Oliver Twist

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Charles Dickens

Oliver Twist

Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings

Charles Dickens

Oliver Twist

Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings

(Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress)

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020

Übersetzung: Gustav Meyrink

Illustrationen: George Cruikshank

EV: Langen, München, 1914

3. Auflage, ISBN 978-3-943466-70-6

www.null-papier.de/dickens


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

1 – Schil­dert den Ort, wo Oli­ver auf die Welt kam, so­wie die sei­ne Ge­burt be­glei­ten­den Um­stän­de.

2 – Wie Oli­ver Twist auf­wuchs, er­zo­gen und ver­pflegt wur­de.

3 – Be­rich­tet, wie Oli­ver Twist bei­na­he eine An­stel­lung be­kom­men hät­te, die nichts we­ni­ger als eine Si­ne­ku­re ge­we­sen wäre.

4 – Oli­ver er­hält eine Stel­le und tritt ins öf­fent­li­che Le­ben ein.

5 – Oli­ver be­kommt einen neu­en Ho­ri­zont und wohnt zum ers­ten Mal ei­nem Lei­chen­be­gäng­nis bei.

6 – Oli­ver rafft sich, durch Noah ge­reizt, zu tat­kräf­ti­gem Han­deln auf.

7 – Oli­ver bleibt ver­stockt.

8 – Oli­ver wan­dert nach Lon­don und trifft mit ei­nem sehr selt­sa­men jun­gen Gent­le­man zu­sam­men.

9 – Ent­hält wei­te­re Ein­zel­hei­ten über den lie­bens­wür­di­gen al­ten Herrn und sei­ne hoff­nungs­vol­len Zög­lin­ge.

10 – Oli­ver ge­winnt Ein­blick in die Cha­rak­terei­gen­schaf­ten sei­ner neu­en Kol­le­gen, be­zahlt aber sei­ne Er­fah­rung sehr teu­er.

11 – Der Po­li­zei­kom­mis­sär Mr. Fang zeigt sich als au­ßer­or­dent­lich tüch­ti­ger Jus­tiz­be­am­ter.

12 – Oli­ver fin­det eine bes­se­re Pfle­ge als je zu­vor, und un­se­re Ge­schich­te kehrt wie­der zu dem men­schen­freund­li­chen Mr. Fa­gin und sei­nen jun­gen Schütz­lin­gen zu­rück.

13 – Ei­ni­ge neue Per­so­nen wer­den vor­ge­stellt.

14 – Eine be­mer­kens­wer­te Pro­phe­zei­ung ei­nes ge­wis­sen Mr. Grim­wick über Oli­ver Twist.

15 – Zeigt, wie über­aus lieb der alte Jude und Miss Nan­cy Oli­ver Twist hat­ten.

16 – Was aus Oli­ver wur­de, nach­dem ihn Nan­cy mit Be­schlag be­legt hat­te.

17 – Zu Oli­vers Un­glück kommt ein großer Mann nach Lon­don.

18 – Wie Oli­ver sei­ne Zeit in Ge­sell­schaft sei­ner hoch­acht­ba­ren Freun­de ver­brach­te.

19 – Es wird ein höchst be­mer­kens­wer­ter Plan ge­fasst.

20 – Oli­ver wird Mr. Wil­liam Sikes über­ge­ben.

21 – Un­ter­wegs.

22 – Der Ein­bruch.

23 – Ent­hält den we­sent­lichs­ten Teil ei­ner an­mu­ti­gen Un­ter­re­dung zwi­schen Mr. Bum­ble und ei­ner Dame und er­bringt gleich­zei­tig den Be­weis da­für, dass auch ein Kirch­spiel­die­ner in man­chen Punk­ten äu­ßerst emp­find­lich sein kann.

24 – Han­delt von ei­ner sehr ar­men Per­son.

25 – Han­delt aber­mals von Mr. Fa­gin und Kon­sor­ten.

26 – Eine höchst ge­heim­nis­vol­le Per­son er­scheint.

27 – Eine frü­he­re Un­höf­lich­keit, mit der wir eine Dame im Sti­che ge­las­sen, wird wie­der gut ge­macht.

28 – Oli­vers wei­te­re Aben­teu­er.

29 – Han­delt von den Be­woh­nern des Hau­ses.

30 – Was die Da­men und Dok­tor Los­ber­ne von Oli­ver hiel­ten.

31 – Eine kri­ti­sche Si­tua­ti­on.

32 – Han­delt von dem glück­li­chen Le­ben, das Oli­ver bei sei­nen gü­ti­gen Freun­den zu füh­ren be­gann.

33 – Das Glück Oli­vers und das sei­ner Freun­de er­lei­det einen plötz­li­chen Stoß.

34 – Ein jun­ger Herr be­tritt den Schau­platz, und Oli­ver er­lebt ein neu­es Aben­teu­er.

35 – Das Re­sul­tat von Oli­vers Aben­teu­er und eine Un­ter­re­dung von ziem­li­cher Wich­tig­keit zwi­schen Har­ry und Rose.

36 – Ein kur­z­es Ka­pi­tel, aber im­mer­hin nicht un­wich­tig, da es das Vor­her­ge­hen­de er­ör­tert und zum Nach­fol­gen­den einen Schlüs­sel bie­tet.

37 – Ein Kon­trast, der im Ehe­stan­de nicht un­ge­wöhn­lich ist.

38 – Was sich zwi­schen Mr. und Mrs. Bum­ble und Mr. Monks bei ih­rer nächt­li­chen Zu­sam­men­kunft be­gab.

39 – Ei­ni­ge alte Be­kann­te tre­ten auf, und Fa­gin und Monks ste­cken die Köp­fe zu­sam­men.

40 – Eine selt­sa­me Un­ter­re­dung.

41 – Neu­er­li­che Ent­hül­lun­gen, die den Be­weis er­brin­gen, dass Über­ra­schun­gen wie Un­glücks­fäl­le sel­ten al­lein kom­men.

42 – Ein al­ter Be­kann­ter Oli­vers reift zu ei­nem öf­fent­li­chen Cha­rak­ter her­an.

43 – Der Bal­do­we­rer in der Pat­sche.

44 – Nan­cy wird ver­hin­dert, ihr Ver­spre­chen ein­zu­lö­sen.

45 – Noah Clay­po­le wird von Fa­gin als Spi­on ver­wen­det.

46 – Nan­cy er­füllt ihr Ver­spre­chen.

47 – Ver­häng­nis­vol­le Fol­gen.

48 – Sikes’ Flucht.

49 – Monks und Mr. Brow­n­low tref­fen zu­sam­men.

50 – Ver­geb­li­che Ver­fol­gung.

51 – Mehr als ein Ge­heim­nis wird auf­ge­deckt und ein Hei­rats­an­trag wird ge­macht, bei dem von Mit­gift nicht die Rede ist.

52 – Fag­ins letz­te Nacht.

53 – Was wei­ter noch zu be­rich­ten ist.

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Autor und Werk

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; ✳ 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; † 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) war ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list. Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

»Oli­ver Twist oder der Weg des Für­sor­ge­zög­lings« ist Di­ckens’ zwei­ter Ro­man und wahr­schein­lich sein heu­te be­kann­tes­tes Werk. Der Ro­man wur­de zu­nächst, wie die meis­ten von Di­ckens’ Wer­ken, als mo­nat­li­che Fort­set­zungs­ge­schich­te für einen Schil­ling kon­zi­piert und spä­ter über­ar­bei­tet.

Der Ro­man er­zählt die Ge­schich­te des Fin­del­kin­des und Wai­sen­jun­gen Oli­ver Twist, der im Ar­men­haus auf­wächst, ohne et­was über sei­ne Her­kunft zu wis­sen.

Er ge­rät in die Fän­ge des jü­di­schen Heh­lers Fa­gin, der ihn vor dem si­che­ren Tod auf der Stra­ße be­wahrt, aber für einen ho­hen Preis. Fag­ins Schütz­lin­ge bil­den eine Die­bes­ban­de. Der bru­ta­le Sikes und die ihm na­he­ste­hen­de Die­bin Nan­cy tre­ten eben­falls in Oli­vers Le­ben. In sol­cher Ge­sell­schaft le­bend und ler­nend wird Oli­ver ei­nes Ta­ges auf eine Die­bes­tour mit­ge­nom­men, die fa­ta­le Fol­gen für ihn hat. Nach­dem ein Op­fer be­merkt, dass es be­stoh­len wur­de, wird Oli­ver fälsch­li­cher­wei­se für den Dieb ge­hal­ten.

Oli­vers Schick­sal ist ein stän­di­ges Pen­deln zwi­schen Mo­men­ten des Glücks un­ter gu­ten Men­schen und den schlim­men Ge­scheh­nis­sen rund um Fag­ins Ver­bre­chen.

Der Ro­man war ein großer Er­folg. Vor al­lem durch sei­ne zum Teil dras­ti­sche Schil­de­rung von Kin­der­ar­beit, Ver­bre­chen und Mas­sen­ar­mut zur­zeit der eng­li­schen Früh­in­dus­tria­li­sie­rung. Er wur­de mehr­fach für Thea­ter, Kino, Fern­se­hen und Co­mic ad­ap­tiert.

Die­se nur leicht über­ar­bei­te­te Fas­sung ent­hält meh­re sehr schö­ne Ori­gi­nal­zeich­nun­gen von Ge­or­ge Cruiks­hank.


1 – Schildert den Ort, wo Oliver auf die Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Umstände.

Un­ter an­de­ren öf­fent­li­chen Ge­bäu­den in ei­ner ge­wis­sen Stadt, die ich nicht nen­nen, der ich aber auch and­rer­seits kei­nen er­dich­te­ten Na­men bei­le­gen möch­te, be­fand sich ei­nes, wie es wohl die meis­ten Städ­te, ob groß oder klein, be­sit­zen, näm­lich ein Ar­beits­haus; und in die­sem wur­de ei­nes Ta­ges der klei­ne Welt­bür­ger ge­bo­ren, des­sen Name die­ses Buch trägt.

Lan­ge Zeit, nach­dem der Arzt des Kirch­spiels ihm zum Ein­tritt in die­se Welt der Mü­hen und Sor­gen ge­hol­fen, schi­en es recht zwei­fel­haft, ob er lan­ge ge­nug wür­de am Le­ben blei­ben, um über­haupt einen Na­men nö­tig zu ha­ben.

Ob­wohl ich nicht be­haup­ten möch­te, dass es viel­leicht ein glück­li­cher oder be­nei­dens­wer­ter Um­stand wäre, der ei­nem mensch­li­chen We­sen zu­sto­ßen könn­te, in ei­nem Ar­beits­haus ge­bo­ren zu wer­den, so schi­en es doch in die­sem be­son­dern Fall für Oli­ver Twist das Bes­te, was sich au­gen­blick­lich für ihn er­eig­nen konn­te. Im­mer­hin war es mit er­heb­li­chen Schwie­rig­kei­ten ver­bun­den, ihn so weit zu brin­gen, dass er sich der Auf­ga­be des At­mens selbst un­ter­zog, und eine Wei­le lang lag er als klei­ner Welt­bür­ger nach Luft schnap­pend auf ei­ner Woll­ma­trat­ze, be­denk­lich hin und her schwan­kend, ob er sich für die­se oder jene Welt ent­schei­den soll­te, wo­bei sich die Wage be­trächt­lich mehr für das Jen­seits als für das Dies­seits neig­te. Wäre Oli­ver in die­sem kri­ti­schen Zeit­ab­schnitt von be­sorg­ten Groß­müt­tern, ängst­li­chen Tan­ten, er­fah­re­nen Am­men und Ärz­ten voll tiefer Weis­heit um­ge­ben ge­we­sen, er hät­te selbst­ver­ständ­lich die Stun­de nicht über­lebt. Da je­doch nie­mand zu­ge­gen war als ein ar­mes al­tes Weib, das über­dies in­fol­ge des un­ge­wohn­ten Ge­nus­ses von Bier sich in ziem­lich an­ge­hei­ter­ter Stim­mung be­fand, und da auch der Kirch­spie­l­arzt die Sa­che ganz ge­wohn­heits­mä­ßig be­han­del­te, so focht Oli­ver sei­nen Kampf mit der Na­tur auf ei­ge­ne Faust aus. Und die Fol­ge da­von war, dass er nach kur­z­em Kamp­fe at­me­te, nies­te und end­lich den Be­woh­nern des Ar­beits­hau­ses die Tat­sa­che kund und zu wis­sen gab, dass er der Ge­mein­de eine neue Last auf­ge­bür­det habe – das heißt, ent­schlos­sen sei am Le­ben zu blei­ben. Er er­hob zu die­sem Zweck ein so lau­tes Ge­schrei, wie man es von ei­nem Kind männ­li­chen Ge­schlech­tes füg­lich nur er­war­ten durf­te.

Als Oli­ver die­sen ers­ten Be­weis selbst­stän­di­ger Tä­tig­keit gab, be­weg­te sich eine Fli­cken­de­cke, die nach­läs­sig über eine ei­ser­ne Bett­stel­le ge­wor­fen war, und das blei­che Ge­sicht ei­ner jun­gen Frau er­hob sich matt von dem har­ten Kis­sen, und eine schwa­che Stim­me hauch­te müh­sam die Wor­te: »Las­sen Sie mich das Kind se­hen; dann will ich gern ster­ben.«

Der Arzt, der, das Ge­sicht dem Feu­er zu­ge­wandt, am Ka­min saß und sich die Hän­de wärm­te, trat bei die­sen Wor­ten der jun­gen Frau an das Kop­fen­de des Bet­tes und sag­te mit mehr Freund­lich­keit im Ton, als man von ihm wohl er­war­tet hät­te: »Sie ha­ben durch­aus kei­nen Grund, ans Ster­ben zu den­ken.«

»I Gott be­wah­re«, misch­te sich die Wär­te­rin ein und ver­senk­te in ih­rer Ta­sche eine grü­ne Fla­sche, von de­ren In­halt sie sich bis­her in ei­ner ver­schwie­ge­nen Ecke mit sicht­li­chem Be­ha­gen ge­stärkt hat­te. »I Gott be­wahr, wenn sie erst amal so alt g’wor­den is wie ich, Herr Dok­tor, und drei­zehn Kin­der g’habt hat und ihr erst alle ge­stor­ben sein wer­den wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zu­samm im Ar­beits­haus sin, dann wird sie schon auf ver­nünf­ti­ge­re Ge­dan­ken kom­men. Gott o Gott, den­ken Sie sich doch nur was es heißt, Mut­ter sein von so an hüb­schen klei­nen Bu­berl; ver­ges­sens dös net.«

Ihre tröst­li­chen Wor­te schie­nen in­des ihre Wir­kung zu ver­feh­len, denn die Wöch­ne­rin schüt­tel­te den Kopf und streck­te nur stumm ihre Arme nach dem Kin­de aus. Der Arzt reich­te es ihr, sie press­te ihre kal­ten blut­lee­ren Lip­pen hef­tig auf die Stirn des Kin­des, fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht, blick­te wild um­her, schau­der­te zu­sam­men, sank zu­rück – und starb. Sie rie­ben ihr Brust, Hän­de und Schlä­fen, aber das Herz hat­te für im­mer zu schla­gen auf­ge­hört. Sie spra­chen auf sie ein von Hoff­nung und Zu­kunft, aber Hoff­nung und Zu­ver­sicht wa­ren der Ar­men seit lan­gem fremd ge­wor­den.

»Es ist vor­bei mit ihr, Mrs. Thing­um­my«, sag­te der Arzt schließ­lich.

»Ja, ja die Arme«, sag­te die Wär­te­rin und bück­te sich nach dem Pfrop­fen der grü­nen Fla­sche, der auf das Kis­sen ge­fal­len war, als sie sich nie­der­ge­beugt, um das Kind auf­zu­neh­men. »Das arme Klei­ne.«

»Sie brau­chen nicht nach mir zu schi­cken, wenn das Kind schrei­en soll­te«, sag­te der Arzt und zog sich mit großer Sorg­falt sei­ne Hand­schu­he an. »Es wird wahr­schein­lich un­ru­hig wer­den, dann ge­ben Sie ihm et­was Ha­fer­schleim.« Da­mit setz­te er sei­nen Hut auf und frag­te, als er auf sei­nem Weg zur Tür an dem Bett vor­über­kam. »Es war eine recht hüb­sche Per­son, wo ist sie denn her­ge­kom­men?«

»Man hat sie ges­tern Nacht her­ge­schafft«, er­wi­der­te die alte Frau, »auf Be­fehl des Herrn Vor­stands. Man hat sie auf der Gas­se lie­gend ge­fun­den. Sie muss hübsch weit her­ge­kom­men sein, denn ihre Schu­he wa­ren zer­ris­sen; aber wo sie her­kom­men ist oder wo­hin sie hat ge­hen wol­len, weiß nie­mand.«

Der Arzt beug­te sich über die Tote und er­griff ihre lin­ke Hand. »Die alte Ge­schich­te«, mur­mel­te er kopf­schüt­telnd, »kein Ehe­ring, wie ich sehe. Also gute Nacht.«

Da­mit ging er zu sei­nem Abendes­sen, und die Wär­te­rin setz­te sich, nach­dem sie noch ein­mal der grü­nen Fla­sche zu­ge­spro­chen, auf einen Stuhl in der Nähe des Ka­mins und be­gann das Kind in Win­deln zu wi­ckeln.

Da sah man wie­der, wie wahr das Wort ist, dass Klei­der Leu­te ma­chen: bis­her in ein Tuch gehüllt und in sonst nichts, hät­te Oli­ver eben­so gut das Kind ei­nes Ade­li­gen wie das ei­nes Bett­lers sein kön­nen, aber jetzt, wo er in dem al­ten Kat­tun­steck­kis­sen un­ter­ge­bracht war, des­sen Far­be in lang­jäh­ri­gem Dienst zu ei­nem häss­li­chen Gelb ver­schos­sen war, sah man ihm so­fort das Wai­sen­kind des Ar­beits­hau­ses an, das nur dazu da war, durch die Welt ge­k­nufft zu wer­den, ver­spot­tet und ver­ach­tet von je­der­mann und von nie­mand be­mit­lei­det. Oli­ver schrie aus vol­lem Hal­se. Hät­te er ge­wusst, dass er eine Wai­se war und nur der Barm­her­zig­keit von Kir­chen­vor­ste­hern aus­ge­lie­fert, hät­te er wahr­schein­lich noch viel lau­ter ge­schri­en.

2 – Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.

Die nächs­ten acht bis zehn Mo­na­te war Oli­ver das Op­fer sys­te­ma­ti­scher Säug­lings­für­sor­ge. Er wur­de mit der Fla­sche auf­ge­zo­gen. Von der elen­den Lage des klei­nen Wai­sen­jun­gen mach­te man sei­tens der Vor­stän­de des Ar­beits­hau­ses pflicht­ge­mäß de­nen des Kirch­spiels Mel­dung, wor­auf von letz­te­ren in al­ler Form die An­fra­ge ein­lief, ob sich denn nicht im »Hau­se« eine Frau­ens­per­son be­fän­de, die in der Lage sei, Oli­ver sei­ne na­tür­li­che Nah­rung rei­chen zu kön­nen. Der Vor­stand des Ar­men­ar­beits­hau­ses er­wi­der­te dar­auf un­ter­tä­nigst, dass dies lei­der nicht der Fall sei, wor­auf die Kirch­spiel­be­hör­de den hoch­her­zi­gen Ent­schluss fass­te, Oli­ver in ein etwa drei Mei­len ent­fern­tes Zweig­ar­men­haus brin­gen zu las­sen, wo etwa zwan­zig an­de­re klei­ne Über­tre­ter des Zu­stän­dig­keits­ge­set­zes un­ter der müt­ter­li­chen Auf­sicht und ohne all­zu sehr mit Nah­rung oder Klei­dung be­hel­ligt zu wer­den auf dem Stu­ben­fuß­bo­den um­her­kol­ler­ten, was mit acht­ein­halb Pence pro Kopf und Wo­che in Rech­nung ge­stellt wur­de. Mit acht­ein­halb Pence lässt sich nicht viel be­strei­ten, aber die wür­di­ge Haus­da­me war eine klu­ge und er­fah­re­ne Frau und wuss­te, wie leicht sich Kin­der über­fres­sen kön­nen und was ih­nen zu­träg­lich ist; and­rer­seits aber auch, was ihr selbst zu­träg­lich war. Sie ver­wen­de­te da­her den grö­ße­ren Teil des Kost­gel­des zu ih­rem ei­ge­nen Wohl und ver­stand es auf die­se Wei­se, die ge­setz­li­che Grau­sam­keit noch um ein Be­trächt­li­ches zu ver­tie­fen; sie be­wies da­mit, wie weit sie es in der Ex­pe­ri­men­tal­phi­lo­so­phie auf ei­ge­ne Faust ge­bracht hat­te.

Wohl je­der kennt die Ge­schich­te des be­kann­ten Ex­pe­ri­men­tal­phi­lo­so­phen, der sich vor­ge­nom­men hat­te, ei­nem Pfer­de das Fres­sen ab­zu­ge­wöh­nen, und die­se Theo­rie so vor­züg­lich in die Pra­xis um­setz­te, dass er sein Pferd bis auf einen Stroh­halm pro Tag her­un­ter­trä­nier­te und zwei­felsoh­ne ein au­ßer­or­dent­li­ches, kräf­ti­ges, je­dem Fut­ter ab­hol­des Tier aus ihm ge­macht ha­ben wür­de, wäre es nicht lei­der vier­und­zwan­zig Stun­den vor dem ers­ten kom­plet­ten Fast­tag ge­stor­ben. Lei­der wa­ren die Er­fol­ge der er­wähn­ten treff­li­chen Kost­frau nicht sel­ten, was die Kirch­spiel­kin­der an­be­lang­te, von glei­chem Mis­ser­folg ge­krönt, in­dem die Klei­nen ent­we­der vor Käl­te oder Hun­ger, oder weil sie sich töd­lich ver­letz­ten oder ver­brann­ten, früh­zei­tig star­ben und zu ih­ren Vä­tern, die sie nie ge­kannt, ver­sam­melt wur­den.

Stell­ten wirk­lich ein­mal die Vor­stän­de schär­fe­re Nach­for­schun­gen als sonst nach dem Ver­bleib ir­gend ei­nes Wai­sen­kin­des an, oder misch­te sich das Ge­richt hin­ein und be­schwer­te sich den Kopf mit über­flüs­si­gen Fra­gen, so schütz­te das Zeug­nis und die Aus­sa­ge des Arz­tes und des Kirch­spiel­die­ners die Treff­li­che je­des Mal ge­gen Un­ge­mach. Je­des Mal hat­te der ers­te­re dann die Lei­chen ge­öff­net und be­greif­li­cher­wei­se nichts dar­in ge­fun­den, oder letz­te­rer be­schwor rast­los, was dem Kirch­spiel pass­te, und lie­fer­te da­mit einen Be­weis sei­ner Hin­ge­bung und Selb­st­auf­op­fe­rung. Be­such­te das Vor­stands­kol­le­gi­um von Zeit zu Zeit ein­mal die Zwei­g­an­stalt des Ar­beits­hau­ses, so ver­säum­te es nie, je­des Mal tags zu­vor den Kirch­spiel­die­ner vor­aus­zu­sen­den, da­mit auch al­les in Ord­nung sei. Und je­des Mal sa­hen dann die Klei­nen rein­lich und gut ge­nährt aus -! Was konn­te man mehr ver­lan­gen.

 

Dass die­ses Pfle­ge- und Er­näh­rungs­sys­tem ein all­zu kräf­ti­ges Ge­dei­hen der Kin­der zur Fol­ge ge­habt hät­te, ließ sich nicht er­war­ten, und so zeig­te sich denn auch Oli­ver Twist von sei­nem neun­ten Ge­burts­ta­ge an als ein schwa­ches, bläss­li­ches, im Wachs­tum zu­rück­ge­blie­be­nes Kind. Den­noch leb­te, ob von Na­tur oder als Erb­schaft sei­ner Vor­fah­ren, in Oli­vers Brust ein kräf­ti­ger ener­gi­scher Geist, der dank der stren­gen Diät des Hau­ses Raum ge­nug hat­te, sich noch wei­ter zu ent­fal­ten.

Es war an Oli­vers neun­tem Ge­burts­ta­ge. Wäh­rend er die­se Fei­er im Koh­len­kel­ler zu­sam­men mit zwei an­de­ren jun­gen Herrn be­ging, die sich gleich ihm von ei­ner or­dent­li­chen Tracht Prü­gel er­hol­ten, die ih­nen zu­teil ge­wor­den, weil sie sich er­frecht hat­ten hung­rig ge­we­sen zu sein, wur­de Mrs. Mann, die treff­li­che Pfle­ge­frau, durch das plötz­li­che Er­schei­nen Mr. Bum­bles, des Kirch­spiel­die­ners, der sei­ne Schrit­te dem Gar­ten­p­fört­chen zu­lenk­te, in Schre­cken ge­setzt.

»Du mein Gott, Mr. Bum­bles, sind Sie’s wirk­lich?« rief Mrs. Mann und steck­te den Kopf an­schei­nend hoch­er­freut aus dem Fens­ter. »Su­san­na! Ho­len Sie gleich den klei­nen Oli­ver her­auf und die bei­den an­de­ren Laus­bu­ben und wa­schen Sie sie – ach, Mr. Bum­bles, wie ich mich freue, Sie wie­der ein­mal zu se­hen!«

Mr. Bum­ble war nun aber ein wohl­be­leib­ter und eben­so heiß­blü­ti­ger Herr, und da­her rüt­tel­te er an­statt auf die­se freund­li­che Be­will­komm­nung in höf­li­cher­wei­se zu ant­wor­ten, wü­tend an der Gar­ten­pfor­te und stieß mit dem Fuß in ei­ner Wei­se da­ge­gen, wie sie eben nur ein Kirch­spiel­die­ner be­herrscht.

»Gott im Him­mel«, rief Mrs. Mann aus dem Zim­mer stür­zend – die drei Jun­gen hat­te man in­zwi­schen weg­ge­bracht -, »ich habe ganz ver­ges­sen, dass ich der lie­ben Klei­nen we­gen das Gat­ter­tor von in­nen ver­rie­gelt habe. So spa­zie­ren Sie doch wei­ter, Sir. Bit­te, tre­ten Sie ein, Mr. Bum­ble.«

Ihre Ein­la­dung war von ei­nem so freund­li­chen Lä­cheln be­glei­tet, dass es si­cher­lich so­gar das Herz ei­nes Kir­chen­pres­by­ters er­weicht ha­ben wür­de; den­noch be­sänf­tig­te es den Kirch­spiel­die­ner nicht im min­des­ten.

»Nen­nen Sie das einen re­spekt­vol­len Empfang, Mrs. Mann?« frag­te Mr. Bum­ble und fass­te sei­nen Amts­stab noch fes­ter, »dass Sie die Kirch­spiel­be­am­ten an Ih­rer Türe war­ten las­sen, wenn sie in Par­ochi­al­an­ge­le­gen­hei­ten und in be­treff der Par­ochi­al­kin­der hier­her kom­men? Sie wis­sen doch, Mrs. Mann, dass Sie von der Par­ochi­al­be­hör­de an­ge­stellt sind und von der Par­ochi­al­be­hör­de be­zahlt wer­den!«

»Ich er­zähl­te ge­ra­de ei­nem paar der lie­ben Klei­nen, Mr. Bum­ble, de­rent­we­gen Sie so freund­lich sind sich her­zu­be­mü­hen, dass Sie kom­men wür­den«, wen­de­te Mrs. Mann mit großer Un­ter­wür­fig­keit ein.

Mr. Bum­ble hat­te eine sehr hohe Mei­nung von sei­ner Red­ner­ga­be und sei­ner amt­li­chen Wich­tig­keit. Er hat­te so­eben die eine ent­fal­tet und die an­de­re ge­wahrt. Er schlug da­her einen mil­de­ren Ton an.

»Nun, nun, Mrs. Mann«, sag­te er, »ich be­zweifle das ja gar nicht. Las­sen Sie mich aber jetzt hin­ein, Mrs. Mann. Ich kom­me in Ge­schäf­ten und habe Ih­nen et­was mit­zu­tei­len.«

Mrs. Mann führ­te den Kirch­spiel­die­ner in ein klei­nes Sprech­zim­mer, bot ihm einen Ses­sel an und leg­te dienst­be­flis­sen sei­nen drei­e­cki­gen Hut und sei­nen Amts­stab auf den Tisch. Mr. Bum­ble wisch­te sich den Schweiß von der Stirn, blick­te wohl­ge­fäl­lig auf sei­nen Drei­spitz und lä­chel­te. Wirk­lich und wahr­haf­tig, er lä­chel­te! Aber Kirch­spiel­die­ner sind eben auch nur Men­schen, da­her lä­chel­te Mr. Bum­ble.

»Sie dür­fen jetzt nicht be­lei­digt sein we­gen dem, was ich Ih­nen sa­gen will«, be­gann Mrs. Mann mit be­stri­cken­der Lie­bens­wür­dig­keit. »Sie ha­ben einen wei­ten Weg hin­ter sich, sonst wür­de ich gar nicht da­von an­fan­gen, aber sa­gen Sie, wol­len Sie nicht ein Gläs­chen neh­men?«

»Nicht einen Trop­fen, nicht einen Trop­fen«, wehr­te Mr. Bum­ble ab und schwenk­te sei­ne Rech­te in wür­de­vol­ler, aber freund­li­cher­wei­se.

»Sie wer­den mir ge­wiss den Ge­fal­len tun«, be­harr­te Mrs. Mann auf ih­rer Bit­te, den Ton, in dem die Wei­ge­rung ge­spro­chen wor­den, aber auch die be­glei­ten­de Ge­bär­de wohl er­fas­send. »Nur ein ganz klei­nes Gläs­chen mit ei­nem bis­sel kal­tem Was­ser und ei­nem Stück­chen Zu­cker?«

Mr. Bum­ble hüs­tel­te.

»Nur ein ganz klei­nes Gläs­chen«, wie­der­hol­te Mrs. Mann ihre Bit­te in drin­gen­dem Ton.

»Was ist es denn?« frag­te der Kirch­spiel­die­ner.

»Ach Gott, ich muss im­mer ein bis­serl da­von hier ha­ben, dass ich den lie­ben Klei­nen eine klei­ne Herz­stär­kung ge­ben kann, wenn ih­nen nicht recht gut ist, Mr. Bum­ble«, er­wi­der­te Mrs. Mann, öff­ne­te ein Schränk­chen und hol­te eine Fla­sche und ein Glas her vor. »Es ist Ge­ne­vre, ich will Ih­nen nichts vor­ma­chen, Mr. Bum­ble, es ist nur Ge­ne­vre.«

»Ge­ben Sie denn den Kin­dern Schnaps, Mrs. Mann?« frag­te der Kirch­spiel­die­ner und ver­folg­te mit den Bli­cken den in­ter­essan­ten Pro­zess der Mi­schung.

»O mein, ich tu­e’s halt, so teu­er es auch kom­men mag«, ver­setz­te die Pfle­ge­frau. »Sie wis­sen doch, ich könnt die ar­men Klei­nen nie­mals nicht lei­den se­hen.«

»Nein, nein«, sag­te Mr. Bum­ble zu­stim­mend, »Sie kön­nen es nicht. Sie sind über­haupt eine sehr hu­ma­ne Frau« – da­bei setz­te sie das Glas vor ihn hin – »ich wer­de nicht ver­säu­men, bei der nächs­ten bes­ten Ge­le­gen­heit es den Vor­stän­den ge­gen­über zur Spra­che zu brin­gen, Mrs. Mann«, (da­bei zog er das Glas nä­her zu sich) »Sie füh­len wie eine Mut­ter«, (da­bei er­griff er das Glas) »ich trin­ke hier­mit auf Ihre Ge­sund­heit, Mrs. Mann« (da­bei goss er das Glas zur Hälf­te hin­un­ter). »So und jetzt wol­len wir vom Ge­schäft re­den«, sag­te er und hol­te ein le­der­nes Ta­schen­buch her­vor. »Der Kna­be, der in der Wai­sen­tau­fe den Na­men Oli­ver Twist be­kom­men hat, wird heu­te neun Jah­re alt.«

»Got­tes Se­gen über ihn«, warf Mrs. Mann da­zwi­schen und konn­te nicht um­hin, sich die Au­gen mit der Schür­ze zu trock­nen.

»Trotz der aus­ge­schrie­be­nen Be­loh­nung von zehn Pfund, und spä­ter so­gar von zwan­zig Pfund, und trotz der ge­ra­de­zu über­na­tür­li­chen An­stren­gun­gen des Kirch­spiels«, fuhr Mr. Bum­ble fort, »sind wir nicht im­stan­de ge­we­sen, sei­nen Va­ter zu eru­ie­ren oder in Er­fah­rung zu brin­gen, wie sei­ne Mut­ter hieß, was sie war und wo­her sie stamm­te.«

Mrs. Mann hob er­staunt die Hän­de gen Him­mel, dach­te einen Au­gen­blick nach und frag­te: »Wie kommt es denn dann, dass er über­haupt einen Na­men hat?«

Der Kirch­spiel­die­ner warf sich in die Brust und ant­wor­te­te: »Den hab ich er­fun­den.«

»Sie, Mr. Bum­ble?«

»Ja­wohl, ich, Mrs. Mann. Wir be­nen­nen uns­re Zög­lin­ge im­mer nach dem Al­pha­bet. Zu­letzt hiel­ten wir bei S – Swub­ble, so nann­te ich das vor­letz­te Wai­sen­kind, und der nächs­te war ein T – Twist; ich habe eben­falls den Na­men er­fun­den. Wenn wie­der ei­ner kommt, wird er Un­win hei­ßen, und der Nächst­fol­gen­de Vil­kins. Ich habe mir schon eine gan­ze Rei­he von Na­men aus­ge­dacht, durchs gan­ze Al­pha­bet hin­durch; und wenn ich bei Z an­ge­kom­men bin, fan­ge ich beim A wie­der an.«

»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dich­ter«, sag­te Mrs. Mann.

»Nun, nun, mag sein«, gab der Kirch­spiel­die­ner zu, durch die­ses Kom­pli­ment sicht­lich ge­schmei­chelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Da­mit trank er sein Glas aus und setz­te hin­zu: »Oli­ver ist jetzt schon viel zu alt, um noch län­ger hier blei­ben zu dür­fen. Des­halb hat die Be­hör­de be­schlos­sen, ihn wie­der zu­rück ins Ar­beits­haus zu neh­men. Ich bin sel­ber her­ge­kom­men, um ihn ab­zu­ho­len. Wo steckt er?«

»Ich wer­de ihn so­gleich ho­len«, sag­te Mrs. Mann und ging zur Türe.

Gleich dar­auf er­schi­en sie wie­der mit Oli­ver, der in­zwi­schen ge­wa­schen, ge­strie­gelt und an­ge­klei­det wor­den war.

»Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oli­ver«, sag­te sie.

Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß, der zur Hälf­te dem Kirch­spiel­die­ner und zur an­de­ren Hälf­te dem Drei­spitz auf dem Ti­sche galt.

»Willst du mit mir ge­hen, Oli­ver?« frag­te Mr. Bum­ble fei­er­lichst.

Oli­ver woll­te schon ant­wor­ten, dass er je­der­zeit aufs be­reit­wil­ligs­te mit wem im­mer fort­zu­ge­hen wil­lens sei, blick­te aber zu­fäl­lig da­bei Mrs. Mann an, die hin­ter den Stuhl des Kirch­spiel­die­ners ge­tre­ten war und Oli­ver mit fürch­ter­li­cher Mie­ne mit der Faust droh­te. Er be­griff so­fort, denn er wuss­te nur zu gut, was die­se Faust al­les ver­moch­te.

»Kommt sie auch mit?« frag­te er schüch­tern.

»Nein, sie kann nicht mit­kom­men«, sag­te Mr. Bum­ble, »aber sie wird dich schon zu­wei­len be­su­chen dür­fen.«

Das war ge­wiss kein be­son­de­rer Trost für Oli­ver, aber trotz sei­ner Ju­gend hat­te er Grüt­ze ge­nug, sich zu stel­len, als ver­lie­ße er das Haus nur un­gern, und über­dies wa­ren ihm die Trä­nen in­fol­ge des ewi­gen Hun­ger­lei­dens und der erst vor kur­z­em er­fah­re­nen Züch­ti­gung nä­her als das La­chen. Wie­der­holt um­arm­te ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meis­ten brauch­te, näm­lich ein großes Stück But­ter­brot, da­mit er im Ar­beits­haus nicht all­zu hung­rig an­käme. Da­mit war die Sa­che ab­ge­macht. Mit dem Stück Brot in der Hand und sei­ner klei­nen Wai­sen­jun­gen­kap­pe aus brau­nem Tuch auf dem Kopf, wur­de er so­gleich von Mr. Bum­ble aus dem fürch­ter­li­chen Heim ge­führt, wo nie­mals der Strahl ei­nes freund­li­chen Blickes die Fins­ter­nis sei­ner ers­ten Kin­der­jah­re er­hellt hat­te. Den­noch konn­te er Trä­nen kind­li­chen Schmer­zes nicht zu­rück­drän­gen, als sich das Gar­ten­tor hin­ter ihm schloss; ver­ließ er doch sei­ne Lei­dens­ge­fähr­ten, die ein­zi­gen Ka­me­ra­den, die er je ge­kannt, und jetzt zum ers­ten Mal, seit er wuss­te, was Erin­ne­rung ist, wur­de ihm das Ge­fühl gänz­li­cher Ver­las­sen­heit in der großen wei­ten Welt be­wusst.

Mit schnel­len Schrit­ten eil­te Mr. Bum­ble vor­wärts, und der klei­ne Oli­ver klam­mer­te sich an sei­ne mit Gold­b­or­ten be­setz­ten Schö­ße, trot­te­te ne­ben ihm her und frag­te, als sie kaum eine Vier­tel­mei­le hin­ter sich hat­ten, ob sie bald am Zie­le wä­ren. Auf die­se öf­ters wie­der­hol­ten Fra­gen gab Mr. Bum­ble je­des Mal nur sehr kur­ze und brum­mi­ge Ant­wor­ten, denn die Mil­de, die der Ge­ne­vre mit heißem Was­ser ge­mischt in sei­nem Ge­müt viel­leicht er­zeugt ha­ben müss­te, war längst ver­flo­gen, und er fühl­te sich wie­der Kirch­spiel­die­ner vom Schei­tel bis zur Soh­le.

Oli­ver war noch nicht eine Vier­tel­stun­de in­ner­halb der Mau­ern des Ar­beits­hau­ses und hat­te kaum ein zwei­tes Stück­chen Brot ver­schlun­gen, als Mr. Bum­ble, der ihn der Ob­hut ei­ner al­ten Frau in­zwi­schen an­ver­traut, zu­rück­kehr­te und ihm er­klär­te, die Her­ren Vor­stän­de hät­ten be­foh­len, er sol­le un­ver­züg­lich vor ih­nen er­schei­nen.

Oli­ver, der kei­ne be­son­ders kla­re Vor­stel­lung von dem hat­te, was ein Vor­stand al­les sein kann, war von die­ser über­ra­schen­den Mit­tei­lung förm­lich be­täubt und wuss­te nicht, ob er la­chen oder wei­nen soll­te. Es blieb ihm je­doch kei­ne Zeit über die­sen Punkt ins rei­ne zu kom­men, denn Mr. Bum­ble ver­setz­te ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um sei­ne Geis­tes­kräf­te zu er­we­cken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile an­zu­spor­nen. Dann be­fahl er, ihm zu fol­gen, und führ­te ihn in ein großes weiß­ge­tünch­tes Zim­mer, in dem acht oder zehn wohl­be­leib­te Her­ren um einen Tisch her­umsa­ßen. Zu oberst in ei­nem Arm­stuhl, der ein biss­chen hö­her war als die üb­ri­gen, ein ganz be­son­ders wohl­be­leib­ter Herr mit ei­nem ku­gel­run­den ro­ten Kopf.