa fünf Jahre älter als ich und hieß Wolf mit Vornamen. Wolf kam aus Koło, nicht dass du das kennen müsstest, eine kleine Stadt im Westen Polens, an einem Fluss gelegen, der Warthe heißt und in die Oder mündet. Entschuldige, dass ich das hier so aufsage wie ein Gedicht, aber ich höre immer noch die Stimme von ihm, wie er beim Steineschleppen von seiner Stadt erzählt und von der Schönheit des Flusses, in dem oft Inseln aus Gras Richtung Meer geschwommen sind. Und obwohl Wolf eher ein mickriger und ängstlicher Bursche gewesen ist, muss er irgendwo bei der Arbeit einen Nagel abgezweigt haben. Das war natürlich verboten, und wenn sie ihn erwischt hätten, hätten sie ihn vielleicht totgeschlagen, aber Wolf hat den Nagel nie bei sich getragen, sondern in einer Mauerritze versteckt. Ab und zu, wenn wir für einige Minuten unbeobachtet waren, hat er mit den Augen schnell zur Sicherheit nochmal alle Richtungen abgesucht, dann eine kurze Drehung zu mir, Finger an den Mund, Psst, und schon ist er Richtung Mauerritze losgetrabt und mit dem Nagel am Ende des Appellplatzes um die Ecke von Block 6 verschwunden. Nach zwei, drei Minuten kam er zurückgerannt, der Nagel verschwand in der Mauerritze und er reihte sich zur Arbeit ein. Das habe ich über die Wochen, die wir gemeinsam geschuftet haben, immer wieder beobachtet. Und du kannst dir vorstellen, Barry, dass ich verdammt neugierig war, was um Himmels willen Wolf mit dem Nagel anstellte. Und so habe ich ihn eines Tages gefragt: Wolf, du weißt, dass es jedes Mal lebensgefährlich für dich und auch für uns ist, wenn du aus dem Kommando verschwindest, was zum Teufel machst du mit dem Nagel? Ich habe Angst, dass sie mich umbringen, dass ich das hier nicht schaffe, dass ich einfach verschwinde. An die hintere Außenwand von Block 7 ritze ich meinen Namen und meine Adresse ein, zusammen mit der Nummer, die sie mir verpasst haben. Verstehst du? Das ist mein Beweis. Ich habe kein Gewehr, aber ich habe einen Nagel, wenigstens etwas.

Angekommen, sagte Barry, die Botschaft ist angekommen. Sehr mutig, dein Freund. Weißt du, was aus ihm geworden ist? Bis Ende November 1944 waren wir zusammen im Kommando. Er muss Ende Oktober mit seinem Namen schon fertig gewesen sein, denn im November blieb der Nagel in seinem Versteck und wurde nicht mehr gebraucht. Alle Wege waren tief verschneit, und wir haben erbärmlich gefroren, so ausgehungert wie wir waren. Er hätte sich da auch nicht mehr vom Kommando absetzen können, denn sie hätten seine Spuren gesehen. Als das Kommando aufgelöst wurde, haben wir uns aus den Augen verloren, zwei Fäden, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Also im Lager habe ich ihn nicht mehr wieder gesehen, und ich wusste auch nicht, ob er die letzten Monate des ganzen Spuks überlebt hatte. Jahre später, als wir schon hier in Amerika waren und sich unser Leben langsam sortierte, trafen wir auf andere Überlebende, und so kam auch ein Kontakt mit einer Freundin von Hannah zustande, die in Toronto lebte. Hannah und Angela waren im Frauenlager in Birkenau in derselben Baracke gewesen. Angela war es, die uns schrieb, dass sie in Toronto mehrmals einen Überlebenden mit dem Vornamen Wolf getroffen hatte, der auch in Auschwitz Häftling gewesen war. Ob wir ihn kennen würden? Er sei ein mürrischer und einsilbiger Einzelgänger, schrieb Angela, niemand komme mit ihm zurecht. Weil sich das gar nicht nach dem Wolf anhörte, den ich vor Augen hatte, habe ich sie gefragt, ob es ein Foto von ihm gebe. Sie schickte uns wenig später ein Gruppenbild von einer Zusammenkunft Überlebender im Fairmont Royal York Hotel in Toronto. Und tatsächlich: Am äußersten Rand der letzten Reihe steht – schon fast im Dunkeln – ein unendlich trauriger Mann, den man nicht nach dem Weg fragen würde, auch wenn er der einzige Mensch auf der ganzen Straße wäre. Über seinem Kopf hatte Angela einen Pfeil eingezeichnet, aber ich hätte Wolf auch ohne Pfeil sofort erkannt. Es war gar nicht gut, ihn so wiederzusehen, und es tut mir immer noch weh, dass er sich in dieser Dunkelheit verloren hat. Bis heute bete ich darum, dass er sich auch an den anderen Wolf erinnern kann, der mich und andere in Auschwitz mit seinem Mut getröstet und mit seinen Erinnerungen ermutigt hat, wenn er von der Stadt seiner Kindheit erzählte und wir uns mit ihm zum Fluss vor der Stadt hinträumten, an dessen Ufer wir standen und den Inseln aus Gras nachsahen, die langsam der Oder und dem Meer entgegentrieben. Und bevor du fragst, Barry, natürlich habe ich nach seinem Namen gesucht, als ich das erste Mal wieder dorthin gefahren bin. Ich habe mir vor Anspannung fast in die Hose gemacht, als ich am Ende des Appellplatzes um die Ecke gebogen und zum Block 7 gegangen bin. Die Inschrift war da, im Meer der Backsteine siehst du sie kaum, du musst sie schon suchen, aber sie ist da, so wie Wolf sie mir beschrieben hat. Tief eingekratzt, in den Stein und in die Welt, das muss ein guter Nagel gewesen sein.

Und wieder saßen wir eine lange Weile schweigend im Auto, hatten die Seitenscheiben heruntergedreht und rauchten, bis Barry die Stille unterbrach und sagte: Eine letzte Frage noch, warum ich, warum hast du mich ausgesucht? Und durch den Rauch hindurch antwortete ich ihm: Ich laufe hier in diesem Club seit Jahren in diesen kurzärmeligen Tennishemden herum. Einmal hat der dicke Dave eine Bemerkung gemacht: Hey, Roman, du hättest dir die Telefonnummer doch nicht auf den Arm schreiben müssen, ich hätte dir auch einen Zettel geliehen, aber du, Barry, du warst der Erste, der ernsthaft gefragt hat, und ich hatte das Gefühl, du willst wissen, was die Zahlen wirklich bedeuten und was dahintersteckt. Ich habe vorher mit meinem Bruder Leon gesprochen und der hat mir gesagt, dass ich mit dir reden soll, dass wir die Fragen der Menschen beantworten müssen, bevor andere über uns und was dort geschehen ist, Unsinn und Lügen erzählen. Gut so, sagte Barry, ich bin dir sehr dankbar, und jetzt kommt das Match.

Ja, das war der Anfang: Ich bin dann über Jahre in Schulen gegangen, habe vor Studenten und allen möglichen Gruppen gesprochen, bin auf Stille und Tränen gestoßen, auf naive und kluge Fragen, auf Menschen, die mir auf den Wecker gefallen sind, weil sie mir mit ihren Gefühlen zu nah auf den Leib rückten, und auf Menschen, die verstanden haben, dass man nach zwei Stunden des Erzählens aus dieser grausamen und entsetzlichen Welt einfach eine Pause braucht, ein Glas Wein und ein Gespräch über Tennis, aber halt, vielleicht könnte ich noch die Geschichte über mein Tennismatch mit Barry erzählen und wie es angefangen hat, dass ich heute hier vor ihnen stehe. Nein, im Ernst, in all diesen Jahren wusste ich natürlich, dass dort draußen der Antisemitismus weiter existierte, dass Nazis durch die Welt geisterten und behaupteten, Auschwitz sei ein Fake und Gaskammern habe es dort nie gegeben. Und bei jedem meiner Auftritte war mir auch bewusst, dass es jenseits der Hörsäle eine andere, durchgedrehte Welt des Hasses und der Lüge gab, in der sich böse Menschen mit nicht enden wollender Energie auf die Überlebenden stürzten, um sie der Lüge zu bezichtigen und zu verhöhnen, weil sie genau wussten, dass die Überlebenden und ihre Zeugenaussagen der lebendige Beweis dafür waren, dass ihr Hass und ihre Ideologie die Welt schon einmal ins Verderben geführt hatten.

 

Im Juli 2016 reiste ich nach Auschwitz, diesmal ohne Hannah, die schon zu geschwächt war. Wir wollten Papst Franziskus begrüßen, der die Gedenkstätte gemeinsam mit vielen jungen Menschen besuchen würde. Ich hatte mit Interesse und Sympathie gehört, dass dieser Papst sich dafür entschieden hatte, in Auschwitz zu schweigen: Keine große Rede, keine Beschwörungen, keine Erklärungsversuche: Ein Schrei des Schweigens angesichts dessen, was hier geschehen war, und eine Nachfrage an die Gegenwart, so habe ich Franziskus verstanden, der mir mit dieser Geste noch sympathischer wurde. Und so warteten wir in der brütenden Hitze in Birkenau auf das Erscheinen des Papstes, wir hatten uns blauweiß gestreifte Tücher um den Hals gelegt, um als Überlebende erkannt zu werden. Normalerweise hasse ich solchen Mummenschanz, aber an diesem Tag war es mir und den anderen wichtig, der Welt zu zeigen, dass wir noch da waren und auch diese Gelegenheit nutzten, hier und heute Zeugnis abzulegen und im Schweigen des Papstes die Stimme derer zu sein, die man hier getötet und verbrannt hatte. Als der Papst sich verabschiedete, drängten Journalisten aus aller Welt auf uns ein, die uns nach unseren Eindrücken befragen wollten. Zum Schluss geriet ich an ein Team des spanischen Fernsehens. Der junge Reporter war höflich und verhielt sich dem Ort und dem Anlass angemessen: Sir, fragte er mich, wie viele Menschen sind hier gestorben? Niemand, antwortete ich ihm, niemand. Zuerst guckte er mich verwirrt an, dann wiederholte er leicht lächelnd die Frage – der alte Knacker hatte sie wohl beim ersten Mal nicht richtig verstanden oder war schwerhörig –, wie viele Menschen sind hier gestorben, Sir? Und ich antwortete erneut: Niemand, hier ist niemand gestorben. Sterben – das bedeutet doch eines natürlichen Todes zu sterben. Hier ist niemand gestorben. Hier wurden Menschen ermordet, mit Gas, durch Hunger, durch Schüsse – es gab viele Methoden, die Häftlinge umzubringen. Die Mörder waren sehr erfinderisch. Und die Ermordeten hat man in den Krematorien verbrannt und ihre Asche verstreut: Das ist hier geschehen. Thank you, sagte verblüfft der sympathische spanische Reporter und ich habe mich umgedreht und bin Richtung Bus gegangen, der uns zum Hotel zurückbringen sollte. Ich war ziemlich geladen, weil ich mich über die unbedachte Frage des Reporters aufgeregt hatte, aber noch mehr geärgert habe ich mich darüber, dass es im Trubel dieses Tages keine Gelegenheit gegeben hatte, dem Papst die Grüße seiner größten irischen Fans aus New York, Barry und Ehefrau, zu übermitteln. Gott sei Dank habe ich Franziskus am Abend dieses Tages noch einmal bei einer Begegnung im kleinen Kreis in Krakau getroffen. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich sowohl die besagten Grüße als auch die Bitte um einen Rosenkranz für Barrys Frau anbringen konnte. Ich habe den Rosenkranz in meinem Koffer verpackt wie die Kronjuwelen und war stolz auf mich: Da hatten Barry und seine Frau, die mittlerweile genauso klapperalt sind wie ich, im Tennisclub etwas zu erzählen, denn Spielen, das kommt für uns alle schon längst nicht mehr in Frage, aber unsere Plätze an der Bar sind immer noch reserviert.

Leon und ich waren im Mai 1946 in Amerika angekommen. Gemeinsam mit anderen Waisen, deren Eltern im Holocaust ermordet worden waren, hatten wir ein kollektives Visum für die USA erhalten. Ich habe damals Europa mit gemischten Gefühlen verlassen. Hinter uns beiden lagen nicht nur die entsetzlichsten Monate unseres Lebens im Ghetto und in den Lagern und der Verlust unserer Eltern, sondern auch die Erinnerung an die Liebe dieser Eltern und eine glückliche Kindheit. Ich habe Amerika damals nicht idealisiert, ich wusste viel zu wenig über diese Welt jenseits des Meeres, aber ich habe mich fest darauf verlassen und fest daran geglaubt, dass wir in ein Land kommen, in dem es nie eine SS geben wird und in dem nie irgendwelche Nazis Macht haben werden. Nie würde ich in diesem Land über Auschwitz sprechen müssen. Daran haben Hannah und ich uns in den ersten Jahrzehnten gehalten. Jetzt bin ich alt, Leon ist schon lange tot und auch Hannah musste gehen. Die letzten Jahre sind Jahre der Abschiede. Meine Haut ist dünner geworden, und die Traurigkeit, die Wolf schon viel früher gepackt hat, greift auch nach mir. In meinem ganzen Leben bin ich gegenüber Antisemiten und Holocaust-Leugnern ein zorniger und hoffentlich mutiger Mensch gewesen. Immer wieder hat der Zorn meine Angst und meinen Pessimismus besiegt. Für mich war mein Zorn auch immer ein Zeichen der Hoffnung, dass ich nichts verloren gebe. Heute sehe ich in den Nachrichten Menschen, die Auschwitz nicht mehr leugnen, sondern die es wieder aufbauen wollen. Sie tragen T-Shirts, auf denen »Camp Auschwitz« steht, und sie stecken in der Welt wie Kugeln im Lauf. Was soll ich noch sagen? Bei meinen Gesprächen mit jungen Leuten habe ich zum Schluss immer zwei Dinge betont: Noch mehr als die Grausamkeit der Täter hat uns alle damals die Gleichgültigkeit der Vielen verzweifeln lassen, die sahen, was geschah und sich weggedreht haben. Die Erinnerung an diese Menschen überzieht mich bis heute mit Eiseskälte. Das ist das eine. Und das andere? Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit die Zukunft unserer Kinder wird. Ja, das ist eigentlich alles. Über viele Jahre meines Lebens habe ich Fragen beantwortet: Barry, mein Freund, du warst der Erste, der mich gefragt hat. Und ich denke an meinen Bruder Leon, der mich ermahnt hat, zu antworten. Die beiden haben mich auf den Weg geschickt, und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein.

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