Hinter der Angst

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Er brauchte Abstand und fuhr gemächlich an der Kirche vorbei über den Marktplatz, wich einem kleinen Trupp Soldaten aus und schlug hinter dem Rathaus den Weg zum See ein, wie selbstverständlich die Søgade, von wo er Frøhlichs Haus schon von hinten sah. Er musste in die Hostrupsgade einbiegen, wenn er schon einmal hier war, hätte freilich in die andere Richtung gemusst, um in weitem Bogen zur Kriminalpolizei zurückzukommen. Hielt vor dem Haus, den einen Fuß noch auf dem Pedal. Leer. Doch gepflegt, als seien die Bewohner nur einmal kurz verreist. Das Haus sah intelligent aus, hinter seinem Staketenzaun und der sauberen Hecke. Lea dort oben hinter dem Fenster: nein.

Wo bist du, mein Mädchen.

Auch das Haus antwortete ihm nicht.

Es gab vielleicht keine Antwort mehr.

Die Fenster hätten jedenfalls nicht leerer und lealoser sein können.


– Fräulein, Sie sind verletzt!

Jørgen, ich habe drei Männer erschossen. Nun, vielleicht leben noch ein oder zwei. Aber K. C.: nein, besser nicht.

– Fräulein?

– Oh. Danke. Geht schon.

– Damit sollten Sie aber zum Arzt! Hier, nehmen Sie mein Taschentuch. Ich habe es nicht benutzt. Ihres ist ja schon ganz durchtränkt.

Weißt du, das ist das Wenigste. Aber wo K. C. und die anderen liegen.

– Danke! Das ist lieb von Ihnen.

– Schießerei?

Tief durchatmen. Lächeln. So tun, als wärst du nicht bestimmt leichenblass.

– Ja, ich bin in eine Schießerei geraten. Es ging plötzlich los, und ich – ich war irgendwie im Weg …

– Armes Ding!

Die ältere Frau schüttelte mitleidig den Kopf. Der Mann, der sie zuerst angesprochen hatte, beobachtete sie aufmerksam und besorgt.

Massenauflauf. Kaltblütige Mörderin verursacht Massenauflauf in der Kopenhagener Straßenbahn.

– Danke, bitte bemühen Sie sich nicht! Ich steige hier aus. Ich wohne hier um die Ecke. Kann – kann ich Ihnen Ihr Taschentuch reinigen und irgendwohin schicken?

– Nicht nötig, Fräulein. Aber passen Sie auf sich auf!

– Ja. Danke.

Abspringen. Mit dem schweren Mantel. Schwer nicht nur wegen der beiden Waffen in den Taschen.

Ich habe drei Männer erschossen. Mindestens einen bestimmt. Und K. C. ist tot. Hoffentlich jedenfalls. Denn alles, was sonst käme, wäre schlimmer. Aber er ist tot. Ich habe ihn verloren. Nur noch seine Pistole.

Da sie nicht sicher war, ob man ihr nachschaute – wahrscheinlich tat man das, aber was änderte es –, bog sie gleich in den Kastanievej ein, mochten sie glauben, sie wohne in einer der Villen im Uraniavej. Eilte weiter mit ihrem schwer gewordenen Mantel.

Wer K. C. war. Ein Freund. Aber nicht wie du. Ich liebe ihn nicht, ich habe zu ihm aufgesehen. Wie ein großer Bruder. Du hast einen Bruder, Jørgen, du verstehst das vielleicht.

Mischte sich in den Verkehr des Gammel Kongevej, fand sich plötzlich in der Madvigs Allé vor dem Haus wieder, wo Frau Jelling in der dritten Etage zur Straße hin wohnte. Es war so gut wie irgendwo. Auch das zweite Taschentuch war vollgesogen, und die Wunde – wenn auch nicht schlimm – musste versorgt werden.

Die Amazone fühlte sich sicher und schaute sich nicht um. Und sie war plötzlich sehr erschöpft.

Frau Jelling öffnete mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Herrgott, sie musste auch schlimm aussehen mit dem durchbluteten Taschentuch.

– Bitte, ich will Ihnen keine Umstände machen. Wenn Sie nur etwas Wasser und ein Stück Verband hätten. Dann bin ich gleich wieder weg. Und – ich fürchte, er ist tot …

– Karl … Karl also.

Da sah man zu jemandem auf und wusste nicht einmal seinen Vornamen. Karl Censen, Celsius oder Conrad. Cohen vielleicht nicht gerade. Obwohl es die Vorliebe für eine Abkürzung erklären würde.

– Hier in der Küche finden Sie alles, was Sie brauchen. Und jetzt setzen Sie sich doch erst einmal und trinken ein Glas Wasser. Ich – ich bin gleich wieder da. Mein – Vetter hat angerufen, ich habe das Gespräch noch nicht beendet. Einen kleinen Augenblick.

Die Amazone nickte zerstreut und müde.

Zog den Mantel aus und versorgte die Wunde.

Unterbrach sich, weil ein Teil von ihr plötzlich hellwach war und etwas nachhorchte, was sie gerade gehört hatte. Dieser Teil glaubte auch zu hören, dass Frau Jelling ihren Vetter siezte. Vielleicht war noch die Rede von Festhalten und Beeilen. Doch da hatte sie ihren Revolver schon wieder geladen und erwartete ihre Wirtin der letzten Tage.

– So. He, was …

– Wen haben Sie angerufen?

– Wie – Ich … Meinen Vetter, das sagte ich doch …

– Wen haben Sie angerufen?

– Also hören Sie – da liegt ein Missverständnis vor …

– Nein, ich glaube nicht.

Der hellwache Teil der Amazone hatte sich mit dem auf die Frau gerichteten Revolver erhoben, während ein anderer Teil in ihr noch gegen die plötzliche Einsicht aufbegehrte. Beide Frauen schauten auf das Bündel Geldscheine, das noch offen auf dem Küchenbord lag, flüchtig von einem Briefbeschwerer gehalten.

– Wann kommen sie.

Frau Jelling antwortete nicht mehr. In ihrem Gesichtsausdruck verschwammen Angst, Mitleid und Überlegenheitsgefühl. Vielleicht ein bisschen Verachtung.

Mit Recht, denn die Amazone war ihrer Sache gar nicht mehr sicher.

Wenn ihr es tun müsst, dann ist es weder Rache noch Strafe, das steht euch nicht zu, sagte K. C., hatte K. C. vielmehr gesagt. Denkt an die, die ihr noch schützen könnt. Und vergesst nie, dass die Deutschen die Verräter in der Hand haben. Die müssen jetzt liefern.

Frau Jelling war bis in ihr Wohnzimmer zurückgewichen und schien gerade entschieden zu haben, zu schreien. Die gerahmte Fotografie ihrer Eltern wurde bespritzt, auch die dunklen Blumen der Tapete, und im Fallen riss sie den Tannenzweig mit, das Wasser der Vase


– Kämpf für alles, was du liebst,

gilt es auch zu sterben.

Wenn du dich darein ergibst,

wirst du nicht verderben.

Taarnby spürte, wie ihm bei dem alten Choral schwer ums Herz wurde. Würde Lea zulassen, dass er für sie kämpfte. Und wie sollte er das überhaupt bewerkstelligen.

Ihn fror.


– Da oben wurde geschossen!

– Ja. Er hat sich da verschanzt. Ich habe Angst.

Die Amazone ließ die verschreckte Nachbarin im Treppenhaus stehen und eilte weiter. Unbehelligt erreichte sie den Hofausgang. Adonoi roi. Adonoi roi. Adonoi roi, lo echsor. Nur behindert von dem Ring um ihr Herz und ihre Kehle bege zalmowes im Tal des Todesschattens, entkam sie über die Hinterhöfe und tauchte im Frederiksberger Verkehr unter. Denn ato imodi. Du bist bei mir. Du bist bei mir. Wenn Er sich denn um eine Mörderin kümmerte. Kämpf für alles, was du liebst, hatten die anderen gesungen. Was sollte sie

– Na komm … Komm … Es wird alles gut …

– Als ich es gemerkt hatte, hätte ich ja einfach weglaufen können. Das hab ich doch dann sowieso getan.

– Sie hätte noch andere verraten.

– Und ich hatte sowieso schon getötet.

– Lea, ich wünschte, du könntest dir wenigstens selbst vergeben.

– Wo ist Gott? Wo haben sie ihn eingesperrt, dass er nichts mehr dagegen tun kann?

– Konnte er es früher?

– Wahrscheinlich nicht. Vielleicht versteckt er sich ja auch. Ich glaube, ich würde mich verstecken, wenn ich Gott wäre. Irgendwo in einer Höhle, würde die Augen zusammenpressen und die Hände auf die Ohren. Aber wenn ich wirklich Gott wäre, würde ich das sicher nicht lange durchhalten. Aber: Maj und Edith und alle: Wo sollten sie sonst sein? Vielleicht kümmert er sich überhaupt nur noch um sie. Und wir müssen hier gucken, wie wir zurechtkommen.

Den Westwind ließen die Anstrengungen General von Hannekens zur Befestigung der Küste kalt, er war längst im Land und strich ungehindert und recht ungemütlich über die Felder und den kleinen See, den seines Hausherrn beraubten Pfarrhof und weiter nach Vedersø, wo er den gedrungenen weißen Kirchturm in Angriff nahm, der das jedoch seit Jahrhunderten gewohnt war und demütig und fest zugleich ertrug.

Taarnby warf einen letzten Blick auf den Hof, bevor er zu den anderen in einen der Wagen stieg. Die verstörten Blicke der Kinder. Er hatte rasch ihr Vertrauen gewonnen, als er erzählte, er sei ebenfalls ein Pfarrerskind. Und habe auch Geschwister. Nein, nur zwei, einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, aber auch die sei schon erwachsen. Pastor Munks älteste Tochter war zwölf, ihre Brüder etwas jünger, es gab noch ein jüngeres Mädchen und einen weiteren kleinen Jungen. Er hätte sich gerne länger mit ihnen unterhalten, doch Himmelstrup interessierte sich nicht für das, was die Kinder vielleicht zu berichten gehabt hätten, befragte auch den Sohn des Pfarrhofpächters nicht weiter, und Taarnby kam es nicht zu, auf eigene Faust Befragungen durchzuführen.

Der Vater des Jungen hatte dem bereits Protokollierten nichts hinzuzufügen. Ja, am 20. Dezember sei einer mit dem Fahrrad vorbeigekommen und habe viele eigenartige Fragen gestellt. Sie hätten gedroschen, und der Fremde habe plötzlich in der Scheunentür gestanden. In Büroartikeln reise er. Na. Und nach Staby und Ulfborg und zum Vedersø Klit Hotel habe er gewollt, was ja sehr verschiedene Richtungen seien, und dann habe er wissen wollen, wer im Pfarrhof wohne und ob der Pastor, wenn er auf die Jagd gehe, denn auch Hunde habe. Er habe mit zu Mittag gegessen und sei dann weitergefahren, und man habe sich wieder um die Arbeit kümmern müssen, ein Regenschauer sei niedergegangen, und die Wagenladung habe rasch in die Scheune gebracht werden müssen.

 

konnte nicht mehr aufhören zu schießen. Und Frau Jelling lag ja noch nicht auf dem Boden. Hinter ihr sah die Amazone zwei Herren in Hut und Mantel aus dem Zimmer treten, in dem sie die vergangenen Tage gewohnt hatte. Sie versuchte auch dorthin zu schießen, doch ihre Kugeln richteten ohnehin keinen Schaden mehr an. Die Herren führten Edith zwischen sich, die ihre Geige in der Hand hielt und sich über die Schulter hilfesuchend nach der Amazone umschaute. Der Herr zur Rechten nahm Edith die Geige weg und zertrat sie. Das Mädchen hatte nichts mehr an. Nackt führten sie sie weg. Die Amazone schoss und schoss und hörte doch nur ihr eigenes Schluchzen und

Leise stöhnend öffnete sie die Augen, die vollkommen trocken waren, aber das wusste sie ja. Die drei Cousinen waren jeweils ein Jahr auseinander, Tove die Älteste und Schönste, Edith die Jüngste und Begabteste und sie selbst die Stärkste, aber man konnte sie alle zusammen in einem der Gärten sitzen sehen, mit demselben verträumten Zug im Gesicht, und sah die Verwandtschaft. Vielleicht einmal im Jahr trafen sie sich, die beiden Däninnen etwas häufiger, zuletzt mussten sie nach Oslo kommen. Edith und der zwei Jahre jüngere Daniel wären gerne aufs Konservatorium gegangen und wagten sich an Nielsen und Ravel. Sie erinnerte sich an das letzte Treffen, wo sie einen Satz von Ravel spielten, der Blues hieß, und sie fasziniert wahrnahm, was Edith ihrer Geige für unerwartete Töne entlocken konnte.

Die kleine Gerda war bei der Schneekönigin angekommen und längst selbst ein Eiszapfen. Und Musik quälte sie nur noch. Nun würde sie immer auf dieser endlosen Schneefläche weiterwandern und nie irgendwo ankommen.

Da es jedoch ihre Aufgabe zu sein schien, übrig zu bleiben, galt es, dem kalten Morgen eines weiteren lichtlosen Tages und den nächsten konkreten Schritten entgegenzusehen. Sie hatte eine neue Aufgabe: K. C. hatte sie zur Gruppenführerin ausersehen, was sie nicht gewusst hatte. K. C., der tatsächlich tot war, im Hof verblutet. Von ihren vier Verfolgern hatte einer schwer verletzt überlebt, vielleicht einer von denen, auf die sie geschossen hatte. Ihre Gruppe bestand aus Ib, Sprosse, Grün und Hellerup. Noch konnte sie nein sagen. Die Streifwunde war versorgt. Sie konnte auch nach Schweden, wenn sie wollte.

Aber nach dem, was sie wirklich wollte, wurde ja auch sonst nicht gefragt. Sie wollte etwas, das es nicht mehr gab. Also würde sie weitermachen. Weil es das war, was sie tun konnte. Und Sprosse mehr in ihre Nähe lassen. Weil sie ihn brauchte und weil Jørgen so verdammt weit weg war. Und ein Polizist und eine Mörderin, das konnte ja nicht gutgehen.


Personenbeschreibungen: Jüngerer Mann mit weichem Hut und meliertem Mantel, der Kapitän Gustav Blom Mackeprang vor dessen Haus im Vintervej in Gentofte anhielt, höflich seinen Hut lüpfte und auf Deutsch fragte: Entschuldigen Sie, sind Sie Herr Mackeprang?, und auf das verwunderte Ja ohne weitere Umstände eine Pistole aus der Manteltasche zog und den Kapitän in die Brust schoss. Mackeprang fiel um, und der Mann mit dem Hut beugte sich über ihn und schoss ihm dreimal ins Gesicht, daraufhin lief er fort. Nachbarn hörten die Schüsse und die lauten Schreie der Ehefrau des Opfers und stürzten auf die Straße. Mackeprang war Mitglied der Vereinigung Der freie Norden und hatte sich bei mehreren Gelegenheiten nicht sehr freundlich über die Deutschen geäußert.

Junge Frau mit rötlichem Haar, schlank, recht hübsch, die in der Madvigs Allé in Frederiksberg das Treppenhaus hinunterstürzte, die Nachbarin hatte zuvor Schüsse aus der Wohnung über sich gehört und sprach die junge Frau darauf an, die antwortete, ja, er habe sich dort verschanzt, sie habe Angst, und die Nachbarin sah, dass ein Schuss das Mädchen am Oberarm gestreift haben musste. Die Polizei fand die Witwe Mette Jelling tot in ihrer Wohnung, von dem Täter jedoch keine Spur. Die Nachbarin sagte noch aus, die junge Frau habe sich seit ein paar Tagen bei Frau Jelling aufgehalten, die Wohnung jedoch kaum verlassen, sie habe immer höflich und freundlich gegrüßt, doch oft etwas Abwesendes an sich gehabt und irgendwie traurig gewirkt, aber einen entschlossenen und leichten Schritt gehabt. An dem Tag sei sie kurz zuvor von einem Mann abgeholt worden, der ein paar Jahre älter als sie gewesen sein mochte, sie habe ihn schon mehrfach bei Frau Jelling gesehen, wisse aber nicht, wer er sei. Sie habe das Mädchen nicht zurückkehren sehen, und als sie das zweite Mal das Haus verließ, in Eile und vorgeblicher Angst, sei der Mann nicht bei ihr gewesen. Doch dazwischen sei ein Herr in Hut und Mantel bei Frau Jelling gewesen, den sie auch schon zwei oder drei Mal dort gesehen habe, sie halte ihn für einen Deutschen. Frau Jelling habe möglicherweise Kontakte zum Widerstand gehabt, zu dem die beiden jungen Leute gehören mochten, andererseits schien sie auch Kontakte zu den Deutschen zu unterhalten.

Zwei Männer, wieder in Gentofte, beim Arzt Stefan Jørgensen im Vældegårdsvej, von zwei anderen Patienten im Wartezimmer des Arztes wie folgt beschrieben: ein unglaublich nervöser Mann von ca. 25 Jahren, mittelgroß, mager, hellblonde wellige Haare, in dickem Pullover und mit weichem Hut, den er auf den Haken im Vorraum hängte, er setzte sich auf ein Sofa im Wartezimmer, konnte seine Hände nicht ruhig halten und sah sich ständig nervös um. Der andere etwas älter, ca. 30 Jahre, groß und kräftig gebaut, dunkler Wollmantel und weicher Hut, den er auf dem Kopf behielt. Er blieb an der Wand stehen und hielt die rechte Hand in der Manteltasche. Der Jüngere ging mit Jørgensen ins Sprechzimmer. Als beide wieder herauskamen, machte er seinem Kameraden Zeichen, der daraufhin dem Arzt zum Fenster folgte, eine Pistole zog und ihm aus wenigen Zentimetern Abstand mehrmals gegen Kopf und Brust schoss. Jørgensen wurde als ein ruhiger, freundlicher, schon älterer Arzt beschrieben, sehr beliebt bei seinen Patienten. Von Kontakten zum Widerstand oder zu den Deutschen und von irgendwelchen einschlägigen Äußerungen war nichts bekannt, nur der Sohn sei wohl im Untergrund. Der Schütze habe nicht dänisch ausgesehen, sein Kamerad aber schon.

Der Täter in den beiden Mordanschlägen in Gentofte mochte identisch sein, die Beschreibungen gaben das nicht genauer her. Clearingmorde der Deutschen. Und diese Frau Jelling? Liquidierung einer Denunziantin? Etwas an der Beschreibung des jungen Mädchens brachte Taarnbys Gedanken und Gefühle durcheinander, sodass er sich rasch weiteren Personenbeschreibungen widmete und einem ungeheuerlichen Verdacht erlaubte, sich ungesehen zu entfernen, bevor er ihn recht wahrgenommen hatte.


Eine Art Spiel, sie hatte sich schon als Kind manchmal vorgestellt, sie sei gerade nicht wirklich da, wo sie war. Sie besah sich die Situation unbeteiligt von außen, ein Luxus, den sie in Wirklichkeit nicht hatte. Die Vorfrühlingssonne, die alle Konturen klar und weich zugleich hervortreten ließ: nicht wirklich. Die Straße, die Passanten, die in Schach zu halten und von der Fabrik fernzuhalten ihre Aufgabe war: nicht wirklich; nicht wirklich letztlich sie selbst, mit der entsicherten, aber entspannt nach unten auf den Bürgersteig gerichteten Pistole, nicht wirklich auch die kleine Gruppe junger Männer unter ihrem Kommando. Aber eben leider doch wirklich, denn es war ja nur eine Art Spiel.

Und vielleicht nicht ihr, aber doch ihrer Waffe gehorchten sie dann, die Menschen, die mit einem bestimmten Ziel auf dieser Straße unterwegs waren, doch dieses Ziel erst einmal verschieben mussten, auf unbestimmte Zeit – oder auf immer, wenn das Ziel die Fabrik war, denn die würde gleich in die Luft gehen.

Jetzt ging sie in die Luft. Alle in Deckung. Im ganzen Viertel zersprangen die Fensterscheiben. Und dann nichts wie weg, bevor die Deutschen kommen, die Deutschen und ihre dänischen Helfershelfer, auch der Rest Polizei, dem sie diese Aufgabe noch zuschoben. Die Aktion war erfolgreich, die Fabrik völlig zerstört. Irgendwelche Maschinenteile für Waffen. Darauf kam es jetzt schon gar nicht mehr an. Sie hatten ganze Arbeit geleistet, das Gelände noch evakuiert, alle Passanten aus der Schusslinie geholt, niemand war verletzt. Nur die Fabrik, die war nicht mehr da, und die Fensterscheiben. Die Amazone behielt ihre Pistole noch in der Hand, während sie lief. Solange sie das tat, konnte sie ihre Gedanken von der klebrigen blutigen Binde in ihrem Schritt abhalten. Unpraktische Tätigkeit für eine Frau, aber diese Entscheidung hatte sie ja schon lange getroffen, außerdem war sie jetzt Gruppenführerin und heute dafür verantwortlich gewesen, dass kein Passant zu Schaden kam, was kümmerte sie da ein bisschen eigenes Blut, und geschossen hatte sie jedenfalls schon länger auf niemanden mehr.

Manchmal ging sie wie auf Watte, eigentlich lebte sie ganz wie auf Watte, als wäre alles doch nicht wirklich, aber das war es wohl. Und sie hatte einmal einen Namen gehabt und eine Familie und eine Unschuld und was man damals alles eben so gehabt hatte, damals im Frieden. Vorkriegsluxus, nicht sehr brauchbar jetzt. Manchmal dachte sie an Jørgen, ziemlich oft sogar, aber gar nicht einmal immer, wenn sie Sprosse erlaubte, sie zu küssen, und heute würde sie ihn sogar bitten, mit ihr zu schlafen, wenn er dazu bereit war, denn sie war es jetzt, und Jørgen war doch längst unerreichbar. Einen Unterschied gab es immer noch: Wenn sie an Sprosse dachte, wurde ihr warm ums Herz. Doch beim Gedanken an Jørgen schlug es schneller, und sie konnte es eigentlich nicht lassen, an ihn zu denken, die Gedanken an Sprosse waren immer konkreter und begrenzter.

Jetzt waren sie in Sicherheit, und sie steckte die Pistole endlich weg, erlaubte ihm, sie zu küssen, und dachte dabei nicht an Jørgen, sondern an Sprosse, dessen richtigen Namen sie vielleicht nie erfahren würde, denn es war doch inzwischen unwahrscheinlich, dass sie den Krieg überleben würden.


Taarnby dachte manchmal über das Leben nach, wenn das Leben dies zeitlich zuließ. Schon als Jungen hatte ihn dieser Zug stärker ausgezeichnet als seinen Bruder, von dem alle das Theologiestudium erwartet hatten, das er danach vielleicht nur abbrechen konnte, um ganz woanders sein Glück zu versuchen und es bei der Zahnmedizin zumindest vorläufig gefunden zu haben. Jørgen Taarnby hatte dagegen nie ernsthaft erwogen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Da er jedoch auch nichts anderes ernsthaft erwogen hatte, wurde es eben der Polizeidienst. Eigentlich nicht schlecht, wie er selbst bald fand, wäre da nicht die Besatzung gekommen. Nun war es, wie es war, und Taarnby konnte die zuweilen notwendigen Gedanken über das Leben nicht der Selbstverständlichkeit seines Berufs überlassen. Und dann war da eben Lea.

Er hatte diskrete Nachforschungen angestellt, sozusagen auf dem Trittbrett ohnehin notwendiger beruflicher Recherchen. Und was er da erfahren hatte, erfüllte ihn mit Stolz und Sorge zugleich und hinterließ am Ende vor allem Traurigkeit. Er wusste längst – so sicher, wie man das nur mit vierundzwanzig weiß –, dass nach Lea keine Frau mehr in seinem Leben kommen konnte. Doch inzwischen rechnete er schon aus Selbstschutz mit der Möglichkeit, dass er bereits alles bekommen hatte.

Er trug zusammen, was man über den Mord an Kaj Munk wusste, dazu etliche Vermutungen und Spekulationen, bei denen es bis auf Weiteres bleiben musste.

Die Gedanken an den Tod, die ihn seit jenem Januartag aus mehreren Gründen beschäftigten, vertraute er keinem Protokoll und auch sonst niemandem an. Er hatte Angst um Lea und war selbst der Meinung, dass dies unvernünftig und zumindest sinnlos war. Kämpf für alles, was du liebst, gilt es auch zu sterben. Schön formuliert. Jederzeit konnte das unbarmherzige Realität werden. Wozu lohnt es zu sterben. Und was ändert es.

Dies waren die Gedanken, mit denen Taarnby den Schwerpunkt seiner Tätigkeiten endgültig auf den Widerstand verlagerte, hatte man dort doch mehr Verwendung für seine Fähigkeiten.

 

Lea bekam Post. Ungewöhnlich genug, und nun gleich doppelt. Das eine war eine Postkarte aus Silkeborg, adressiert an Gerda Hostrup Jensen, ohne Anschrift, und enthielt nur die Worte: Ich liebe Dich. J.

Die Karte kam über die üblichen Nachrichtenwege und wurde Lea von einem Kurier ausgehändigt, den sie nicht kannte und vielleicht nie wiedersehen würde. Vorsichtig trug sie die Karte in ihr Versteck und hoffte, dass irgendeine Elementarmacht die heftigen Gefühle glätten konnte, welche die Karte nicht erst entfacht, sondern zusätzlich zum Lodern gebracht hatte. Ich dich auch, flüsterte sie und hatte doch gar keinen Platz dafür, keinen Platz für Jørgen, seit Sprosse im Westgefängnis saß.

Und seit sie wusste, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Sie würde diese Nacht nicht schlafen, das würde er ebenfalls nicht tun und nur an sie denken. Inzwischen wusste sie, dass sie seine Liebe erwiderte. Und trotzdem Jørgen liebte, eher mehr als zuvor sogar. Jedoch versäumt hatte, Sprosse etwas zu sagen. Er war fast vor ihren Augen festgenommen worden, und sie konnte nichts tun, sagte sie sich selbst jedenfalls immer wieder, und sagten sie alle, sie konnten alle nichts tun, ein Befreiungsversuch war zwecklos, sie würden nur sich selbst und vielleicht noch andere gefährden.

Und nun kam Post von Sprosse. Dessen Namen sie nicht einmal kannte, ebenso wenig wie er ihren, aber er liebte den Namen Amazone. Zwei Briefe, einer an seine Mutter und einer an sie. Den an die Mutter sollte sie überbringen. Ein Wärter hatte die Briefe nach draußen geschmuggelt. Sprosse hatte keinen Vater mehr, und sein Bruder war auf einem Kutter umgekommen, schon bald nach jenem 9. April, oder man konnte andersherum sagen: Seine Mutter hatte jetzt niemanden mehr.

Lea starrte die beiden Poststücke an, die sie heute bekommen hatte. Die Karte, die vielleicht ein letztes Lebenszeichen war, den Brief, der dies garantiert war. Sprosse hatte eine furchtbare Handschrift. Hatte er sich nicht eigentlich zuallererst in ihre Handschrift verliebt? Was spielte es noch für eine Rolle.

Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob sie wohl Unglück brachte. Alle, die sich mit ihr einließen … Das ließ für Jørgen nichts Gutes erwarten.

Liebe Amazone!

Ja, ich liebe Dich. Aber das weißt Du ja. Und ich weiß, dass Du mich nie angelogen hast. Bitte vergiss mich nicht, aber bitte trauere auch nicht zu sehr. Ich habe Angst, doch ich bin einverstanden. Aber ich denke an meine Mutter. Bitte bring ihr den anderen Brief, und vielleicht kannst Du Dich ein wenig um sie kümmern. In Nykøbing gibt es übrigens einen vertrauenswürdigen älteren Anwalt: Svend Berthelsen. Er würde Dir sofort eine Arbeit geben, falls Du eine suchst.

Nun geht mein letzter Tag spurlos dahin, und dann kommt die letzte Nacht. Ich werde sie nicht mit Schlaf verschwenden, sondern an Dich denken und mich vorbereiten. Und morgen früh werde ich leise Deinen Namen sagen. Vielleicht hörst Du es. (Ihnen habe ich übrigens keine Namen gesagt.)

In Liebe,

Sprosse

Langsam fanden die Worte Grund in ihr. Sie hatte längst die Hände vorm Gesicht und zitterte, da gab es auch ein kurzes leises Wimmern, aber keine Tränen, die vielleicht noch etwas Erleichterung verschafft hätten.


Taarnby sollte die Abwurfstellen und die Verteilung organisieren. Kanäle für Waffen, Botschaften und Menschen einrichten und ausbauen. Toldstrup stellte ihm zwei der jungen Mädchen vor, welche die codierten Botschaften entschlüsselten und wiederum Antworten codierten. Warum eigentlich nicht auch Lea? Andererseits war der Job gefährlich genug, und wie sollte sie hier, wo man sie kennen konnte, eine falsche Identität aufrechterhalten.

Die Mädchen glühten vor Eifer und machten ihren Dienst hervorragend. Hier entstand ein neues Dänemark. War der Krieg erst vorbei, und das musste er doch bald sein, dann würde alles anders werden. Glücklich malte Taarnby sich das Leben aus, das er dann führen würde. Mit Lea, und sie würden Kinder haben. Doch, Lea würde weiterstudieren und dann arbeiten. Trotzig schob er beiseite, was das Bild störte.


Sie hatte nicht geschlafen. Ob sie ihn erschossen oder leise erhängten. Aber sie hörte ja sowieso nichts davon.

Sie wusste, dass sie so nicht weitermachen konnte. Das war ungefähr der einzige Gedanke, der in der großen Leere noch Halt fand. Da hatte das Selbstmitleid bereits aufgegeben, und kurz nach sechs kapitulierten auch die letzten Schuldgefühle. Denn um sechs mochte es gewesen sein, in einem kahlen Gefängnishof oder so, ihrer Vorstellung gelangen keine sehr originellen Bilder. Der Brief blieb zu überbringen, Dinesen hatte er also geheißen, Sprosse Dinesen, seine Mutter würde ihr auch den richtigen Vornamen sagen, für sie blieb er Sprosse. Sie würde sich abmelden, vielleicht nicht nur vorübergehend, und gleich losfahren.

Sie hatte sich abgemeldet, und es war ihnen beiden klar gewesen, dass es vermutlich nicht nur vorübergehend war, und war gleich losgefahren. Als Gerda Hostrup Jensen glaubte sie sich immer noch ungefährdet bewegen zu können, es gab einen Ausweis, und im Übrigen hatte keiner der Namen noch etwas mit ihr zu tun. Vielleicht würde sie in Nykøbing diesen Anwalt aufsuchen. Oder nach Jütland fahren. Oder nach Schweden.

Der Tag war grau und das Abteil kalt, doch auch der schönste Frühlingstag hätte nichts an den Tatsachen geändert. Sie überstand die Kontrolle, der Zug fuhr in Roskilde ein und verließ Bahnhof und Stadt ungehindert, alles ging weiter. So war es doch immer, so würde es auch sein, wenn sie selbst die Geschichte gezwungenermaßen verlassen musste. Um sechs Uhr morgens oder wann auch immer. Ob Sprosse da, wo er jetzt war, zum Beispiel Kaj Munk begegnete. Schulterzuckend entließ sie diesen Gedanken. Und dann versuchte sie, nicht an Jørgen zu denken.


Taarnby ertappte sich dabei, dass er pfiff. Das hatte er schon länger nicht mehr getan, jedenfalls nicht bei der Arbeit. Oh, won’t you tell me when we will meet again: Sunday, Monday or always. Mit diesem Lied im Ohr war er an diesem Morgen erwacht. And what am I to do, can’t I be with you Sunday, Monday or always. Er würde gerne tanzen. Übrigens wurde es Zeit für den Frühling.


Doch Jørgen war das Einzige, was ihr überhaupt einfiel. I don’t want to walk without you, Baby, walk without my arm about you, Baby. I don’t want to walk without the sunshine. Why’d you have to turn off all that sunshine?

Die Sonne schien auch tatsächlich nicht, die Amazone hatte nichts anderes erwartet, sie stolperte aus dem Zug, straffte sich. Feuchter kühler Wind, das weiße, langgestreckte Stationsgebäude starrte sie aus unzähligen Fenstern unter großen Halbbögen an. Sie versuchte, ihrem Mantel etwas mehr Schutz abzupressen. Die Fenster zeigten kein Entgegenkommen. Jemanden nach der Adresse fragen, die deutschen Uniformen ignorieren, sich beglotzen lassen, weitergehen, Ihren Ausweis bitte. Zu wem wollen Sie hier. Eine Gerda Hostrup Jensen – so jedenfalls der Name im Ausweis – übernahm das Antworten, ein bisschen zittern durfte die Stimme des Mädchens doch dabei, sie nahm ihren Ausweis an sich, der ihr nach angemessener Verzögerung wortlos hingehalten wurde, draußen jemanden fragen, und tauchte in das weiße, glotzende Gebäude ein.

Sie verließ die Fenster, traute sich zu einer dänischen Uniform und fragte nach dem Weg. Immer da an den Bäumen entlang, links ab und dann in die Lindenallee. Diese Straße immer weiter, ein kleines Haus, ziemlich weit draußen am Rand der Stadt. Ging den gewiesenen Weg. Den Weg, den Sprosse immer genommen haben musste, wenn er zum Bahnhof wollte. Und dann stellte sie fest, dass sie ihn nicht mehr lieben konnte. Vielleicht, weil er tot war. Vielleicht, weil sie gar nicht mehr lieben konnte. Das sollte sie sich tatsächlich besser abgewöhnen. Die Bäume waren noch kahl, und auch sie fror trotz ihres Mantels. Dann Häuser, doch die belebteren Stellen der kleinen Stadt schien sie gerade zu umgehen. Trotzdem schaute doch alles zu ihr hin und sicher auch der Hund dort und überhaupt jeder kahle Zweig.

So sah das also aus, wenn man auf das Nirwana verzichtete und lernte, in Jesu oder in sonst wessen Namen zu töten. Die Amazone hätte inzwischen das Nirwana vorgezogen, die Sätze waren ja auch nicht an sie gerichtet. Sie sehnte sich danach, nicht die geworden sein zu müssen, die sie jetzt war. Sprosse wäre trotzdem gestorben. Dann nur eben ganz ohne sie.

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