Hinter der Angst

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Hinter der Angst
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Christian Hartung

Hinter der Angst

Roman


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-966-5

© 2017 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Edvard Munch: Zwei Menschen. Die Einsamen. 1905

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Für Paul Gerhard Schoenborn

Du frygter ej Nattens Rædsler, ej Pilen der flyver om Dagen.

Dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen.

Psalm 91,5

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Lass es uns aufschreiben …

VOR DER BEFREIUNG

NACH DER BESATZUNG

DANN

Nachwort

Zeitleiste

Karte

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– Lass es uns aufschreiben.

– Willst du es nicht ruhen lassen? Du änderst doch nichts mehr daran.

– Eben. Sonst würde ich ja versuchen, es zu ändern. Darum möchte ich es wenigstens aufschreiben. Damit nicht alles vergessen wird.

– Aber für wen willst du das tun?

– Für Maj.

– Maj? Wer ist das?

– Unsere Tochter.

– Du hättest sie also Maj genannt.

– Im Mai haben wir uns geliebt. Als wir dachten, der Krieg sei zu Ende.

– Das ist er ja auch.

– Gewiss. Und sie bauen alles wieder auf. Als wäre nichts gewesen.

– Lea, ich will jetzt endlich mit dir nach vorne schauen. Nicht zurück.

– Wir haben von einer Welt geträumt, in der das nie wieder passieren würde.

– Ja, mit diesen Träumen haben wir uns geliebt. Aber es sind Träume geblieben, oder? Und Maj durfte nicht leben.

– Ich möchte ihr erzählen, wie es war. Und was wir alles für sie geträumt haben.

– Ach Lea, es ist neunzehnhundertdreiundfünfzig. Und gerade ist Sommer … Wer weiß, wie lange noch.

– Aber manchmal friere ich auch im Sommer.

– Auch in meinen Armen?

– Nein, da nicht. – Doch. Aber da wird es besser.

– Bleibst du denn jetzt?

– In Kopenhagen wartet niemand auf mich.

– In Kopenhagen hast du deine Arbeit.

– Ich finde auch hier was. Bei meinem Vater in der Kanzlei, an der Uni in Aarhus – oder du findest etwas bei der Polizei für mich.

– Und die Ministerin lässt dich gehen?

– Die geht vielleicht irgendwann ganz zur UNO. Ich an ihrer Stelle würde das tun.

– In Dänemark hat sich ja auch nicht viel geändert.

– Nein.

– Und wir waren alle im Widerstand.

– Aber sicher doch! Die einen im Untergrund, die anderen im Ministerium. Aber nur die einen mussten ins Gefängnis oder vors Erschießungspeloton. Jørgen, was soll ich da noch!

– Kleiner Feuerteufel.

– In Frostperioden sind die sehr praktisch, weißt du!

VOR DER BEFREIUNG

Der Frost hielt das Land fest im Griff. Man konnte freilich mit kleinen Einschränkungen seinen Geschäften nachgehen, der öffentliche Verkehr war nicht gefährdet. Die Meinungen waren keineswegs einheitlich, doch der Widerstand formierte sich offener.

Taarnby, der auf seinem großen schwarzen Fahrrad über die Søndergade zu seiner Dienststelle fuhr, bemerkte nicht einmal das gelegentliche leichte Rutschen der Reifen auf dem Asphalt, er dachte an Lea und setzte sie schließlich kurzerhand auf die Stange, fuhr mit ihr am Seeufer entlang oder noch weiter fort und bekleidete sie mit einem leichten kurzen Kleid und die Natur mit Laub, Juliwärme und Insekten, genoss einen Blick auf ihre schlanken hellen Schenkel, streifte ihre Schulter mit einem Kuss und verflocht die kupferblonden Strähnen mit dem Sommermorgen.

Am Abend hatte sie plötzlich im Hauseingang gestanden und war einen Schritt vorgetreten, als er näher kam, sie war ja im Untergrund. Sie habe ihn sehen wollen. Noch einmal, ein letztes Mal vielleicht, doch das sagte sie nicht. Du bist Jüdin, Lea, du solltest längst in Schweden sein, sagte er nicht, er kannte ihre Antwort. Stattdessen ließ sie durchblicken, dass es auch für ihn Zeit werde, in den Untergrund zu gehen, seine Einstellung sei bekannt, und früher oder später würden die Deutschen auch den letzten Anschein unabhängiger dänischer Behörden beseitigen. Da darauf eigentlich nichts zu erwidern war, küssten sie sich eine Weile nur.

Nicht über eine mögliche gemeinsame oder überhaupt eine Zukunft hatten sie am Ende miteinander gesprochen, sondern über Kaj Munk, der zum Sprachrohr eines ganzen Volkes geworden war, selbst die Kommunisten äußerten sich widerstrebend bewundernd über ihn. Lea meinte, ohne seine Schriften und Predigten wäre die Rettung der Juden vielleicht keine solche Selbstverständlichkeit im Land gewesen, und so habe ihre Familie es letztlich auch Pastor Munk zu verdanken, dass sie auf einem Fischerboot über den Sund entkommen konnte.

Das äußerste Meer. Flügel der Morgenröte. Auch dort deine Hand.

Ihre liebkosende Hand erzählte, was das Leben bereithielt. Nachdem sie es gelernt hatten, lasen seine Finger es um ihre Wangen und Augen. Wenn sie ginge – sie wussten es aufzuschieben –, bliebe er vielleicht mit der Finsternis allein und Nacht statt Licht.

Zwischen zwei Küssen: Der Pharao habe sicher auch seine Gestapo oder SS gehabt.

– Oh, Lea, deinen Sprüngen muss man erst einmal folgen!

– Ich springe nicht. Ich suche einen Ort, wo es gut wird. Und ich versuche, mir Mut zuzupfeifen. Vielleicht hatte Mose das auch nötig. Und vielleicht liegt Kaj Munk jetzt wach, überlegt seine nächste Rede gegen den Pharao und merkt, wie kalt und finster es ist.

Er sei ja vielleicht nicht allein.

– Wir sind nie allein, Jørgen. Jedenfalls versuche ich das zu glauben.

Die Nacht löste sich mühsam von den kalten Häusern. Selbst die Dachfenster erspähten noch keine Morgenröte.

Mittwoch, 5. Januar 1944. Unter den Schaufenstern der Schwanenapotheke waren schon mehrere Fahrräder abgestellt. Seufzend lehnte Taarnby sein Rad daneben an die Wand und verstaute die Hosenklammern in der Tasche seiner gefütterten Jacke, die er noch einmal geradestrich, bevor er die Treppe in den ersten Stock zum Büro der Kriminalpolizei nahm.


Verliebt, von der Familie getrennt, in den Untergrund gegangen: Bilanz eines Sommers, und der Winter würde vielleicht nie zu Ende gehen. Warum war sie noch einmal nach Silkeborg gekommen, als sei es dort August geblieben und Lea Frøhlich nicht längst und erzwungenermaßen so gut wie begraben. Sie hieß jetzt Gerda Hostrup Jensen. Jørgen hatte sie nichts davon erzählt.

Manchmal sehnte sie sich selbst nach der unschuldigen kleinen Frøhlich. Lille Frø, Fröschlein: Jørgen hatte den Spitznamen lachend aufgenommen, vor allem, als er sie zum ersten Mal schwimmen sah und bewundernd feststellte, sie sei wohl eher im als am See aufgewachsen. Wenn gar nichts mehr geht, schwimme ich nach Schweden, hatte sie gemeint, und er schien ihr das tatsächlich zuzutrauen.

Frosch, das war auch ihr Deckname, kürzer und damit passender als die schöneren, die Bjarne vorgeschlagen hatte, der auch nur Buch hieß, weil man ihn selbst jetzt kaum jemals ohne ein Buch in der Hand sah.

– Wofür brauche ich einen schönen Decknamen. Außerdem brauche ich bestimmt noch mehr, bis die Deutschen wieder zu Hause sind.

Du solltest längst in Schweden sein, hatten seine Augen geantwortet, er sagte es nicht mehr laut, sie wussten alle, dass es keinen Sinn hatte.

Nachrichten überbringen, illegale Zeitungen drucken und verteilen. Sie bestanden darauf, sie wenigstens dort einzusetzen, wo es nicht so gefährlich werden konnte, doch wusste man das vorher? Alles, was illegal war, war auch gefährlich, auf Unterstützung von Saboteuren stand sogar die Todesstrafe. Die Nachrichten waren keine Urlaubsgrüße, im Kopf hatte sie wichtige Namen und Adressen, und gerade enthielt ihr Rucksack neben dem, was man bei einer kleinen Studentin erwartete, auch Sprengstoff aus den Abwürfen der Engländer über Jütland. Sie lehnte ihren Kopf an den Rucksack und sah im Übrigen so unschuldig aus, wie es ihr zu Gebote stand.

 

Äußerlich glich sie dem Mädchen, das im Sommer vierzig zum Studienbeginn nach Kopenhagen gefahren war, sie betrachtete es mit sozusagen biologischem Interesse an der aufgeregten, leicht mulmigen Erwartung des Erstsemesters. Die jüdische Abstammung dieses Mädchens war damals gerade erst ein Problem geworden, aber König und Regierung bestanden unbeirrt darauf, dass sie nur dänische Staatsbürger kannten und eine Judenfrage in Dänemark nicht existiere. Mutiger geworden und zugleich erschrocken über die Blauäugigkeit ihrer Eltern, speziell ihres Vaters, warf sie sich aufs Jurastudium und beobachtete die politische Entwicklung. Als ein Kommilitone sie fragte, ob sie mehr tun wolle, zögerte sie nicht und verschwendete keinen Gedanken an mögliche Gefahren.

Sie sah nicht aus, wie eine Jüdin auszusehen hatte, was an einer nicht näher bestimmbaren Beimischung arischen Blutes oder an der dänischen Luft liegen mochte. Lea beneidete gelegentlich ihre schöne dunkelhaarige Cousine, die dafür auf den gänzlich unjüdischen Namen Tove hörte. Ansonsten hatte sie sich für ihr Äußeres lange wenig interessiert, jedoch schon vor Jørgen die Wirkung ihres Lächelns erproben können – aber erst Jørgen stellte fest, in ihrem Gesicht gehe dann plötzlich eine helle Lampe an; einmal, aber wirklich nur ein einziges Mal, hatte sie diese Lampe einem deutschen Offizier vorgeführt, um ihre Angst zu überspielen und unbeschadet von ihm loszukommen.

Tove und ihre Familie waren inzwischen Gott sei Dank in Schweden, das hatte die andere Cousine Edith aus Oslo nicht.


– Ein toter Mann … im Graben der Hauptstraße A 15 nach Pårup … Hørbylunde Bakker … um acht Uhr fünfzehn aufgefunden … Doktor Kronholm, Engesvang … Wir fahren sofort raus … Ihr Benzinvorrat ist zu klein – ja, dann nehmen wir einen Arzt mit. Und der Zeuge ist wieder an die Fundstelle gefahren? … Danke, Doktor.

Er notierte die Zeit des Anrufs: 9.15 Uhr, und informierte den Kriminalassistenten, der seinerseits einen Arzt und den Polizeimeister verständigte und Taarnby anwies, das Polizeiauto startklar zu machen und sich mit zwei weiteren Beamten bereitzuhalten.


ob man notfalls auch mit Gewalt vorgehen könne oder müsse, und dann beschafften sich Buch und Nielsen Sprengstoff und lernten, wie man damit Schienen wegsprengt, unmittelbar bevor ein Zug kommt. Das erste Mal richteten sie nur wenig Schaden an, doch es stand in der Zeitung, und sie wurden besser. Lea wusste zu viel darüber, und das reichte im Zweifelsfall. Vielleicht hatte es jedenfalls am Anfang noch etwas von Abenteuerspielen kleiner Jungs, aber vielleicht war dies dann auch die einzige Möglichkeit, es überhaupt zu tun, und bald dachte sie darüber nicht mehr nach. Es war Krieg, die Züge verlängerten den Krieg, alles verlängerte den Krieg, was aus Dänemark kam oder durch Dänemark hindurchfuhr. Dabei war der Krieg im Grunde entschieden, doch die Deutschen würden bis zum bitteren Ende kämpfen, und es kam mehr denn je darauf an, wo Dänemark stand. Die Alliierten zählten auf Dänemark, und nur die Widerstandsgruppen waren in der Lage, diese Erwartung zu erfüllen.

Aber ob man auch darüber hinaus Gewalt ausüben müsse, könne, dürfe oder solle. Gewalt nicht nur gegen Züge oder Gebäude oder vielleicht in Notwehr gegen die Besatzer. Es gab die ersten Liquidierungen. Denn es gab ja auch die ersten Hinrichtungen. Und man wusste, wer den Deutschen seine Landsleute verkauft hatte.

Sie solle lernen, ein Maschinengewehr zu gebrauchen, hatte Pastor Munk einer Freundin zurückgeschrieben. Christus habe befohlen, Witwen und Waisen zu helfen, und das könne man unter anderem dadurch, dass man die Räuber erschieße, die sie überfallen wollten. Es sei kein Christentum, andere den Verteidigungskampf und die Qual auf sich nehmen zu lassen und selbst sitzen zu bleiben und im Nirwana aufzugehen, sie solle jetzt lernen, in Jesu Namen zu töten.

Ihre Konfirmandenseele sei im Aufruhr gegen diesen Rat, erwiderte die Freundin. Lea fühlte sich nicht zuständig, das zu beurteilen, doch es leuchtete ihr ein, selbst Gebote über Bord zu werfen, wenn Menschen in Gefahr.


Der Tote lag auf dem Rücken am Rand der Böschung, das Gesicht zur Straße, die Beine leicht angewinkelt, die Füße im Straßengraben. Der Kleidung nach kein Landstreicher. Sah man näher hin, bemerkte man die Schusswunde in der linken Schläfe, gleich über dem linken Auge. Er war steif gefroren und fünf bis sechs Stunden tot. Eine Schiebermütze lag auf der Straße, in einer Blutlache festgefroren, darunter eine Kugel, vermutlich aus der Kopfwunde des Toten. In der Brieftasche fand sich die vorgeschriebene Legitimationskarte für das Sicherheitsgebiet Jütland, ausgestellt auf Kaj Munk, Gemeindepfarrer, Vedersø. Die weitere Untersuchung offenbarte eine Schusswunde im Nacken. Lippe und Nase waren geschwollen wie nach einem Schlag, möglicherweise durch den Aufprall. Neben der Leiche fanden sich außerdem eine Fellmütze und ein Koffer, in den Deckel eingeklemmt ein Zettel in fehlerhaftem Dänisch und deutscher Handschrift: Das Schwein habe nemlich doch für Deutschland gearbeitet. Die Hülse einer weiteren Patrone wurde sichergestellt.

Von Silkeborg war Luftalarm zu hören. Der Tatort wurde abgesperrt, als Menschen sich anzusammeln begannen, Reifenabdrücke wurden abgenommen und elf Fotografien gemacht. Der Rettungswagen wurde aus Silkeborg gerufen. Um 13.30 Uhr wurde die Leiche im Silkeborger Krankenhaus aufgebahrt.


Im Sommer nach ihrem Abitur hatte sie Kaj Munk zum ersten Mal persönlich erlebt. Dänemarks führender Dramatiker, der die Diktatoren bewunderte. Und trotzdem der Rufer in der Wüste gegen die deutsche Judenpolitik. Der Pfarrer, der sich im Namen seines Christus mit allen anlegte, wenn es darauf ankam. Sein Stück über den jüdischen Jesus war in Südjütland abgesetzt worden, aus Rücksicht auf den mächtigen Nachbarn. Mit der Nachbarschaft hatte es sich ja nun, und sie wartete darauf, dass einer die Scharen gegen Deutschland sammelte. Einer wie Kaj Munk.

Sie hatte von Hitler geträumt. Es waren diese Träume, in denen sie sich nicht bewegen und nicht schreien konnte. Und dann erzählte Munk von einem westjütischen Bauern, der Frau und Kindern den Hals durchschnitt und sich im Wald erhängte, nachdem er Hitler im Straßengraben gesehen haben wollte, der ihn von dort aus anstarrte. Lea starrte den unscheinbaren, mageren, etwas gebeugten Redner an, der sie aus der südfünischen Sommerlandschaft in die Welt ihrer Albträume beförderte.

Sie war bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Svendborg zu Besuch und mit ihnen nach Ollerup gefahren, wo Tove an der Sommerschule der Gymnastikhochschule teilgenommen hatte. So stand sie nun zwischen Onkel und Tante, sah die vielen hübschen Mädchen in ihren blauen Kleidern bei den Darbietungen, Tove strahlend mittendrin, und war überzeugt, ihre Cousine mache die beste Figur von allen, und dann der Festvortrag in der neuen großen Turnhalle. Unscheinbar und mager, wie gesagt, selbstironisch freundlich, mit leichter, unaufdringlicher Wärme – doch die Blumen hätten für ihn dieses Jahr nicht geduftet und der Gesang der Vögel sein Ohr nicht erreicht.

Die Besatzung. Und dann seien die Hauptstadtzeitungen ein paar Tage später wie immer in sein abgelegenes Nest gekommen, in der üblichen Stärke und ohne Trauerrand. Wie konnte das sein? Hitler. Eine der größten Gestalten der Weltgeschichte. Dagegen konnte eine parlamentarische Demokratie, die jedes Risiko scheute, nichts ausrichten. Hitler sei wie besessen, wie die Priesterinnen des delphischen Orakels, die unter Einwirkung giftiger Dämpfe unartikulierte Laute ausstießen, er könne agieren und agitieren, weil der Parlamentarismus, diese geniale Idee, zu einer bloß ökonomischen Affäre verkommen sei und keine Verantwortung übernehme, sie vielmehr jedem, also niemandem, übertrage.

Staatsminister Stauning habe seine Demokratie Hitler ausgeliefert, und die dänischen Fahnen knicksten immer, wenn sie ein Hakenkreuz sähen. Stauning, der dem deutschen Volk Verständnis und Sympathie bekundete. Unsere Regierung habe Leiden verhindern wollen. Doch so bekamen wir Hitler und behielten Stauning. Die ganze Welt habe sich empört, als Deutschland im Weltkrieg in Belgien einmarschierte. Nun empörten sich nicht einmal die Dänen selbst.

Und jetzt? Sich erhängen wie jener Westjüte? Am Tag des Gerichts gehe es solchen besser als denen, die jetzt gut von Dänemarks Not lebten. Aber: Wahrheit bleibt Wahrheit, unabhängig von Sieg oder Niederlage. Unrecht bleibt Unrecht, und Gewalt bleibt Gewalt. Die Deutschen zu hassen gehe für einen Christen nicht an. Doch ihnen bis auf weiteres mit Korrektheit und Kälte entgegenzutreten, bis die ungebetenen Gäste wieder draußen seien.

Tosender Beifall, und Lea spürte, dass der Redner ihr einen steinigen und vielleicht dornigen Weg gewiesen habe, aber zuerst würde er ihn selbst gehen. Viele schienen ebenfalls bereit.


Taarnby schrieb sein Protokoll. In den Räumen der Kriminalpolizei war es still. Das Klappern einer Schreibmaschine klang merkwürdig verzögert, als wolle es sich für die Unterbrechung entschuldigen. Blätter wurden leise umgedreht, Aktenordner zögernd aus dem Regal genommen oder an ihren Platz zurückgestellt, unumgängliche Telefonate mit gedämpfter Stimme geführt, wie in Anwesenheit eines Toten.

Taarnby hielt sich an den korrekten, amtlichen, unpersönlichen Formulierungen fest. Jetzt war Dänemark wirklich im Krieg.

Lea hatte recht: Er sollte darüber nachdenken, in den Untergrund zu gehen. Das hier konnte nicht mehr lange so weitergehen. Unwahrscheinlich, dass sie ihnen überhaupt erlauben würden, den Mord aufzuklären. Die Entscheidung über die nächsten Schritte lag inzwischen in Kopenhagen. Persönlich hatte er Munk vorhin zum ersten Mal gesehen. Es war für vieles zu spät.


Abends hatten sie lange wach gelegen. Tove erzählte voller Begeisterung vom charismatischen Schulleiter, den Lehrerinnen und Kameradinnen, der Zukunft.

Doch früher oder später musste die Rede auf Kaj Munk kommen. Er hatte Tove begeistert – und irritiert. War es so schlimm? Lea, die ihre Cousine liebte, mochte sie nicht darauf hinweisen, dass es schon lange schlimm war. Und schlimmer werden würde. Von Schulleiter Bukh hieß es, er könne gut mit den Deutschen. Die gleichen Vorstellungen von körperlicher Ertüchtigung der Jugend. Auch darüber verlor sie kein Wort, sie glaubte Tove in dieser Hinsicht außer Gefahr und war selbst sportbegeistert genug, um das Schwelgen ihrer Cousine zu verstehen.

Munk hatte Hitler eine der größten Gestalten der Weltgeschichte genannt. Doch war er das nicht tatsächlich: Und wenn er Bocksfüße hatte, sah man die ja nicht.

Dann die Zeitung am nächsten Morgen. Der Onkel wütend, die Tante sprachlos, und Tove weinte, da sei doch aber nichts Falsches gewesen. Dem Svendborg Avis reichte die Wiedergabe einer willkürlichen Hälfte des Vortrags. Demnach sei Pastor Munk nur über die dänische Demokratie hergezogen. Auch habe er aus seiner Bewunderung für Deutschlands Führer keinen Hehl gemacht.

Das mochte mehr oder weniger korrekt zitiert sein. Und trotzdem schien Entscheidendes zu fehlen. Tove war sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich gehört hatte. Die Vorstellung, an etwas teilgenommen zu haben, was nicht wirklich in Ordnung war, schien ihr fürchterlich. Lea ahnte bereits, dass sie an noch mehr Dingen teilnehmen würde, die nicht in Ordnung waren. Dafür fühlte sie sich von Munk vorbereitet und gestärkt.


Die Obduktion ergab: Einschusswunde an der linken Schläfe, von der sich ein Schusskanal durch die Stirnlappen erstreckte, leicht nach oben und hinten gerichtet, mit nach oben gerichteter Ausschusswunde in der rechten Schläfe. Weitere Einschusswunde am linken äußeren Augenwinkel, von der sich ein Schusskanal durch das Hirn nach oben, hinten und rechts erstreckte, mit Ausschusswunde in der rechten Scheitelgegend. Schließlich eine Einschusswunde in der Nackenregion linksseitig, von der sich ein Schusskanal entlang der Unterseite des Gehirns nach vorne und leicht nach innen erstreckte und in der Nasenhöhle endete, deren Dach zertrümmert worden war. Gleich innerhalb der Einschusswunde fanden sich einige kleine Projektilreste und am vorderen Ende des Schusskanals ein flachgedrücktes Projektil, das den am Tatort gefundenen glich. Als Todesursache wurden die nachgewiesenen Schussverletzungen festgehalten, die vermutlich zum sofortigen Tod geführt hatten.

 

Die kriminaltechnische Untersuchung der am Tatort aufgefundenen Patronenhülsen sowie der in der Einschusswunde nachgewiesenen Projektilreste zeigte, dass zwei verschiedene Waffen benutzt worden waren. Zuerst sei ein Genickschuss mit einer deutschen Ortgies-Pistole des Kalibers 7.65 abgegeben worden. Die vermutlich schadhafte Patrone habe den Schädel nicht durchbrechen können und sei bei einem weiteren Genickschuss an derselben Stelle zersplittert. Dieser und die weiteren zwei Schüsse, deren Schusskanäle bei der Obduktion festgestellt wurden, seien mit einer 9-mm-Colt-Pistole durchgeführt worden. Die drei sichergestellten Patronenhülsen seien derselben Waffe zuzuordnen.


Kaj Munk hatte in Kopenhagen predigen sollen, doch die Deutschen hatten es verboten. Da verbreitete sich unter der Hand, er werde im Dom predigen. Mit anderen vom Widerstand war auch Lea gekommen. Sie war Kirchen nicht gewohnt und hatte keine klare Vorstellung davon, was sie hier erwartete.

Der Gottesdienst begann, aber Munk war nicht zu sehen. Plötzlich kündigte der Pastor ihn an, und im nächsten Moment stand er auch schon auf der Kanzel. Eine Geschichte Jesu über junge Frauen, die über dem Warten auf den Bräutigam einschliefen und nicht alle genug Öl in ihren Lampen hatten. Lea verstand, dass es wieder darum ging, vorbereitet zu sein. Als guter Jude habe Jesus nicht auf eine jenseitige Ewigkeit vertröstet. Politik gehöre in die Kirche, denn Gottes Wille müsse getan werden. Wenn eine besondere Gruppe unserer Landsleute aufgrund ihrer Abstammung verfolgt werde, müsse die Kirche rufen, dies verstoße gegen das Grundgesetz des Reiches Christi: die Barmherzigkeit – und müsse versuchen, mit Gottes Hilfe das Volk zum Aufruhr zu bringen. Die dänische Jugend, über die manches harte Wort gesagt werde, setze Leib und Leben und Ehre aufs Spiel für ihr Land und das, woran sie glaube, dabei streifte der Blick des Predigers Lea und ihre Freunde. Auf der ganzen Welt blühe geradezu ein wilder, verzehrend böser Hass. Doch von Christus könne man lernen, sich gegen das Böse aufzulehnen, ohne zu hassen und ohne sich vom Hass schwächen zu lassen. Der tiefe Unterschied zwischen gerechter Strafe und Rache. Lea sehnte sich einen Moment danach, diesen Gedanken in Ruhe und Frieden im Strafrechtsseminar bei Professor Hurwitz zu erörtern. Wenn einmal die Zeit der Abrechnung komme, solle diese im Namen Gottes geschehen und nicht im Namen des Teufels.

Nach der Predigt verschwand Kaj Munk sofort wieder durch die Sakristei und fuhr unbehelligt fort. Das war jetzt einen Monat her, und nun war er tot.


Lea. Kaj Munk. Zwei Namen, die in Taarnbys Leben getreten waren und ihm eine bestimmte Färbung verliehen. Munk in grellem Licht, der sich dem Zug entgegenstellte, der auf den Abgrund zu stürzte. Lea, die sich zur gleichen Zeit in den Schatten auflöste, der Zug hätte sie auch nur stillschweigend überfahren. Die einzige Tochter des Landgerichtsanwalts Viggo Frøhlich, dessen Haus in der Hostrupsgade in Silkeborg von den Nachbarn bis zur Rückkehr der Besitzer versorgt wurde, denn Nachbarschaften gehörten zu den Dingen, die man jetzt aufrechterhalten musste. Es gab ja auch Landsleute, die andere verrieten, und man hatte ihnen vertraut, aber bei Frøhlichs wurden sogar regelmäßig die Blumen gegossen. Das war die Welt, für die Munk gesprochen hatte und die sich nun zunehmend in die Schatten zu beiden Seiten auflöste, während der Zug ungebremst weiterstürzte.

Die einen versorgten die Blumen der anderen, und in der Kriminalpolizei hatte man Himmelstrup, der sich in Kopenhagen bereit machte, nach Silkeborg zu kommen. Damit war der Fall doch so gut wie aufgeklärt, wenn nur die Deutschen es zuließen, dachte Taarnby, der vom Kriminalassistenten abgestellt wurde, dem Vizepolizeiinspektor jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und deshalb vor Stolz und Aufregung eine weitere Nacht kaum schlief. Im Sommer wäre es schon hell gewesen, als er mit der Sehnsucht nach Lea in seinen Gedanken zu kurzer, schwerer und traumloser Ruhe fand.


Bente und Aksel hatten die Predigt. Es sollte eine Sondernummer werden: Kaj Munks letzte Predigt in Kopenhagen. Lea kannte die beiden noch nicht, hatte aber schon geholfen, Volk und Freiheit zu verteilen, sie verteilte alle illegalen Blätter, die man ihr gab, besonders wenn es galt, rasch noch einen Stoß loszuwerden. Jetzt wollten sie mindestens dreitausend drucken und per Post verschicken. Ein Kommilitone wohnte am Bellevue-Strandbad, dort wollten sie abends und nachts in den Damentoiletten im Keller drucken, Bente habe aus einer ausbezahlten Versicherung eine Druckerpresse gekauft.

Sie nahmen die Klampenborglinie. Hinter dem langgestreckten Backsteinschuppen tauchten Arne Jacobsens leuchtend moderne Schachtelhäuser im Licht des fast vollen Mondes auf. Zuversichtlich weiß luden sie zum Blick auf das nahe Meer ein, und Lea kamen die unbeschwerten Studentensommer in den Sinn, die man selbst den ungebetenen Gästen mit ihren hochtrabenden Stiefeln noch abzutrotzen gewusst hatte. Vielleicht würden auch nächsten Sommer wieder Menschen hier baden, als sei die Welt im Reinen und der Architekt der Anlage nicht aus rassischen Gründen nach Schweden verzogen, sie würden sich hier verabreden, unverbindlich flirten und das Meer, die Sonne, den Sand und sich selbst genießen, jemand würde wieder eine Jazzplatte auflegen, und ein anderes Mädchen würde hier seinen ersten Kuss erleben. Lea hatte nach jenem ersten inzwischen ja auch schon genügend weitere erlebt.

Bis in die frühen Morgenstunden druckten, kuvertierten und frankierten sie und adressierten die Briefe an Pfarrer, Lehrer und Ärzte.

Er hatte so viele Sommersprossen, dass sich die Frage nach seinem Decknamen erübrigte, dazu ein einnehmendes, etwas linkisches, aber offensichtlich unerschütterliches Grinsen: Ich hab dich dort gesehen! Im Gottesdienst.

Sie gab zu, dort gewesen zu sein, und wartete ab, während sie mechanisch Umschläge beschriftete. Sprosse hatte sie dafür vorgeschlagen, als er ihre Handschrift sah, natürlich machten sie es zu dritt, sie hatte längst aufgehört, die Umschläge zu zählen.

Schulterzucken: Mich kannst du einfach Sprosse nennen, so wie alle.

Sie lächelte und mochte ihn, aber nicht mehr. Doch da sie ihn wirklich mochte, revanchierte sie sich: Frosch.

Er machte große Augen, dann, als er verstand, grinste er wieder: Die sind eigentlich grün!

– Flamme war vergeben.

– Kennst du ihn?

– Flamme? Nicht persönlich. Du?

Er schüttelte langsam den Kopf, während das Grinsen von einem nachdenklichen Zug abgelöst wurde. Sie wussten beide, dass es nicht damit getan war, eine verbotene Predigt in Umlauf zu bringen. War der Mord an Pastor Munk nicht eine Antwort auf die von Flamme getöteten Verräter? Einen von Flammes Kameraden hatten sie erwischt, als er vor ein paar Wochen ahnungslos bei einer Denunziantin untergeschlüpft war, er wurde seitdem von der Gestapo im Dagmarhaus verhört und sicher gefoltert. Flamme schien sich geschworen zu haben, dass das nicht noch einmal vorkommen sollte, und wenn er schoss, dann traf er. Lea wusste, dass sie ebenfalls treffen würde, aber das war kein Sport mehr. Es war besser, Briefumschläge zu beschriften. Doch wie lange würde sie die Wahl haben.

Sprosse berührte ihre Hand, als er einen adressierten Umschlag aufnahm, sie tat, als sei es Zufall. Vier Umschläge später warf sie hin, ohne ihn anzuschauen, denn sie mochte ihn wirklich: Ich habe einen Liebsten, drüben in Jütland.

Er grinste unerschütterlich: Ich bin von Nykøbing.

– Seeland?

Er nickte und schaffte es, Umschläge aufzunehmen, ohne ihre Hand zu berühren.

– Ich bin von Silkeborg.

– Jetzt sag bloß noch, du warst dort!

– Als es passiert ist? Fast. Ich meine: Sie haben ihn draußen vor der Stadt getötet.

Als hätte sie den Schuss hören müssen.


Frau Munk gab zu Protokoll, sie habe gegen halb acht Uhr abends mit den Kindern im Wohnzimmer gesessen, als drei in Zivil gekleidete Herren gekommen seien und um ein Gespräch mit Kaj Munk gebeten hätten. Der eine habe sie auf Dänisch mit deutschem Akzent als Kriminalbeamte vorgestellt, jedoch offengelassen, ob dänische oder deutsche Kriminalpolizei, zwei hätten Polizeimarken vorgezeigt. Sie wünschten mit Kaj Munk zu sprechen. Der war nicht gleich zu finden. Sie wurden in sein Arbeitszimmer im Obergeschoss geführt – was für ein verzweifelter Versuch, Zeit zu schinden, dachte Taarnby –, auf der Treppe trafen sie auf den Gesuchten, und die drei Herren baten, ihm ein Köfferchen mit Nachtzeug usw. zu packen. Eine Durchsuchung habe nicht stattgefunden, und sie habe nicht hören können, was die Polizisten mit ihm gesprochen hätten.

Munk wurde hinaus zum Auto geführt, das in der Hofeinfahrt mit der Front zur Straße stand, er habe noch zu ihr gesagt: Vertrau auf Gott, Lise! Sie sei auf den Hof gefolgt, doch da habe er schon im Auto gesessen, das gleich mit recht hoher Geschwindigkeit fortgefahren sei. Ein kleines, hellgraues, geschlossenes Personenfahrzeug, das Nummernschild in der Mitte des Fahrzeughecks außerhalb des Reserverads.