Feuer in der Prärie!

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Feuer in der Prärie!
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Feuer in der Prärie

Leben und Ära des

Andrew Taylor Still,

Begründer der

osteopathischen Medizin

Ein historischer Roman vor dem Hintergrund des Kampfes um die Einheit der US-Staaten und die Zukunft der Medizin


Titel der Originalausgabe

Fire in the Prarie

© Zacharias Comeaux D.O.


ABB. 01: ANDREW TAYLOR STILL (1828 – 1917),

Entdecker der Osteopathie und Begründer der modernen Medizin mit Händen.

Fire in the Prarie

The Life and Times of Andrew Taylor Still, Founder of Osteopathic Medicine

© Zacharias Comeaux D.O., 2007

Booklocker. Com Inc, ISBN 978-1601453617

Feuer in der Prärie

Eine Novelle über A. T. Still, den Entdecker der Osteopathie.

© 2009, JOLANDOS

Am Gasteig 6–82396 Pähl – info@jolandos.de

978-3-936679-49-6 (print)

978-3-941523-46-3 (epub)

978-3-941523-24-1 (mobi)

BESTELLUNG

HEROLD Lositsik Service GmbH

Raiffeisenallee 10 – 820041 Oberhaching

tel +49.8808.924.588, fax +49.8808.924.589

order@jolandos.de

ÜBERSETZUNG

Ilka Rosenberg

LEKTORAT

Elisabeth Melachroinakes

UMSCHLAGGESTALTUNG

Konzept-G, Memmingen

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Still National Osteopathic Museum, Kirksville, Mo. USA

SATZ

post scriptum - www.post-scriptum.biz

DRUCK

Buchproduktion Ebertin - Uhldingen, Deutschland

EBOOK-GESTALTUNG

Zeilenwert® GmbH

Schwarzburger Chaussee 74 – 07407 Rudolstadt

www.zeilenwert.de

Jede Verwertung von Auszügen dieser deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung von JOLANDOS unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Verzeichnis der Abbildungen

Widmung

Vorwort des Herausgebers

Einführung des Autors

Die Verabredung

Ein goldener Morgen

Tennessee

Soziale Gerechtigkeit

Stadtgespräch

Missouri

Anatomie, Anatomie, Anatomie

Kirksville

Eine Unterrichtsstunde

Ein trostloser Tag

Verlust und Wiederaufbau

Stille Hoffnung

Beziehungen und Intrigen

Bündnisse

Gesetzeshebel

Der Besucher

Beratung

Ehrenerweisung

Tod

Krieg und Pandemie

Unsterblichkeit

Verbreitung im Ausland

Wiedervereinigung

Epilog

Danksagungen

Weiterführende Literatur

Fußnoten

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 01: Andrew Taylor Still (1828 – 1917) 2

Abb. 02: American School of Osteopathy, ca. 1895 8

Abb. 03: Behandlungsraum in Kirksville, ca. 1905 20

Abb. 04: Mary Vaughn, ca. 1855 30

Abb. 05: Die Natur – Stills unerschöpfliche Quelle 42

Abb. 06: Abraham Still 50

Abb. 07: Familie Still, ca. 1903 58

Abb. 08: Blanche Still, ca. 1890 59

Abb. 09.: Kansas State Legislative 67

Abb. 10: Grabstein der Familie Still 73

Abb. 11: Still mit einer Anatomieklasse 76

Abb. 12: A. T. Still und Nettie Bolles, 1894 77

Abb. 13: A. T. Still mit William Smith, ca. 1892 82

Abb. 14: Die erste Osteopathieschule, 1892 84

Abb. 15: Die erste Osteopathieklasse 85

Abb. 16: J. M. Littlejohn 93

Abb. 17: John Musick 128

Abb. 18: Fakultät der ASO, 1899 155

Abb. 19: Charles Hazzard 156

Abb. 20: C. C. McConnell 160

Abb. 21: Samuel Lanhorn Clemens alais Mark Twain 173

Abb. 22: Wiliam Cody alias »Buffalo Bill«, ca. 1895 182

Abb. 23: Bronzestatue von A. T. Still 195

Abb. 24: Familiengrab der Stills 205

Abb. 25: Familie Littljohn in England, ca. 1920 231

Abb. 26.: Abraham Flexner 235

Abb. 27: A. T. Still, ca. 1898 266

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des

Still National Osteopathic Museum, Kirksville, Mo. USA.

ABB. 02: AMERICAN SCHOOL OF OSTEOPATHY, CA. 1895.

Diese Buch ist meinen Mentoren gewidmet:

Andrew Still, William Sutherland, Robert Fulford, Anthony Chila, David Patriquin – und meiner geduldigen Frau Linda.

Vorwort des Herausgebers

Einführung

Osteopathie ist für viele Anhänger weit mehr als nur eine Methode oder ein Verfahren. Sie repräsentiert als Philosophie, Wissenschaft und Kunst1 geradezu das Ideal moderner ganzheitlicher Medizin. Einerseits gründend in die stärksten Fundamente der klassischen Medizin, Anatomie und Physiologie bezieht sie auf der anderen Seite ganz bewusst auch »weiche« Aspekte wie Emotionen, Kultur, Persönlichkeit und individuelle Potenziale aktiv und offen in die klinische Praxis mit ein. Damit hat sie die Möglichkeit, etwas zu wagen, das der klassischen Medizin aufgrund ihrer historisch gewachsenen Dogmen und starren inneren Hierarchien nicht mehr möglich ist: Eine Versöhnung linearer, vor allem rein körperlich orientierter wissenschaftlicher Erkenntnisse mit nicht-linearen Phänomenen wie etwa Placebo-Effekten, quantenphysikalischen Phänomenen in Bezug auf Behandler-Patienten-Interaktion, Bedeutung der Bewussheit für das Behandlungsergebnis etc.

 

Viele dieser Aspekte sind letztlich aber nur Ausprägungen des ursprünglichen Ansatzes in der Osteopathie, wie sie ihr Entdecker, der amerikanische Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) Ende des 19. Jahrhunderts der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Insofern lohnt eine Reise in jene spannende Zeit nicht nur, weil sie unterhaltsam ist. Viele kleine Details in der frühen Entstehungsgeschichte der Osteopathie bildeten den Keim für spätere Fundamente der modernen Osteopathie. Und je tiefer man in ihre noch relativ junge Geschichte blickt, umso klarer werden einem die Gründe für den Status der heutigen Osteopathie.

Über dieses Buch

Zachary Comeuax gilt als ausgewiesener Kenner von A. T. Still und der Gründerzeit der Osteopathie. In Feuer in der Prärie unternimmt er den ebenso gewagten wie gelungenen Versuch die historischen Ereignisse rund um die Entstehung der Osteopathie auch für den Laien unterhaltsam zu vermitteln. Dabei stehen vor allem A. T. Still und später in etwas geringerem Umfang auch der wohl bedeutendste europäische Osteopath, J. M. Littlejohn (1866 – 1947) im Mittelpunkt.

Umfassend und lebensnah geschildert werden Ihnen hier die wichtigsten Einflüsse auf die Entstehung der Osteopathie dargestellt: Der Amerikanische Transzendentalismus von Ralph W. Emerson, die Evolutionstheorie von Darwin und Spencer, der Swedenborgianismus mit seinen Séancen, der Methodismus, der amerikanische Bürgerkrieg, die überhebliche »heroische« Medizin und – allem voran und immer wieder – der überwältigende Einfluss einer gewaltigen Natur. Große Namen werden Ihnen begegnen: W. Smith, J. M. Littlejohn, C. E. Hazzard, A. Hildreth, C. C. McConnell, N. Bolles, aber auch W. Cody (Buffalo Bill) und viele andere.

Historische Fakten

Die meisten der Ereignisse sind durch osteopathiehistorische Primärliteratur belegt. Allerdings haben sich seit Verfassen des Buches einige neue historische Fakten ergeben, die in diesem Werk nicht mehr berücksichtigt, oder explizit herausgearbeitet werden konnten:

– Stills Verhältnis zu seiner ersten Frau, Mary Vaughn, das Comeaux als Seelenverwandtschaft beschreibt, dürfte eher gegenteilig zu werten sein: Mary war in der Zeit der Ehe ziemlich vereinsamt, da ihr Mann einerseits zahlreiche Aktivitäten verfolgte und deshalb kaum zu Hause war und er sich andererseits intellektuell offenbar nicht sehr gut mit seiner Frau austauschen konnte.

– Obwohl Still stark durch den Methodismus geprägt wurde und stets nach den urchristlichen Werten handelte, war er kein Anhänger irgendeiner Religion, sondern Pantheist, d. h., für ihn war alles Existierende Ausdruck eines wohlwollenden und vollkommenen Schöpfers und damit an sich vollkommen – auch der menschliche Körper, die »menschliche Maschine«, wie Still ihn gerne beschrieb. Still nahm diese »Maschine« daher nie isoliert von ihrem Schöpfer wahr.

– Stills »ganzheitlicher« Ansatz basiert nicht auf dem Körper-Geist-Seele-Prinzip, sondern folgt Emanuel Swedenborgs Weltbild, wonach der Mensch eine Vereinigung eines geistigen mit einem irdischen Wesen darstellt, wobei das Höhere in das Niedere einfließt. In diesem Moment der Vereinigung entsteht das Leben, welches zugleich die Selbstorganisation in sich trägt, das heißt, die Selbstheilungskraft ist das Leben selbst. Insofern beschreibt Stills Darstellung von Verstand (Geist), Materie (Körper) und Bewegung (Leben) den ganzheitlichen Aspekt innerhalb der Osteopathie tatsächlich treffender als die Analogie Körper-Geist-Seele.

Trotz dieser historisch mehr oder weniger unbedeutenden Ungenauigkeiten, die naturgemäß zu belletristischen Werken im Bereich Geschichte und hier insbesondere in Bezug auf Charakter und Beziehungen der einzelnen Akteure gehören, darf man Feuer in der Prärie dennoch als äußerst gelungenen Versuch betrachten, allen an Osteopathie Interessierten die für die moderne Osteopathie so bedeutende Gründerzeit der Osteopathie auf unterhaltsame Weise zu enthüllen.

Falls die Lektüre des vorliegenden Werks Ihr Interesse an der Geschichte der Osteopathie geweckt haben sollte: Am Ende des Buchs finden Sie eine kleine Auswahl an weiterführender Literatur.

Schluss

Für jene, die in der Osteopathie mehr als nur eine Methode oder ein Verfahren sehen, aber auch für alle, die sich für bedeutende medizinhistorische Ereignisse interessieren, bietet das vorliegende Buch eine hervorragende und abwechslungsreiche Möglichkeit, die Gründerzeit der Osteopathie fast »hautnah« mitzuerleben. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Schmökern in Feuer in der Prärie.

Christian Hartmann

Pähl, November 2009

Einführung des Autors

Mühsal und Chance des Pionierlebens im amerikanischen Grenzland, Entschlossenheit und Trauer, die der Bürgerkrieg ihm brachte, aus Verzweiflung geborene Erfindergabe – und Romantik: Ein Geflecht aus all dem war das Leben des Andrew Still, des Begründers der osteopathischen Herangehensweise an die Medizin.

Das heutige Amerika strebt aufgrund seiner modernen Technologien und seines Konzept einer demokratischen Republik nach der Weltführerschaft. Häufig vergessen wir allerdings die anderen wichtigen Beiträge der amerikanischen Kultur für die Welt – etwa die kommerzielle Bereitstellung von elektrischem Strom, das Automobil und die Telekommunikation. Und auch die Osteopathie als ganzheitlicher Ansatz in der Gesundheitspflege ist ja eine echt amerikanische Neuerung.

Manche Leser, die einigermaßen mit Dr. Still vertraut sind, mögen von einigen Ideen, Dialogen oder Themen, denen sie in diesem Roman begegnen, überrascht sein. Natürlich trifft man in diesem Genre auf ein gewisses Maß an Freiheit. Dennoch war das Achten auf Genauigkeit bei der Darstellung der Person Still und auf Authentizität, was die Wiedergabe seiner Worte anbelangt, ein wichtiger Aspekt bei diesem Projekt. Die meisten Szenen und Dialoge wurden abgeleitet aus dem akribischen Lesen von Stills Autobiographie, aus frühen Ausgaben des Journal of Osteopathy, aus Aufzeichnungen von Still-Schülern wie E. E. Tucker und Arthur Hildreth und aus Stills eigenen handschriftlichen Notizen, verfügbar im A. T. Still University Museum. Auch Beobachtungen und Recherchen von anderen Autoren wurden herangezogen. Eine Liste dieser Quellen enthält der Anhang. Viele Dialoge basieren auf Aufzeichnungen von Reden, und öffentlich gemachte Aussagen sind oft als tatsächliche Zitate wiedergegeben. Wenn Sie als Leser ein Problem mit einem Namen, einer Begebenheit oder einem Dialog haben, betreiben Sie ein paar Nachforschungen oder kontaktieren Sie die Angestellten des Museums – und möglicherweise erleben Sie dann eine Überraschung.

Die mittlerweile üblich gewordene stereotype Sicht auf Still als klugen, aber eigensinnigen und kaum gebildeten, hinterwäldlerischen Exzentriker beleidigt nach Meinung des Autors den Mann und wird zudem seinem Genius nicht gerecht. Das vorliegende Buch wurde nicht geschrieben, um Still zu idealisieren. Es ist vielmehr ein Versuch, ihn in seinen wahren historischen und intellektuellen Kontext zu stellen als einen einfühlsamen Menschen, der auf profunde und positive Weise an der Vervollkommnung der westlichen medizinischen Kultur mitgewirkt hat.

Die Absicht war nicht, ein Monument für einen toten Mann zu errichten, sondern Stills Leben so zu porträtieren, dass junge Träumer, Denker und Reformer durch seine kühnen Gedanken angespornt werden, Ideen und Bemühungen weiterzuentwickeln als Teil einer lebendigen Tradition des Mitgefühls, des Wagemuts und der Experimentierfreudigkeit in dem Streben, herauszufinden, wer wir wirklich sind. Jene, denen Still den wertvollen Schatz seines originalen Gedankenguts als Erbe hinterlassen hat, haben die Chance, diese Gedanken weiterzutragen, indem sie anerkennen, welch enormer menschlicher Einsatz an deren Anfängen stand.

Gesundheit ist kein Absolutum, sondern ein dynamischer Prozess. Gesundheitsfürsorge als kulturelle Leistung ist ebenso dynamisch. Teile dieser Dynamik in der Medizin und Osteopathie werden durch Leidenschaft angetrieben. Wissenschaft bedeutet in der Osteopathie demnach Wissen, verflochten mit der Sehnsucht des menschlichen Geistes. Und all das stellt sich im Zusammenhang der individuellen Persönlichkeiten und der einzelnen menschlichen Beziehungen heraus.

Still war, so wie wir heute, eingebettet in einen historischen Kontext, der ihn zwang, seine tiefsten Erfahrungen in der Sprache seiner Zeit zu formulieren. Aber das, was zum Ausdruck gebracht wird, ist niemals die Erfahrung selbst. Er verwendete die reichhaltigste Sprache – Göttlicher Verstand, Philosophie, Körper-Geist-Seele, der Mensch als Maschine, Biogen – in dem Versuch, die gesamte Bandbreite seiner persönlichen Erfahrungen zu erfassen. Wie flüssiges Glas beim Abkühlen erstarrt, so werden jedoch auch die Einsichten und phänomenologischen Abenteuer eines aktiven Geistes fixiert oder eingeschränkt, sobald sie zum Ausdruck kommen. Während seines ganzen Lebens lebte Still wie auch jeder andere Autor oder Lehrer in diesem Spannungsfeld. In Stills Fall wurde dieser Zwiespalt verstärkt durch den Kampf, den es kostete, Stills Ideen zu einer großen internationalen Institution zu entwickeln. Eben jene Spannung im Leben eines großen Humanisten, eines Genies und Denkers herauszuarbeiten und den von ihm gegründeten Beruf darzustellen, versucht dieser in Form einer Fiktion vorliegende Bericht.

Als sich das Projekt entwickelte, musste ich mich vor meinem Gewissen mit dem Problem der Einbeziehung eigener Gesinnungen und Erfahrungen auseinandersetzen. So ein Einbeziehen lässt sich beim Schreiben kaum vermeiden, auch wenn es sich um eine historische Fiktion handelt. Mir wurde klar, dass ich durch all die Jahre meines bewussten Lebens Stills Streben in seiner mystischen Annäherung an die Welt der Natur teilte. Und ich erkannte, dass ich bereits vor 25 Jahren, als ich während meiner ersten Studienzeit seine Autobiographie las, mit Still in Verbindung getreten bin, und dieses Forschen und feinsinnige Wahrnehmen inzwischen in meine klinische Praxis übernommen habe.

Ich sah, dass meine Erfahrungen denen von Still sehr ähnelten. Meine »Interpretation« ist demnach eher Teil einer Vereinigung als eine Projektion. In den Epilog ist das eingeflossen, was ich vor vielen Jahren in einer knackig kalten Oktobernacht beim Lesen von Stills Research and Practice 1 auf einem Berggipfel in West Virginia erlebt habe.

Nun, mein Freund, die Arbeit ist, was sie ist. Ich hoffe, sie hilft, allen interessierten Osteopathen ein besseres Verständnis für die Position zu vermitteln, die wir alle im Grunde teilen. Für den Leser, der noch nichts über den osteopathischen Ansatz in der Medizin weiß, hoffe ich, dass das vorliegende Werk seine Neugierde weckt.

Zachary Comeuax

27. 9. 2007

Die Verabredung

Die Morgensonne spiegelte sich auf dem handpolierten Knauf von John Freemans Gehstock, als er die Harrison Street in Kirksville, Missouri, entlanghumpelte. Die Stadt pulsierte voller Leben und der Kutschverkehr an diesem Morgen war beachtlich. Es war der 2. Mai 1899, ein Dienstag. Unruhig und voller Erwartung schob Freeman seinen Mantel zur Seite und zog eine Taschenuhr aus seiner Hosentasche. 9 : 18 Uhr. Auf dem Terminzettel, den er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte, stand 10 : 00 Uhr. Ganz oben auf dem Zettel war Krankenhaus der A. S. O. zu lesen. Endlich hatte er einen längst überfälligen Termin mit Andrew Still in dessen American School of Osteopathy.

 

Zu stolz, um die Farm im fernen Kansas aufzugeben, war Freeman nun sehr auf seine Familie angewiesen, die das Vieh fütterte und die Saat ausbrachte. Die Arbeit war für jeden schwer; es musste sich etwas ändern, und so war er gezwungen, seinen Stolz zu überwinden und hierherzukommen. Sein hinkender Gang sprach Bände über seine Rücken- und Hüftschmerzen.

Aufgewühlt von einem Wirbel aus Emotionen wartete er auf die Begegnung mit dem »Alten Doktor«, wie man Still nannte. Prophet, Wunderheiler, fanatischer Irrer – auch das waren Etiketten, die man ihm anhängte. Die Prediger zu Hause hatten, als sie von Freemans geplanter Reise hörten, versucht, ihm das Treffen mit dem »Diener des Teufels« auszureden.

Für John erschien die Lage hoffnungslos. Aber andere, die es müde waren, ihn die Schmerzen des lahmen Beines ertragen zu sehen, seine Verzweiflung, den Niedergang der Farm und das jahrelange vergebliche Herumdoktern mit Opium und »Fusel« hatten ihn ermutigt, Stills Hilfe zu suchen. John selbst hatte, was diesen Einfall betraf, so seine Bedenken, aber nun war er schließlich da. Ja, er war verzweifelt, aber – durfte er noch einmal hoffen? Wie tausend anderen schien auch ihm die Osteopathie diese letzte Hoffnung zu sein. Doch die alte Beinverletzung barg eine noch größere Belastung als nur die Schmerzen und das Hinken. Jene tiefere Wunde schwärte sogar noch nach all den Jahren. Würde Still diesen geheimen Teil bei seiner Befundaufnahme erkennen? Diese Frage und eine Art Scham nagten an Johns Gewissen.

Beklommen bewegte sich Freeman auf das Krankenhaus zu. Es schien beeindruckender als die meisten angrenzenden Gebäude. Als er näher kam, fühlte sich der eingefasste Schotter unter seinen Füßen ungewohnt an und seine ebenmäßige Oberfläche erleichterte das Gehen ungemein. Jemand wusste, was er tat, als er diesen Ort gestaltet hat, dachte Freeman. Zu Hause bestand seine Welt aus Wagenradfurchen in einer mit Erdhörnchenlöchern gespickten Prärie. Betrat er nun eine neue Welt?

Drinnen schufen die frisch geölten Holvertäfelungen und die großen Fenster eine Aura von Helligkeit und Frische – trotz der Anwesenheit von so viel Krankheit. Strom und fließend heißes und kaltes Wasser in allen Zimmern erschienen Freeman als ein Gipfel an Modernität. Seine Stimmung hob sich ein wenig, während er durch die Eingangshalle ging.

Familien auf Wartebänken, Patienten auf dem Weg zu ihren Zimmern oder in Rollstühlen sitzend – die Gründe für ihr Hiersein waren offensichtlich. Es ging sehr geschäftig zu, obwohl viele wie Freeman sowohl Zweifel als auch Hoffnung in sich trugen. Die etablierte Medizin war immer noch auf einem sehr primitiven Stand. Das Mikroskop wurde zwar allgemein genutzt, doch Diagnosen erstellte man anhand äußerlicher Symptome.

Herkömmliche Medikamente waren rar und nur wenig weiter entwickelt als die Kräuterheilkunde. Nach dem Bürgerkrieg gab es viele Verluste und Behinderungen. Morphium schien man dem Opium vorzuziehen. Es führte jedoch ebenfalls zu Abhängigkeit und versklavte viele, die die Versklavung ihrer Mitbrüder bekämpft hatten. Die Medizin machte reiche Versprechungen, brachte aber nur spärliche Tröstungen – und groß war die Zahl der Patienten, die unter dem Chirurgenmesser starben.

Doch hier wurde, so sagte man, eine andere Methode angewandt. Die Leute sprachen über »unblutige Operationen« und über »die Nutzung der Selbstheilungskräfte des Körpers«. Operationen mit dem Messer galten nur als letzter Ausweg, um Leben zu retten. Diese kühnen Behauptungen verflüchtigten sich angesichts der etablierten Medizin. Und doch brachte die Wabash-Eisenbahnlinie täglich Hunderte, die auf Besserung, wenn nicht gar auf Heilung hofften.

»John Freeman? Mr. John Freeman!?«

Freeman nickte der Dame an der Anmeldung zu.

»Bitte kommen Sie zu mir herüber«, bat Sally Taylor mit angenehmer Stimme.

»Das macht dann 9 Dollar Anzahlung für die ersten drei Anwendungen in der ersten Woche. Danach kostet die Behandlung 25 Dollar im Monat. Wenn Sie sich zum Bleiben entschließen, wird die Anzahlung von Ihren Gebühren für den ersten Monat abgezogen. Sie können im Poole Hotel einkehren, oder wenn Sie es wünschen, eine Privatpension aufsuchen, was recht geeignet wäre, sollte sich Ihr Aufenthalt doch als etwas länger erweisen, als Sie erwarten. Ma Scott’s ist recht gut, falls sie dort ein Zimmer frei haben. Das Hotel würde Sie 10 Dollar im Monat kosten. Ein Gästezimmer bei jemandem oder eine Privatpension kostet Sie 3 bis 5 Dollar. Also, Sie haben die Wahl. Sie haben noch Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, doch jetzt sollten wir uns um Ihre Angaben und die Anzahlung kümmern.«

Nachdem alles erledigt war, fuhr Sally fort:

»Vielen Dank, hier ist ihr Beleg; diese junge Dame wird Sie dahin bringen, wo Sie hinmüssen.«

»Guten Morgen, Mr. Freeman, bitte kommen Sie mit mir. Ich bin Ihre Schwester, Miss Shreve.«

Schwester Shreve, an die geschäftige Betriebsamkeit und den Tagesrhythmus dieses Ortes gewöhnt, führte den Gast den weiten Gang hinunter bis zu einem Untersuchungszimmer. Freeman nahm dort zunächst auf einem Stuhl Platz und beäugte gründlich den von einem großen Fenster beherrschten Raum, in dem noch ein zweiter Stuhl und ein Schreibtisch standen. Das Zimmer war erfüllt von Luft und Licht und lag, wenngleich es die Brise und etwas von der Geschäftigkeit der Stadt hereinließ, doch hoch genug über der Straße, um eine private Atmosphäre zu behalten.

Wozu der Behandlungstisch und der kleine Hocker dienten, schien klar. Doch es gab auch einen merkwürdigen neumodischen Apparat. Er wirkte auf Freeman, als sei er halb Stuhl, halb Mausefalle, mit einer Art von verstellbaren Polstern entlang der Rückseite. Die Schwester bemerkte seine Neugierde.

»Machen Sie sich keine Sorgen, er beißt nicht und wird auch nicht für irgendeine Folter genutzt. Es ist ein Spezialstuhl, den Dr. Still erfunden hat, um exakt dort anpassend einwirken zu können, wo es nötig ist. Der Doktor wird Ihnen während der Behandlung alles genau erklären. Nun müssen wir noch ein paar Formulare ausfüllen, bevor er kommt.«


ABB. 03: BEHANDLUNGSRAUM IM OSTEOPATHIE-KRANKENHAUS IN KIRKSVILLE, CA. 1905.

Die Schwester füllte ein Formular mit Standardfragen über akute Beschwerden, eventuelle andere Erkrankungen, Diäten und bisherige medikamentöse Behandlungen aus und fragte dann mit fester Stimme: »Gibt es noch irgendetwas anderes, das wir über Ihre Krankengeschichte wissen sollten?«

Freeman zögerte und geriet ins Schwitzen »Da gibt es noch etwas, was ich aber lieber mit Dr. Still besprechen möchte.«

»Bitte, Sir«, redete die Schwester ihm gut zu, »es ist für den Doktor sehr hilfreich, wenn er alle Informationen schon vorher erhält.«

Freeman murmelte: »Ich glaube, das bespreche ich besser mit Dr. Still.«

»Aber Sir …«, begann die Schwester eine Spur strenger.

Freeman vergaß seine guten Manieren und schlug seinen gewohnten Farmaufseher-Ton an, indem er mit erhobener Stimme beinah schon ein bisschen aggressiv klarstellte: »Ich weiß, was Sache ist, Miss. Und ich weiß, was ich will. Ich glaube, dass ich das besser mit Dr. Still direkt bespreche!!«

Ängstlich erwiderte die Schwester »Gut, ganz wie Sie wünschen.

« Sie wies den Patienten an, seine Straßenkleidung hinter einem Wandschirm gegen den dort bereitgelegten Untersuchungskittel zu tauschen. Dann drehte sie sich um, betätigte die Klingel und huschte hinaus.

Freeman saß allein in der spannungsgeladenen Stille. Nach ein paar Minuten – ihm erschienen sie wie eine Stunde – öffnete sich die Tür und Dr. Still, fast sechs Fuß groß, hager, gepflegtes Äußeres und wohl etwa so alt wie Freeman, trat ein.

»Guten Morgen, Sir. Mr. Freeman, wie ich höre.«

»Guten Morgen Doktor. Ja, Freeman, John Freeman.«

Still nahm am Schreibtisch Platz, strich sich über seinen rauen Bart und warf einen kurzen Blick auf die Notizen der Schwester.

»Nun, lassen Sie uns mal sehen. Hüfte und Rücken, hmmm …«

Der Doktor hielt inne und betrachtete seinen Patienten lange. Freeman war beeindruckt von der Intensität dieses Blicks, von der Kraft, die hinter den durchdringenden grauen Augen stand.

»Soviel ich sehe, begann das also vor ein paar Jahren mit Schmerzen in einem Bein. Aber Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen, Bruder. Was macht Ihnen noch zu schaffen?«

Jahre hatte Freeman auf diesen Moment gewartet hatte – und jetzt wusste er nicht, wo beginnen. Ja, da war dieser Schmerz, die Frustration, die mit dem Verlust an Jugend und Männlichkeit einherging. Aber die eigentliche Wunde saß noch tiefer. »Doktor, ich brauche Hilfe für mein Bein, aber da ist noch etwas anderes, über das wir vorher sprechen sollten. Eine andere Verletzung.«

»Ja, Bruder, was ist es?«

»Bevor Sie mich Bruder nennen, sollten Sie wissen, dass wir uns schon einmal begegnet sind, am Little Blue. Ich habe damals unter Price gekämpft.«

Für einen Moment stand die Zeit still und jeder der beiden Männer hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Zeit raste um 30 Jahre zurück. Zurück in ihre Jugend. Zum Little Blue, einem schmutzigen kleinen Fluss südwestlich von Westport, im Süden von Kansas auf der Missouri-Seite.

Still rief sich den Tag ins Gedächtnis. Seine Einheit, die 21. Kansas-Miliz, hatte den Befehl erhalten, die Union um General Totten zu unterstützen. Zusammen bildeten sie eine Armee von 35.000 Mann, die sich den Konföderierten unter General Price entgegenstellte. Davor waren Stills Mitkämpfer, Sklavereigegner wie er, lediglich ein lose organisierter Haufen unter dem Banner von James Lane gewesen und zumeist nur in Verteidigungsbereitschaft gestanden gegen die Übermacht derer, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften. Immerhin hatten sie aber auf die Guerilla-Methoden von Quantrells Armee reagiert, die erst kürzlich die Gemeinde Lawrence, eine in der Nähe gelegene Hochburg der Sklavereigegner, niedergebrannt hatte.

Obwohl der 36. Breitengrad (die südliche Grenze Missouris) als nördlichste Grenze des Sklaven-Südens galt, wurde Missouri im Jahre 1820 der Union der Sklavenstaaten zugerechnet – ein Kompromiss, um die Aufnahme von Maine in den Bund der sklavenfreien Staaten auszugleichen. 1855 hob das Kansas-Nebraska-Gesetz die Unantastbarkeit der Grenze am 36. Breitengrad auf und öffnete damit auch die nördlichen Territorien für die Sklaverei. Doch noch 1862 wurde die Angelegenheit heiß debattiert.

Siedler beider Lager, Befürworter und Gegner der Sklaverei, hatten ihr Leben in der Erwartung und Hoffnung aufs Spiel gesetzt, dass die Politik sich zu ihren Gunsten drehen werde. Die Anspannung wuchs. Scharmützel unter Nachbarn entlang der Grenze zwischen Missouri und Kansas waren häufig und die täglichen Routinearbeiten erforderten erhöhte Wachsamkeit. Still erinnerte sich an unschöne Momente, als seine Truppe während eines Manövers in den Wäldern auf Konföderierte traf.

Religiöser Eifer ließ den Wirbelsturm an weltanschaulichen Ideologien und politischen Überzeugungen noch stärker aufbrausen. Prediger wie John Brown und Henry Ward Beecher stachelten die Minderheit der Sklavereigegner zu einem wahren Kreuzzug an. Beecher predigte sogar das Anlegen von Waffenlagern, die man Beecher-Bibeln nannte. Brown brachte Verwandte und Nachbarn ins Spiel, die wie Kämpfer bewaffnet waren.

Mit seinem Streben nach höheren Werten, zu denen auch Freiheit für alle Geschöpfe Gottes gehörte, trat Still in die Fußstapfen seines Vaters Abraham Still, eines umherziehenden Methodistenpredigers, der sich mit seinen Überzeugungen bei den meisten Methodisten nicht gerade beliebt gemacht hatte. Die Familie war daher sicherheitshalber nach Baldwin, Kansas, eine Gemeinde Gleichgesinnter, umgezogen. Allerdings war die Sicherheit auch dort nur relativ. Missouri und Kansas wurden zu einem Schachbrett nationalpolitischer Interessen.

Leidenschaften und Fanatismus brodelten auf beiden Seiten, denn alle Grenzland-Siedler waren Menschen von starkem Charakter, ausdauernd und voller Visionen. William Clarke Quantrell, der die Meinung der Mehrheit in Kansas vertrat, startete einen Feldzug und brandschatzte und plünderte im August 1855 die Freistaatengemeinde von Lawrence, nördlich und östlich von Baldwin. Brown organisierte einen Gegenschlag durch seine Gefolgsleute und metzelte Familien der Sklavereibefürworter am Pottawatomie Creek nieder, schleppte die unbewaffneten Bewohner in die Nacht hinaus und quälte sie brutal mit Kavallerieschwertern.

So waren die Zeiten damals. Die Wunden verheilten nur langsam und nicht Wenige verbrachten jahrelang ihre Nächte in Höllenqual, unfähig, die entsetzlichen Bilder der Vergangenheit mit denen zu teilen, die neben ihnen lagen.