Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
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Wird gelesen Cora McDonald
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4 – Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein.

Die Her­ren Vor­stän­de hat­ten Mr. Bum­ble be­auf­tragt, sich zu er­kun­di­gen, ob nicht viel­leicht ein Strom­schif­fer einen Lehr­jun­gen brau­che. Es war im All­ge­mei­nen üb­lich, Wai­sen­kin­der oder sol­che, die man gern los­wer­den woll­te, zur See zu schi­cken. Als der Kirch­spiel­die­ner zu­rück­kehr­te, traf er vor dem Tore zu­fäl­lig Mr. So­wer­ber­ry, den Lei­chen­be­stat­ter des Kirch­spiels. Mr. So­wer­ber­ry war ein großer ha­ge­rer kno­chi­ger Mann in ei­nem schwar­zen fa­den­schei­ni­gen An­zug, mit schä­bi­gen Baum­woll­st­rümp­fen glei­cher Far­be und dement­spre­chen­dem Schuh­zeug an­ge­tan. Schon von Na­tur aus tru­gen sei­ne Züge nicht ge­ra­de einen lä­cheln­den Aus­druck, aber zu­fäl­lig be­fand er sich heu­te in der hei­tern Lau­ne, die sein Ge­wer­be mit sich brach­te. Sein Schritt war elas­tisch, und sein Ant­litz zeug­te von in­ne­rem Froh­sinn, wie er so auf Mr. Bum­ble zu­schritt und ihm herz­lich die Hand schüt­tel­te.

»Ich habe den bei­den Frau­en Maß ge­nom­men, die wo ges­tern Nacht ge­stor­ben sin, Mr. Bum­ble«, sag­te er.

»Sie wer­den noch mal ein rei­cher Mann wer­den, Mr. So­wer­ber­ry«, be­merk­te Mr. Bum­ble und steck­te Dau­men und Zei­ge­fin­ger in die hin­ge­reich­te Schnupf­ta­baks­do­se des Lei­chen­be­stat­ters, die sin­nig ein klei­nes Mo­dell ei­nes Sar­ges dar­stell­te. »Ich sags im­mer, Sie wer­den noch ein­mal ein rei­cher Mann, Mr. So­wer­ber­ry«, wie­der­hol­te Mr. Bum­ble und klopf­te dem Lei­chen­be­stat­ter ver­trau­lich auf die Schul­ter.

»Glau­ben Sie?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter in ei­nem Ton, halb zu­stim­mend, halb ab­leh­nend. »Die Kos­ten, die wo mir die Her­ren Vor­stän­de be­wil­li­chen, sin sehr nied­rich.«

»Ihre Sär­ge aber auch«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner und ver­zog sein Ge­sicht zu ei­nem Lä­cheln, das sei­ner ho­hen Stel­lung an­ge­mes­sen war.

Mr. So­wer­ber­ry fühl­te sich durch die­se Herab­las­sung nicht we­nig ge­schmei­chelt und lach­te eine Wei­le ge­zie­mend.

»Nun ja, Mr. Bum­ble«, sag­te er schließ­lich. »Zu leuch­nen ist frei­lich nich, dass seit Ein­füh­rung des neu­en Sys­tems die Sär­ge nied­ri­cher und kür­zer ge­wor­den sind, als sie sonst wa­ren, aber schließ­lich muss man sie doch ha­ben, Mr. Bum­ble. Gu­tes trock­nes Holz ist nich bil­lich und die Be­schlä­ge be­zie­he ich di­rekt aus den Ei­sen­fa­bri­ken in Bur­ming­ham.«

»Ja­wohl, ja­wohl, ich weiß, ich weiß«, sag­te Mr. Bum­ble. »Je­des Ge­schäft hat so sei­ne klei­nen Knif­fe, und das nimmt man auch nicht übel.«

»Na­tür­lich nich, na­tür­lich nich«, stimm­te der Lei­chen­be­stat­ter ein. »Wenn auch bei mei­nem Ar­ti­kel nich viel zu ver­die­nen is, so muss ich eben schau­en, es an­ders­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen – hi­hi­hi.«

»Sehr rich­tig«, sag­te Mr. Bum­ble. »Üb­ri­gens so ne­ben­bei: wis­sen Sie nicht je­man­den, der einen Lehr­jun­gen brau­chen könn­te; einen Jun­gen aus dem Ar­beits­haus, einen, der uns nicht vom Hals geht, und den wir am Bein ha­ben wie eine Ket­te. Fei­ne Be­din­gun­gen, Mr. So­wer­ber­ry! Sehr fei­ne Be­din­gun­gen!« da­bei deu­te­te Mr. Bum­ble mit sei­nem Stock auf den Zet­tel, der auf dem Tor kleb­te, und führ­te drei nach­drück­li­che Schlä­ge ge­gen die Wor­te »fünf Pfund«, die dort mit großen Let­tern zu le­sen wa­ren.

»Sa­per­ment, Sa­per­ment«, rief der Lei­chen­be­stat­ter und fass­te Mr. Bum­ble an ei­nem sei­ner gold­nen Knöp­fe. »Dar­über woll­te ich ge­ra­de mit Ih­nen spre­chen. Üb­ri­gens alle Ach­tung, was für ein ele­gan­ter Knopf ist das, Mr. Bum­ble. Den habe ich ja noch nie an Ih­nen ge­se­hen.«

»Ja, ja, er ist ganz hübsch«, sag­te der Kirch­spiel­die­ner und blick­te mit Stolz auf sei­ne großen Me­tall­knöp­fe. »Und das Wap­pen des Kirch­spiels ist drauf. Sie se­hen: der barm­her­zi­ge Sa­ma­ri­ter, wie er sich des Kran­ken an­nimmt. Die Her­ren Vor­stän­de ver­lie­hen mir das Wap­pen an je­nem Mor­gen, Mr. So­wer­ber­ry, als ein Ar­bei­ter da­mals in­fol­ge Über­nach­tens in ei­nem Tor­we­ge er­fro­ren war.«

»Ja, ja, ich er­in­ne­re mich«, sag­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Die Lei­chen­be­schau­kom­mis­si­on fäll­te da­mals den Spruch: ge­stor­ben in­fol­ge Er­frie­rens und aus Man­gel an den ge­wöhn­lichs­ten Le­bens­be­dürf­nis­sen. Wars nich so?«

Mr. Bum­ble nick­te. »Ja, ja, die Lei­chen­be­schau­er«, sag­te er und fass­te sei­nen Stock fes­ter, – was er im­mer tat, wenn er är­ger­lich wur­de. »Uns­re Lei­chen­be­schau­er sind ein ganz un­ge­bil­de­tes dum­mes Pack.«

»Ja, das stimmt«, er­wi­der­te So­wer­ber­ry.

Mr. Bum­ble nahm sei­nen Drei­spitz ab, nahm das dar­in be­find­li­che Ta­schen­tuch und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn, den der Är­ger sei­nem Haup­te ent­lockt, und setz­te den Hut wie­der auf. Dann wand­te er sich mit ver­än­der­tem Ton an den Lei­chen­be­stat­ter.

»Na also, wie ist’s, was solls mit dem Jun­gen?«

»Nun, Sie wis­sen«, er­wi­der­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Sie wis­sen, Mr. Bum­ble, ich tra­che eine hüb­sche Sum­me mit zu den Ar­men­steu­ern bei.«

»Hem«, hüs­tel­te Mr. Bum­ble. »Na und?«

»Na und da dach­te ich«, fuhr So­wer­ber­ry fort, »wenn ich schon so viel zah­le, habe ich viel­leicht auch ein Recht, es an­der­weits ir­chend­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen, Mr. Bum­ble. Na und da dach­te ich, ich könn­te den Jun­gen viel­leicht neh­men.«

Mr. Bum­ble er­griff ihn am Arm und führ­te ihn so­fort ins Haus. Dann schloss er sich fünf Mi­nu­ten mit ihm ein, und es wur­de zwi­schen ih­nen ver­ein­bart, dass Oli­ver noch heu­te Abend zu Mr. So­wer­ber­ry kom­men soll­te – vor­der­hand nur zur Pro­be – eine Phra­se, die, auf einen Kirch­spiel­wai­sen­kna­ben an­ge­wen­det, wei­ter nichts zu be­deu­ten hat­te, als dass der Lehr­meis­ter be­rech­tigt war, wenn er nach ei­ner kur­z­en Pro­be­zeit be­merk­te, dass der Jun­ge mehr zu ar­bei­ten im­stan­de war, als er Es­sen brauch­te, mit die­sem eine be­stimm­te Zahl von Jah­ren ver­fah­ren konn­te, wie es ihm be­lieb­te.

Als der klei­ne Oli­ver noch am sel­ben Abend den Her­ren Vor­stän­den vor­ge­führt wur­de und er­fuhr, er sol­le so­gleich zu ei­nem Sarg­tisch­ler als Lauf­bur­sche in die Leh­re ge­ge­ben oder zur See ge­schickt wer­den, falls er sich un­ter­fan­gen soll­te auf­zu­mu­cken, da leg­te Oli­ver so we­nig Er­re­gung an den Tag und blieb so stumpf al­lem ge­gen­über, was er an­hö­ren muss­te, dass man ihn ein­stim­mig als einen der ver­stock­tes­ten jun­gen Gal­gen­vö­gel er­klär­te; Mr. Bum­ble be­deu­te­te ihm, so­fort mit­zu­kom­men.

Wenn es auch wei­ter nicht zu ver­wun­dern war, dass die Her­ren Ge­mein­de­vor­stän­de dar­über in Ent­rüs­tung ge­rie­ten, dass sich ein jun­ger Mensch, der ih­rer Für­sor­ge an­ver­traut war, in ei­nem sol­chen Fal­le gänz­lich emp­fin­dungs­los zeig­te, so be­ur­teil­ten sie den­noch den Fall ganz falsch. Die Sa­che lag ein­fach so, dass Oli­ver nicht nur nicht emp­fin­dungs­los war, son­dern viel­mehr in­fol­ge der schlech­ten Be­hand­lung, die er er­fah­ren, sich auf dem bes­ten Wege be­fand, für sein gan­zes Le­ben in einen Zu­stand tie­ri­scher Stumpf­heit und geis­ti­ger Um­nach­tung zu ver­sin­ken. Un­be­weg­lich und stumm hör­te er die an ihn ge­rich­te­ten Wor­te an, schein­bar voll­stän­dig gleich­gül­tig ge­gen­über sei­nem wei­te­ren Schick­sal. Nach­dem man ihm sein Bün­del, be­ste­hend aus ei­nem klei­nen Pa­ket, in die Hand ge­drückt, zog er sei­ne Müt­ze über die Au­gen und ließ sich wi­der­stands­los von Mr. Bum­ble hin­aus­füh­ren. Eine Zeit lang schleif­te ihn der Kirch­spiel­die­ner hin­ter sich her, ohne ihn ei­nes Blickes oder Wor­tes zu wür­di­gen. Es war ein win­di­ger Tag, und wenn der Luft­zug Mr. Bum­bles Rock­schö­ße auf­weh­te, wo­bei die lang­zipf­li­ge Kirch­spiel­die­ner­wes­te und die Knie­ho­sen aus gel­bem Samt sich den Bli­cken ent­hüll­ten, ver­schwand der klei­ne Oli­ver fast ganz hin­ter den flat­tern­den Klei­dungs­stücken. Als sie sich knapp vor ih­rem Ziel be­fan­den, hielt es Mr. Bum­ble für an der Zeit, sei­nen Blick zu sen­ken und sich zu über­zeu­gen, ob der Jun­ge so­weit prä­sen­ta­bel sei, um das Wohl­ge­fal­len sei­nes neu­en Meis­ters und Herrn er­we­cken zu kön­nen.

»Oli­ver!« sag­te er.

»Ja, Sir?« er­wi­der­te Oli­ver mit be­ben­der Stim­me.

»Schieb dir die Müt­ze aus der Stirn, Jun­ge, und hal­te dich ge­ra­de.«

Trotz­dem Oli­ver au­gen­blick­lich ge­horch­te und sich mit dem Han­drücken über die feuch­ten Au­gen fuhr, schim­mer­te doch noch eine Trä­ne dar­in, und wie Mr. Bum­ble mit Stren­ge auf ihn her­nie­der­blick­te, roll­te ihm die Trä­ne die Wan­ge hin­un­ter. Eine zwei­te Trä­ne folg­te und noch eine drit­te. Der Klei­ne gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die an­de­re Hand aus Mr. Bum­bles Hand, be­deck­te sein Ge­sicht und wein­te, bis ihm die Trä­nen über das Kinn her­ab­tropf­ten und zwi­schen den ma­gern Fin­gern her­vor­quol­len.

»Da hört sich doch al­les auf«, rief Mr. Bum­ble, blieb ste­hen und run­zel­te wü­tend die Au­gen­brau­en. »Von all den un­dank­bars­ten ver­dor­bens­ten Wai­sen­bu­ben, Oli­ver, die mir je un­ter­ge­kom­men sind, bist du doch der schlimms­te.«

»Nein, nein, Sir«, schluchz­te Oli­ver und klam­mer­te sich wie­der an die Hand, die den wohl­be­kann­ten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirk­lich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so -«

»Was denn – so?« forsch­te Mr. Bum­ble er­staunt.

»So ein­sam und ver­las­sen, Sir, so schreck­lich ein­sam«, schluchz­te der Klei­ne. »Nie­mand kann mich lei­den. Bit­te, sei­en Sie nicht auch noch böse auf mich.«

Da­bei drück­te er die Hand aufs Herz und blick­te sei­nem Beglei­ter ins Ge­sicht, wäh­rend Trä­nen tiefs­ten Schmer­zes sei­ne Au­gen füll­ten.

 

Ein paar Se­kun­den lang be­trach­te­te Mr. Bum­ble Oli­vers hil­fe­fle­hen­des Ge­sicht voll Er­stau­nen, dann hüs­tel­te er ein paar­mal ver­le­gen, mur­mel­te ein paar Wor­te über das dum­me Wet­ter und er­mahn­te ihn, ein gu­ter Jun­ge zu sein. Dann fass­te er ihn wie­der bei der Hand und ging schwei­gend mit ihm wei­ter.

Der Lei­chen­be­stat­ter hat­te eben sei­nen La­den ge­schlos­sen und mach­te ge­ra­de beim Schim­mer ei­ner Talg­ker­ze ein paar Ein­tra­gun­gen in sein Kon­to­buch, als Mr. Bum­ble ein­trat.

»Aha«, rief er und blick­te von dem Bu­che auf. »Sie sind es, Bum­ble.«

»Ja­wohl, ich bins«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner. »Hier ist er. Ich habe Ih­nen den Jun­gen mit­ge­bracht.«

Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß.

»Also das ist der Jun­ge, was?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter und hielt die Ker­ze in die Höhe, um den Klei­nen bes­ser be­sich­ti­gen zu kön­nen. »Lie­be Frau, sei ein­mal so gut und komm einen Au­gen­blick her.«

Mrs. So­wer­ber­ry tauch­te aus ei­nem klei­nen Zim­mer hin­ter dem La­den auf, und auf den ers­ten Blick konn­te man er­ken­nen, dass sie eine klei­ne ha­ge­re Per­son mit zän­ki­schem Ge­sichts­aus­druck war.

»Lie­be Frau«, be­gann Mr. So­wer­ber­ry be­tre­ten, »das ist der Jun­ge aus dem Ar­men­haus, von dem ich dir er­zählt habe.« – Oli­ver mach­te aber­mals einen Kratz­fuß.

»Gott im Him­mel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«

»Frei­lich, ein we­nig klein ist er«, gab Mr. Bum­ble zu und sah Oli­ver mit ei­nem stra­fen­den Blick an, als ob die­ser die Schuld dar­an tra­ge, dass er nicht grö­ßer ge­wor­den sei. – »Klein ist er, das lässt sich nicht be­strei­ten. Aber er wird schon noch wach­sen, Mrs. So­wer­ber­ry.«

»Ja, ja, auf uns­re Kos­ten!« zank­te die Frau ver­drieß­lich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich ken­ne schon die Ar­men­haus­kin­der, die fres­sen im­mer mehr, als sie wert sind. Aber die Män­ner wis­sen na­tür­lich im­mer al­les am bes­ten. Marsch, die Trep­pe hin­un­ter, du Häuf­chen Un­glück!« Mit die­sen Wor­ten öff­ne­te Mrs. So­wer­ber­ry eine klei­ne Tür und dräng­te Oli­ver eine stei­le Trep­pe hin­ab in einen feuch­ten fins­tern Kel­ler, der den Vor­raum zum Koh­len­kel­ler bil­de­te und die Be­zeich­nung Kü­che trug. Dort saß ein schlum­pi­ges Dienst­mäd­chen mit Schu­hen mit schie­fen Ab­sät­zen und blau­en St­rümp­fen voll großer Lö­cher, die of­fen­bar schon seit lan­gem auf Re­pa­ra­tur war­te­ten.

»Hier, Char­lot­te«, sag­te Mrs. So­wer­ber­ry, »gib dem Jun­gen ein paar von den Res­ten, die für Trip auf­ge­ho­ben wor­den sind. Seit mor­gens streunt das Biest auf der Gas­se her­um, da soll es sich mal hung­rig zu Bett le­gen. Hof­fent­lich ist der Bur­sche da nicht zu hei­kel. He, Jun­ge, was sagst du dazu?«

Oli­ver, des­sen Au­gen, als von Es­sen die Rede war, auf­ge­leuch­tet hat­ten, zit­ter­te förm­lich vor Gier und be­teu­er­te, dass er durch­aus nicht hei­kel sei; und dar­auf­hin wur­de ihm eine Schüs­sel Spei­sen­ab­fäl­le vor­ge­setzt.

Wenn da nur so ein ge­wis­ser satt­ge­fres­se­ner Theo­re­ti­ker mit ei­nem Her­zen von Stein zu­ge­se­hen hät­te, wie sich Oli­ver Twist über das Fut­ter her­mach­te, das für den Hund be­stimmt war, und die Gier, mit der er die Bis­sen aus­ein­an­der­riss – hal­b­ohn­mäch­tig von Hun­ger. Noch bes­ser, wenn ein sol­cher Theo­re­ti­ker selbst ein­mal ge­zwun­gen wäre, sich über eine der­ar­ti­ge Sor­te Fut­ter herzu­ma­chen …

»Na?« frag­te die Frau Lei­chen­be­stat­te­rin, als Oli­ver mit al­lem gründ­lich auf­ge­räumt hat­te, stumm vor Ent­set­zen und bö­ser Ah­nung, wie das mit dem Ap­pe­tit des Lehr­jun­gen in Hin­kunft wei­ter­ge­hen wür­de. »Na, bist du jetzt fer­tig?«

Da nichts Ess­ba­res mehr vor­han­den war, ant­wor­te­te Oli­ver mit »Ja«.

»Also, dann komm mit«, brumm­te Mrs. So­wer­ber­ry, nahm eine trüb­bren­nen­de schmut­zi­ge Lam­pe und ging ihm die Trep­pe vor­aus hin­auf. »Da hier un­ter dem La­den­tisch ist ein Bett. Hof­fent­lich machst du dir nichts dar­aus in den Sär­gen zu schla­fen, was? Aber mir kanns gleich­gül­tig sein, ob dir’s et­was aus­macht oder nicht. Kurz und gut: hier ist dein Bett. So, jetzt mach dich fer­tig, ich hab’ kei­ne Lust, die gan­ze Nacht hier zu ste­hen.«

Schüch­tern und schwei­gend ge­horch­te Oli­ver.

5 – Oliver bekommt einen neuen Horizont und wohnt zum ersten Mal einem Leichenbegängnis bei.

In der Werk­stät­te des Sarg­tisch­lers sich selbst über­las­sen, setz­te Oli­ver sei­ne Lam­pe auf eine Werk­bank, von Furcht und Grau­en durch­schau­ert. Ein fer­ti­ger Sarg auf ei­nem schwar­zen Ge­stell mit­ten im La­den er­in­ner­te ihn so sehr an den Tod, dass ihn ein kal­ter Schau­er über­lief, so oft sich sein Blick hin­ver­irr­te, und zu­wei­len kam es ihm so vor, als müs­se je­den Au­gen­blick eine ent­setz­li­che Ge­stalt lang­sam ihre Hand er­he­ben und ihn aus dem Sar­ge her­aus an­star­ren, bis er wahn­sin­nig vor Furcht wür­de. Die Wand ent­lang in re­gel­mä­ßi­gen Rei­hen stand eine Men­ge Bret­ter aus Ul­men­holz, alle eben­falls zu Sär­gen be­stimmt. Bei dem trü­ben Licht sa­hen sie wie hoch­schult­ri­ge Ge­s­pens­ter aus, die die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen ge­steckt hat­ten. Sarg­plat­ten, Holz­spä­ne, lang­köp­fi­ge Nä­gel und Stücke Trau­er­flor la­gen auf dem Bo­den um­her. Die Wand hin­ter dem La­den­tisch war mit ei­nem Bild ge­schmückt, das zwei Lei­chen­die­ner mit stei­fen Kra­gen, die vor dem Por­tal ei­nes Pri­vat­hau­ses ihr Amt ver­sa­hen, dar­stell­te, wäh­rend ein Lei­chen­wa­gen, von vier schwar­zen Pfer­den ge­zo­gen, aus der Fer­ne her­an­ge­fah­ren kam. Der La­den war eng und heiß und die gan­ze Luft ge­sät­tigt von dem Ge­ruch von Sär­gen. Der Ver­schlag un­ter dem La­den­tisch, wo für Oli­ver eine Woll­ma­trat­ze aus­ge­brei­tet lag, sah aus wie ein Grab.

Oli­ver fühl­te sich trost­los al­lein und ver­las­sen, und wenn er auch kei­nen Schmerz über Tren­nung von Freun­den oder An­ge­hö­ri­gen emp­fand, so war ihm doch das Herz un­säg­lich schwer. Und wie er in sein en­ges Bett hin­ein­kroch, wünsch­te er sich, es möch­te sein Sarg sein und man trü­ge ihn hin­aus auf den Kirch­hof, wo das hohe stil­le Gras über ihm im Win­de säu­sel­te und das Läu­ten der al­ten Kirch­turm­glo­cken ihn träu­men mach­te in süßem Schlum­mer.

Am nächs­ten Mor­gen er­weck­ten ihn lau­te Fuß­trit­te ge­gen die Au­ßen­sei­te der Werk­stät­ten­tü­re. Er sprang auf und be­gann die Vor­häng­ket­te zu lö­sen; da erst lie­ßen die Füße von ih­ren Trit­ten ab und eine Stim­me rief: »Mach’ die Tür auf, na, wird’s bald!« »So­fort, Sir«, er­wi­der­te Oli­ver, mach­te die Ket­te gänz­lich los und dreh­te den Schlüs­sel um.

»Du bist wohl der neue Lehr­bursch, was?« frag­te die Stim­me durch das Schlüs­sel­loch.

»Ja, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver.

»Wie alt bist du denn?« frag­te die Stim­me wei­ter.

»Zehn Jah­re, Sir.«

»Dann werd’ ich dich durch­prü­geln, wenn ich hin­ein­kom­me«, pro­phe­zei­te die Stim­me. »Gib nur acht, wenn ich erst drin bin, du Zucht­häus­ler.«

Nach die­sem lie­bens­wür­di­gen Ver­spre­chen schwieg der un­sicht­ba­re Mund und be­gann zu pfei­fen.

Oli­ver hat­te schon zu oft das an­ge­droh­te Schick­sal über sich er­ge­hen las­sen, um noch den lei­ses­ten Zwei­fel zu he­gen, dass der Be­sit­zer der Stim­me, wer er auch sein möge, sein Ver­spre­chen hal­ten wer­de. Mit zit­tern­der Hand schob er den Rie­gel zu­rück und öff­ne­te die Türe.

Ein paar Se­kun­den lang blick­te er die Stra­ße auf und ab, im Glau­ben, der Un­be­kann­te, der ihn durch das Schlüs­sel­loch an­ge­re­det, sei ein paar Schrit­te wei­ter­ge­gan­gen, um sich zu er­wär­men, aber er er­blick­te nie­mand als einen Wai­sen­jun­gen aus dem städ­ti­schen Ar­men­haus, der auf ei­nem Pfos­ten vor dem Hau­se saß und ein But­ter­brot ver­zehr­te.

»Ent­schul­di­gen Sie, Sir«, sag­te Oli­ver schließ­lich, da er nie­mand an­ders se­hen konn­te, »ha­ben Sie viel­leicht ge­klopft?«

»Ja, mit die Fieß an die Tür g’­sto­ßen hab i«, er­wi­der­te der frem­de Wai­sen­kna­be.

»Wün­schen Sie viel­leicht einen Sarg?« frag­te Oli­ver un­schul­dig.

»Du wirst bald sel­ber einen brau­chen«, war die zor­ni­ge Ant­wort, »wenn du dir sol­che Frech­hei­ten mit dei­nem Vor­ge­setz­ten her­aus­nimmst. Du weißt viel leicht gar nicht, wer ich bin«, fuhr der Wai­sen­kna­be fort und er­hob sich wür­de­voll von sei­nem Sitz.

»Nein, Sir«, gab Oli­ver zu.

»Ich bin Mr. Noah Clay­po­le«, sag­te der Wai­sen­jun­ge, »und du bist mein Un­ter­ge­be­ner. Mach’ die Fens­ter­lä­den auf, jun­ger Hund!« Bei die­sen Wor­ten ver­setz­te »Mr.« Clay­po­le Oli­ver einen Tritt und schritt mit wür­de­vol­ler Mie­ne in die Werk­stät­te. Für einen jun­gen Herrn mit großem Schä­del und klei­nen Maus­au­gen, von schlott­ri­ger Ge­stalt und ei­nem Brei­ge­sicht ist es nicht leicht, sich ein wür­de­vol­les Air zu ge­ben. Aber ganz be­son­ders schwie­rig ist es, wenn zu die­sen per­sön­li­chen Vor­zü­gen noch eine rote Nase und gel­be Knie­ho­sen hin­zu­kom­men.

Nach­dem Oli­ver die Fens­ter­lä­den ent­fernt und bei sei­nem Be­mü­hen, sie bei­sei­te zu stel­len, eine Fens­ter­schei­be zer­bro­chen hat­te, wur­de er beim Weg­schlep­pen der üb­ri­gen Vor­fens­ter gnä­digst von Mr. Noah un­ter­stützt, der ihm da­bei als Trost die Ver­si­che­rung gab, er wür­de es »mords­mä­ßig er­wi­schen«. Bald dar­auf kam Mr. So­wer­ber­ry her­un­ter und so­gleich er­schi­en auch Mrs. So­wer­ber­ry. Und rich­tig ging Mr. Noahs Pro­phe­zei­ung in Er­fül­lung, d.h. Oli­ver krieg­te es wirk­lich und folg­te dann sei­nem ju­gend­li­chen Amts­ge­nos­sen die Trep­pe hin­un­ter zum Früh­stück.

»Komm nä­her zum Feu­er«, sag­te Char­lot­te. »Ich hab’ dir ein Stückel Speck auf­g’ho­ben von dem Herrn sei­nem Früh­stück, Oli­ver, mach’ die Tür zu hin­ter Mr. Noah und nimm dir die Res­te, die ich dir dort­hin ge­stellt hab’. Da hast dei­nen Tee, nimm dir ihn und scher dich zu der Kis­ten dort und trink ihn – aber a bis­sel rasch ge­fäl­ligst. Du musst nach­her auf den La­den acht­ge­ben, ver­stan­den?«

»Ver­stan­den, Zucht­häus­ler?« wie­der­hol­te Noah Clay­po­le.

»Jes­sas, Jes­sas, Noah!« rief Char­lot­te. »Bist du aber heut lus­tig; lass doch den Ben­gel in Ruh.«

»In Ruh las­sen?« sag­te Noah. »Der wird schon so­wie­so g’­nug in Ruh g’las­sen. Den las­sen sein Va­ter und sei­ne Mut­ter schon so­wie­so in Ruh. Sei­ne gan­ze Ver­wandt­schaft lasst ihn schon in Ruh. Was, Char­lot­te? Hi­hi­hi!«

Char­lot­te konn­te sich gar nicht hal­ten vor Ge­läch­ter, in das Noah kräf­tig mit ein­stimm­te. Dann setz­ten sie sich zu­sam­men und war­fen von Zeit zu Zeit dem ar­men Oli­ver ver­ächt­li­che Bli­cke zu, wie er vor Käl­te schau­dernd auf sei­ner Kis­te im Win­kel saß und die schä­bi­gen Res­te ver­zehr­te, die für ihn auf­ge­ho­ben wa­ren.

Noah war ein Zög­ling aus dem Wai­sen­stift und nicht etwa eine Wai­se aus dem Ar­beits- oder Ar­men­haus. Er war auch kein Find­ling und konn­te sei­nen Stamm­baum schnur­ge­ra­de bis zu sei­nen El­tern hin­auf, die dicht da­ne­ben wohn­ten, her­lei­ten. Sei­ne Mut­ter war eine Wasch­frau und sein Va­ter ein ver­sof­fe­ner Sol­dat mit ei­nem Stelz­fuß und ei­ner Ta­ge­spen­si­on von zwei­ein­halb Pence. Die Lauf­bur­schen in der Nach­bar­schaft pfleg­ten Noah mit dem Spitz­na­men »Wai­sen­stift­ler« oder »Le­der­büch­se« zu be­le­gen, und Noah hat­te es still­schwei­gend er­tra­gen müs­sen. Aber jetzt warf ihm das Schick­sal durch einen glück­li­chen Zu­fall einen Wai­sen­kna­ben ohne Na­men in den Weg, auf den selbst das ver­wor­fens­te Ge­schöpf spöt­tisch mit dem Fin­ger deu­ten durf­te; an ihm ge­dach­te er jetzt sei­ne gan­ze lang auf­ge­spei­cher­te Wut aus­zu­las­sen. Es be­stand der­sel­be Un­ter­schied zwi­schen Oli­ver und ihm wie zwi­schen ei­nem hoch­ge­bo­re­nen Lord und ei­nem schmut­zi­gen Stra­ßen­jun­gen.

Un­ge­fähr drei bis vier Wo­chen war Oli­ver bei dem Lei­chen­be­stat­ter ge­we­sen, als Mr. So­wer­ber­ry ei­nes Ta­ges sei­ner Ehe­hälf­te ge­gen­über auf ihn zu spre­chen kam. »Der Jun­ge sieht jetzt präch­tig aus, mei­ne Lie­be«, sag­te er.

»Na, es­sen tut er wahr­haf­tig g’­nug«, knurr­te Mrs. So­wer­ber­ry.

»Es liegt ein Aus­druck von Me­lan­cho­lie in sei­nem Ge­sicht, mei­ne Lie­be, so­dass ich glau­be, er wür­de sich vor­treff­lich als Ker­zen­trä­ger bei ei­nem Lei­chen­be­gäng­nis eig­nen.«

Mrs. So­wer­ber­ry blick­te ver­wun­dert auf, und ihr Gat­te fuhr eif­rig fort:

 

»Ich mei­ne nicht, wenn ein Er­wach­se­ner be­gra­ben wird, son­dern bei Kin­der­be­stat­tun­gen. Es wäre eine ganz neue Idee, und ich glau­be, sie müss­te sich ganz vor­treff­lich durch­füh­ren las­sen.«

Mrs. So­wer­ber­ry, die in ge­schäft­li­chen Din­gen einen großen Scharf­blick be­saß, er­kann­te so­fort, dass der Ge­dan­ke eben­so vor­züg­lich wie neu war. Da sie sich aber in ih­rer Wür­de nichts ver­ge­ben woll­te, frag­te sie nur spitz, wes­halb denn ihr Herr Ge­mahl eine so na­he­lie­gen­de Idee nicht schon längst ge­habt habe. Mr. So­wer­ber­ry, der dies ganz rich­tig als eine Zu­stim­mung zu sei­nem Vor­schlag deu­te­te, ord­ne­te dem­ge­mäß an, dass Oli­ver un­ver­züg­lich in die Mys­te­ri­en des Lei­chen­be­stat­ter­ge­schäfts ein­zu­wei­hen sei und be­reits bei der nächs­ten Ge­le­gen­heit ei­nem Be­gräb­nis bei­zu­woh­nen habe.

Die Ge­le­gen­heit ließ nicht lan­ge auf sich war­ten. Be­reits am nächs­ten Mor­gen, un­ge­fähr eine hal­be Stun­de nach dem Früh­stück, er­schi­en Mr. Bum­ble im La­den, lehn­te sei­nen Stock ge­gen die Werk­bank, zog ein großes le­der­nes No­tiz­buch aus der Ta­sche, ent­nahm die­sem einen klei­nen Zet­tel und über­reich­te ihn Mr. So­wer­ber­ry.

»Aha«, sag­te der Sarg­tisch­ler mit freu­di­ger Mie­ne. »Eine Be­stel­lung für Sär­ge, wie?«

»Vor­läu­fig nur für einen Sarg«, be­stä­tig­te Mr. Bum­ble, »und au­ßer­dem für ein Ge­mein­de­be­gräb­nis.«

»Bai­ton?« las der Lei­chen­be­stat­ter von dem Zet­tel ab und blick­te Mr. Bum­ble fra­gend an. »Den Na­men habe ich frü­her noch nie­mals ge­hört.«

Mr. Bum­ble nick­te. »Eine wi­der­spens­ti­ge Ban­de, Mr. So­wer­ber­ry, eine sehr wi­der­spens­ti­ge Ban­de. Hoch­fah­rend sag’ ich Ih­nen, nicht zu glau­ben.«

»Hoch­fah­rend, wie?« rief Mr. So­wer­ber­ry und grins­te. »Aber hö­ren Sie, das ist wirk­lich stark.«

»Die Gelb­sucht könn­te man be­kom­men vor Wut«, rief der Kirch­spiel­die­ner, »amo­nia­ka­lisch kann ich Ih­nen sa­gen, Mr. So­wer­ber­ry.«

»Stimmt, stimmt«, pflich­te­te der Lei­chen­be­stat­ter bei.

»Wir ha­ben erst vor­ges­tern Abend von der Fa­mi­lie er­fah­ren«, be­rich­te­te Mr. Bum­ble, »und auch das nur, weil eine Frau, die mit ih­nen im sel­ben Hau­se wohn­te, beim Herrn Vor­stand bit­ten kam, man möge den Ar­men­arzt hin­schi­cken, um nach ei­ner Kran­ken zu se­hen, mit der es sehr schlecht ste­he. Der Herr Dok­tor war ge­ra­de beim Mit­ta­ges­sen, aber sein As­sis­tent – ein ver­dammt schnei­di­ger Bur­sche, sage ich Ih­nen – hat so­gleich ein Fla­sche voll Me­di­zin hin­ge­schickt.«

»Das nenn’ ich mir ge­wis­sen­haft im Dienst«, rief der Lei­chen­be­stat­ter be­wun­dernd.

»Ja ja, ist’s auch«, ver­setz­te der Kirch­spiel­die­ner. »Aber was glau­ben Sie, war die Fol­ge? Frech ist die Ban­de auch noch ge­wor­den. Der wert­ge­schätz­te Herr Ge­mahl von der Kran­ken hat sa­gen las­sen, die Ar­ze­nei passt nicht für sei­ne Frau, und er gibt nicht zu, dass sie so was ein­nimmt. Ich sag’ Ih­nen, eine fei­ne kräf­ti­ge Me­di­zin, die erst acht Tage vor­her zwei iri­sche Taglöh­ner und ein Koh­len­trä­ger mit bes­tem Er­folg ein­ge­nom­men ha­ben – und noch dazu in ei­ner Wichs­fla­sche, und der Kerl lässt sa­gen: sei­ne Frau nimmt so was nicht.« Em­pört ließ Mr. Bum­ble sei­nen Stock auf den La­den­tisch nie­der­sau­sen und wur­de rot im Ge­sicht wie ein Trut­hahn.

»Nein so was«, rief der Lei­chen­be­stat­ter.

»Ja­wohl, so was«, schrie Mr. Bum­ble. »Aber jetzt ist das Frau­en­zim­mer tot, und da heißt’s, sie un­ter die Erde brin­gen; und dar­um han­delt sich’s jetzt. Je schnel­ler die Sa­che in Ord­nung ist, de­sto bes­ser.« Da­bei setz­te Mr. Bum­ble sei­nen Drei­spitz fie­bernd vor Er­re­gung wie­der auf, an­fangs ver­kehrt und erst beim zwei­ten Male rich­tig, und stürm­te aus dem La­den.

»Er hat sich so ge­gif­tet, Oli­ver, dass er ganz ver­ges­sen hat, nach dir zu fra­gen«, sag­te Mr. So­wer­ber­ry und blick­te dem Kirch­spiel­die­ner nach, wie er die Stra­ße hin­un­ter­stampf­te.

Dann setz­te er sei­nen Hut auf und brumm­te: »Je schnel­ler wir das Ge­schäft ab­ma­chen, umso bes­ser. Noah, pass un­ter­des­sen auf den La­den auf. Oli­ver, nimm dei­ne Müt­ze und komm mit.« Oli­ver Twist ge­horch­te und folg­te stumm sei­nem Herrn.

Eine Zeit lang schrit­ten sie durch den be­leb­tes­ten und be­völ­kerts­ten Teil der Stadt. Dann bo­gen sie in eine enge Gas­se ein, die von Schmutz nur so starr­te, und blie­ben ste­hen, um sich nach dem be­zeich­ne­ten Hau­se um­zu­se­hen. Die Häu­ser auf bei­den Sei­ten wa­ren hoch und mas­sig, aber sehr alt, und wur­den nur von den al­lerärms­ten Leu­ten be­wohnt, wie man zwar nicht aus ih­rem ver­nach­läs­sig­ten Aus­se­hen er­kann­te, wohl aber aus dem schmie­ri­gen Äu­ßern der paar Män­ner und Frau­en, die ge­le­gent­lich die Mau­ern ent­lang schli­chen. Ein großer Teil der Häu­ser hat­te Lä­den nach vor­ne her­aus, aber die­se Lä­den wa­ren fest ver­schlos­sen und hin­gen nur so in den An­geln. Of­fen­bar wa­ren bloß die obe­ren Stock­wer­ke be­wohnt. Bei ein­zel­nen der Bau­ten, die in­fol­ge ih­res Al­ters und ih­rer Morsch­heit gänz­lich zu zer­fal­len droh­ten, war dem völ­li­gen Ein­sturz durch mäch­ti­ge ge­gen die Mau­ern ge­lehn­te Bal­ken, die fest in den Bo­den ge­rammt wa­ren, ge­wehrt. Aber selbst die­se Rui­nen schie­nen von ob­dach­lo­sem Ge­sin­del als Schlupf­win­kel aus­er­le­sen zu sein, wie man dar­aus er­se­hen konn­te, dass vie­le der Bret­ter, die die Stel­le von Tü­ren und Fens­tern ver­tra­ten, so aus­ein­an­der­ge­ris­sen wa­ren, dass sich ein Zu­gang bil­de­te, durch den ein Mensch nö­ti­gen­falls hin­durch­schlüp­fen konn­te. Die Rinn­stei­ne wa­ren ver­stopft und voll Kot; – selbst die Rat­ten, die tot in dem Un­rat ver­wes­ten, mach­ten den Ein­druck, als ob sie Hun­gers ge­stor­ben sei­en.

An der of­fe­nen Türe, an der Oli­ver und sein Herr halt mach­ten, war we­der ein Klop­fer, noch ein Klin­gel­griff zu se­hen. Vor­sich­tig tapp­ten sie sich einen dunklen Gang ent­lang und stie­gen zum ers­ten Stock em­por. Oli­ver ging da­bei im­mer hin­ter Mr. So­wer­ber­ry her, der ihm zu­re­de­te, sich nicht zu fürch­ten, bis er end­lich im Gang ge­gen eine Türe stol­per­te und an­klopf­te.

Ein jun­ges Mäd­chen, un­ge­fähr drei­zehn oder vier­zehn Jah­re alt, öff­ne­te ih­nen. Für den Lei­chen­be­stat­ter ge­nüg­te ein Blick in das Zim­mer, um zu wis­sen, wo­hin er sich zu be­ge­ben habe. Er trat ein, und Oli­ver folg­te ihm.

Vor ei­nem mit kal­ter Asche ge­füll­ten Ka­min kau­er­te ein Mann, und ein al­tes Weib hat­te auf ei­nem Sche­mel ne­ben ihm Platz ge­nom­men. In ei­nem an­de­ren Win­kel hock­ten ein paar in Lum­pen gehüll­te Kin­der her­um, und in ei­nem klei­nen Bret­ter­ver­schlag der Ein­gang­stü­re ge­gen­über lag et­was auf dem Bo­den, über das ein al­tes Tuch ge­wor­fen war. Oli­ver schreck­te zu­sam­men, als er die Au­gen dort­hin wand­te, und un­will­kür­lich fühl­te er, dass das, was un­ter dem Tuch lag, eine Lei­che sein müss­te.

Das Ge­sicht des Man­nes am Ka­min sah ein­ge­fal­len und to­ten­blass aus. Bart und Haupt­haar wa­ren er­graut und sei­ne Au­gen blut­un­ter­lau­fen. Das alte Weib hat­te ein Ge­sicht voll Run­zeln, die bei­den Zäh­ne, die sie noch be­saß, rag­ten über ihre Un­ter­lip­pe her­vor, aber ihre Au­gen strahl­ten hell und durch­drin­gend. Oli­ver konn­te es kaum über sich ge­win­nen, sie oder den Mann an­zu­bli­cken, denn bei­de sa­hen den to­ten Rat­ten, die er drau­ßen be­merkt, grau­en­haft ähn­lich.

»Nie­mand soll ihr na­he­kom­men«, rief der Mann und sprang wü­tend auf, als sich der Lei­chen­be­stat­ter dem Holz­ver­schlag nä­her­te. »Zu­rück da. Gott ver­dammt. Zu­rück da, oder -«