Elurius

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Yvonne Gees

Elurius

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Teure Heilung

2. Entführung

3. Spuren

4. Gefangen

5. Fieber

6. Ausgeliefert

7. Wunden

8. Aufbruch

9. Unterwegs

10. Ami-el

11. Am Grab

12. Vertrauen

13. Elurius

14. Rache

15. Versuchung

Epilog

Impressum

1. Teure Heilung

------- TADEYA SLEYVORN -------

Das Pferd trug sie am vom eisigen Wind aufgewühlten Wasser entlang, durch den feuchten Sand des Strandes. Um die breiten Hufe spülten gurgelnd die Wellen. Tadeya hielt den Blick vom Wasser abgewandt, schaute zur Uferseite hin, die Finger in den wollenen Handschuhen hielten die Zügel. Die Hände waren trotz des Schutzes kalt, die Gelenke steif vom eisigen Wind. Schal und Wintermantel hielten die Kälte nicht von ihrem Körper, der Wind durchdrang sogar die dicke Wolle. Am dämmrig-grauen Himmel trieben zerfetzte Wolkengebilde, die Sonne stand fahl über dem Wasser.

Sie lenkte das schwere Kaltblut, ein Kutschpferd ihrer Großmutter, den sanften Hang zum Ufer hinauf. Dort im Schutz eines herabhängenden Felsens glaubte sie, die Schemen eines darunter kauernden, kleinen Hauses auszumachen. Die Tränen, die der eiskalte Wind in ihre Augen trieb, trübten den Blick. Sie musste blinzeln, um für einen kurzen Moment freie Sicht zu bekommen. Ja, es war keine Sinnestäuschung: Unauffällig, nahe an der Unsichtbarkeit, duckte sich eine graue Hütte unter dem schroffen Gestein. Die Hütte bildete eine Einheit mit dem Felsen und verschmolz fast mit ihm. Einen Moment lang kam es ihr in den Sinn, an die Tür zu klopfen und um Unterschlupf zu bitten. Der Sturm war überraschend hereingebrochen und die Kälte, die er mit sich brachte, war kaum mehr auszuhalten. Doch sie konnte weder Tür noch Fenster entdecken, obwohl sie sich in unmittelbarer Nähe der steinernen Behausung befand. Wohl befand sich der Eingang auf der Rückseite, den Felsen zugewandt.

Doch andererseits: Der größte Teil der Strecke lag bereits hinter ihr. Und wer wusste schon, auf welch merkwürdige Gestalten sie dort drinnen treffen würde? Das Pferd stapfte unverdrossen weiter und die Reiterin ließ das Steinhaus vorüberziehen. Die Hufe des großen, schwerfälligen Falben sackten bei jedem Schritt tief in den nassen Sand, ihm machte diese Erschwernis kaum etwas aus, denn er war stark und ausdauernd. Sein Gemüt glich dem Körper, zäh und unempfindlich.

Tadeya spürte eine plötzliche Unruhe, die von dem Pferd ausging. Durch den massigen Körper fuhr ein leichtes Beben, die Ohren bewegten sich unruhig wie Windspiele. Die stapfenden Schritte verlangsamten sich, der breite Kopf des Tieres neigte sich zur Seite. Die Reiterin richtete den Blick geradeaus, sie sah vor sich nur die graue Weite des Strandes, umspült von Gischt.

Dann ein plötzliches, grelles Leuchten, wie ein Blitzstrahl, direkt über ihr. Das Pferd blieb auf der Stelle stehen und stampfte spritzend mit den Vorderhufen im Schlick. Zu spät schloss sie geblendet die Augen, Lichtpunkte tanzten unter den Lidern. Der nachfolgende Donner blieb aus, um sie herum tobten Wind und Meer wie zuvor. Der Falbe stand wie ein starrer Fels, den Kopf gehoben, die Ohren gespitzt. Erst nach einigen Sekunden öffnete seine Reiterin die Augen und hob den Kopf. Es dauerte noch eine Weile, bis die grellen Lichtflecke auf ihrer Netzhaut zu tanzen aufhörten und die Welt um sie herum so deutlich wie zuvor zu erkennen war. Das Pferd löste sich langsam aus der Starre und zerrte am Zügel, seinen Willen bekundend, diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen. Tadeyas Blicke jedoch schweiften umher, sie hielt die Zügel mit festem Griff. Rings um sie hatte sich nichts verändert: Grenzenlos grau war dieser Ort.

Sie wandte den Kopf. Ebenso grau, wie der darüber gebeugte schroffe Fels, lag das kleine Steinhaus hinter ihr. Und viele Meter darüber, oben auf den Felsen, stand eine dunkle Gestalt direkt am Rand der Klippen. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, nur eine schwarze Kontur gegen den grauen Himmel. Das Pferd stampfte energisch auf und die Reiterin gab ihm endlich nach.

„Sie ist nicht eben schön“, konnte Tadeya sich nicht verkneifen zu sagen, das fertige Bild betrachtend.

Jesco lachte leise. „Frau Neuberg ist reich, da muss man nicht zusätzlich noch schön sein.“

„Sie sieht aus wie jemand, der sich ständig mit seinem Leben herumärgert“, meinte Tadeya weiter. „Die böse, steile Falte auf der Stirn, die hängenden Mundwinkel...“. „Sie muss sehen, dass das viele Geld zusammenbleibt“ erwiderte Jesco. „Das ist eine schwere Aufgabe.“

Die feinen Pinselstriche betrachtend, die die winzigen, gekräuselten Haarsträhnen an der Schläfe perfekt simulierten, sagte Tadeya: „Aber es ist wirklich schön gemalt. Sie wirkt, als sei sie lebendig.“

In der Tat war das Gemälde von einer bestechenden Detailgenauigkeit, die der Wirklichkeit äußerst nahe kam: Die Dame saß in repräsentativer Haltung, als achtungsgebietende Ehefrau eines großen Unternehmers, auf dem Canapé, das Haar streng gescheitelt und das Kinn selbstbewusst vorgestreckt. Man konnte meinen, dass sie sich jeden Augenblick erheben und mit zielgerichteten Schritten aus dem Bild heraus ins Zimmer treten würde.

Jesco führte den Pinsel mit großer Sorgfalt und Geduld. Seine Beobachtungsgabe war bewundernswert. Und die Art, wie er das Gesehene umsetzte, war kompromisslos ehrlich.

„Dieses Bild“, sagte er jetzt dicht an ihrem Ohr, „wird mich für einige Zeit über Wasser halten. Die Miete für das Atelier ist schon eine Weile fällig. Und jetzt kann ich sie endlich bezahlen.“

Tadeya wandte leicht den Kopf und blickte in sein Gesicht, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Seine Augen waren so grau wie das Meer dort draußen, das eben noch mit tausend Zungen nach ihr und dem Pferd geleckt hatte. Die Urgewalt des Wassers spiegelte sich in ihnen, auf dem Grund einer starken Seele. Tadeya teilte nicht immer seine Meinung. Sie teilte nicht einmal seinen Glauben, doch sie brachte seiner Lebensauffassung große Achtung entgegen, denn diese war auf ehrlichen Überzeugungen gegründet, die er offen und rückhaltlos vertrat.

„Vielleicht möchte Elisa dir einen Auftrag erteilen“, meinte Tadeya. „Sie ist eine Bewunderin der Kunst und hat bereits einige sehr schöne Gemälde von anderen Künstlern erworben.“

„Deine Großmutter?“ fragte er und hob die Augenbrauen. „Na, dann lerne ich die große Dame vielleicht endlich einmal kennen.“

„Du weißt, dass sie dich vom Scheitel bis zur Sohle prüfen wird“, meinte Tadeya und blinzelte ihm lächelnd zu. „Elisa nimmt ihre Pflichten als meine Ziehmutter sehr ernst.“

„Ich habe keine Angst davor“, erwiderte er ihr. „Auch Elisa ist nur ein Mensch.“

Tadeya streckte den Kopf vor und gab ihm einen warmen Kuss auf die Wange. Dann trat sie einige Schritte zurück und heftete den Blick wieder auf das Gemälde, das auf der Staffelei stand. Die gemalte Dame starrte sie streng von ihrem Canapé aus an. Die nicht eben zierlichen Hände ruhten auf den Armlehnen, auf der Stirn zeichnete sich eine einzige steile Falte ab. Durch das Fenster im Hintergrund des Gemäldes war das Meer zu sehen: stürmische, graue Wellen mit sprühender Gischt.

Unweigerlich lenkte dieser Anblick Tadeyas Gedanken wieder auf ihren Ritt am Strand entlang. Ihr Haar war jetzt noch feucht und zerzaust von dem Unwetter, das um sie herum getobt hatte. Doch durch das Atelierfenster fiel bereits wieder ein freundlicher Sonnenstrahl, der auf den Parkettboden einen länglichen Lichtspalt zeichnete.

Ein Lichtblitz ohne Donner – und eine Gestalt auf den Klippen. Sie sah das Bild wieder deutlich vor sich: Die schwarze Gestalt eines Menschen, die sich vor dem grauen Himmel abzeichnete, dem Sturm entgegengebeugt. Das Gefühl, das diese Erinnerung in ihr wachrief, war Beklemmung.

Draußen wurde die Türglocke geläutet und Tadeya bemühte sich, den Strom ihrer unheilvollen Gedanken zu durchbrechen und in die Gegenwart zurückzukehren. „Frau Neuberg“, sagte Jesco und ging, um zu öffnen. Die Dame befand sich in Begleitung eines Bediensteten, der offensichtlich ihre Neuerwerbung für sie transportieren sollte. Das Atelier war in dem Moment, als sie die Schwelle überschritt, von ihrer harten Präsenz erfüllt. Die dunkle, herbe Stimme passte perfekt zu ihrem grobknochigen, breitschultrigen Körper in dem schwarzen, strengen Kleid.

 

„Ich bin gespannt auf Ihr Werk, Herr Fey. Ich durfte es zuletzt im frühen Anfangsstadium bewundern.“ Erhobene Augenbrauen, ein langer, durchdringender Blick in Richtung Tadeya. Die Gedanken waren klar: Wer ist diese ungepflegte Person? Frau Neuberg war ohne Frage mit der Kutsche hergekommen, von Haustür zu Haustür geleitet durch ihren diensteifrigen Begleiter. Der Wind hatte nur für wenige Sekunden Zugriff auf ihr sorgfältig hochgestecktes Haar gehabt. Tadeya war im Gegensatz dazu direkt durch den Sturm geritten, und sie bot sicherlich ein dementsprechendes Bild.

Der skeptische Blick der Dame schien Jesco nicht im geringsten peinlich zu sein. Ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen, stellte er sie in knappen Worten einander vor. "Frau Neuberg. Tadeya Sleyvorn, Enkelin von Elisa Sleyvorn."

Gleich darauf lenkte er die Aufmerksamkeit direkt auf das bereitstehende Gemälde. „Dort steht das fertige Bild. Der Firnis ist noch etwas frisch, aus dem Grund sollte man es nicht...“

Doch Frau Neuberg ließ ihn nicht zu Ende reden. „Oh“, entfuhr es ihr. Und dieser Ton klang nicht eben erfreut.

„Ist etwas nicht...?“ begann Jesco, wurde aber gleich darauf abermals unterbrochen.

„Was für ein Affront!“ rief Frau Neuberg aus und ihre Stimme rutschte dabei einige Tonlagen höher. Aus dem von Natur aus herben Klang wurde plötzlich gallige Bitterkeit.

„Wie bitte?“ fragte Jesco, den Blick unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet. Auf der Stirn der Dame vertiefte sich die bereits im Bilde von Tadeya bewunderte, steile Falte zwischen den Augenbrauen. „Dieses alte Weib dort,“, herrschte sie ihn an, „bin nicht ich!“

Jesco schüttelte beharrlich den Kopf. „Frau Neuberg, ich habe nach der Natur gemalt.“ Natürlich besaß diese Antwort nicht eben eine besänftigende Wirkung, obwohl Tadeya sich sicher war, dass sie auf purer Unschuld gründete. Und er hatte Recht: Dieses Bild glich der Wirklichkeit wie ein Spiegelbild. Frau Neuberg schnappte hörbar nach Luft. Sie wandte sich mit einer Geschwindigkeit, die man ihrem schweren Körper gar nicht zugetraut hätte, zu ihrem Begleiter um.

„Solch eine Unverschämtheit ist mir noch nie vorgekommen! Edward, Sie sind hiermit mein Zeuge! Dieses Bild stellt einen Affront dar!“

Der Angesprochene nahm eine geduckte Haltung ein, den Blick fest auf die Erde gerichtet. Sein eifriges Nicken zeigte eher Unterwürfigkeit als ehrliche Zustimmung. Doch Frau Neuberg schien diesen Umstand nicht zu bemerken, denn hochmütig fixierte sie nun Jesco. „Ich habe einmal viel von Ihnen gehalten, Herr Fey“, erklärte sie ihm voll Bitterkeit. „Aber nun muss ich meine Ansichten über Sie als Mensch und Künstler korrigieren: Sie sind ein Dilettant und Sie besitzen keinerlei Respekt!“

Jesco klang erstaunlich ruhig, als er erwiderte: „Frau Neuberg, niemals lag es in meiner Absicht, Sie zu kränken.“ Nur Tadeya sah den Sturm in Jescos Augen hinter der gefassten Fassade.

Frau Neuberg ließ sich erwartungsgemäß durch seine Worte nicht besänftigen. „Diese böswillige Karikatur werde ich nicht bezahlen! Von Rechts wegen sind Sie mir Geld schuldig, weil ich meine Zeit damit vergeudet habe, Ihnen Modell zu sitzen! Sie Stümper!“

Die letzten beiden Worte stieß die Dame zwischen zusammengepressten Lippen hervor, sodass sie wie ein zorniger Fluch klangen. Dann winkte sie ihrem Begleiter mit harter Geste, ihr zur Tür hinaus zu folgen. Tadeyas Blick blieb kurz auf Jescos Gesicht haften, als der eifrige Diener hastig die Tür hinter der davoneilenden Dame zuschlug. Dann lief Tadeya den beiden hinterher und stürmte die Treppe hinunter auf die Straße. Frau Neuberg war gerade dabei, sich von ihrem Diener in die vor der Tür stehende Kutsche helfen zu lassen, als Tadeya sie erreichte.

„Hören Sie, Frau Neuberg“, sagte Tadeya zu der Dame, die mit einem skeptischen Stirnrunzeln in ihrer Bewegung innehielt. „Der Maler hat seinen Auftrag mit Bravour erfüllt. Sie sind ihm die Bezahlung schuldig. Und wenn Ihnen das Bild nicht gefällt, dann werfen Sie doch bitte einen Blick in den Spiegel. Ihr Auftrag an den Maler war ein realistisches Porträt – und das haben Sie erhalten!“

Mit energischer Geste wischte die Dame Tadeyas Worte fort. Nicht einmal zu einer Antwort fühlte sie sich bemüßigt, sondern nur zu einem herablassenden Blick und der spitzen Bemerkung: „Sie sind doch die Enkelin von dieser Zigeunerhexe. Von solch einem Pack muss ich mir nun wirklich nichts sagen lassen!"

Tadeyas Haltung straffte sich. Ihr Inneres, eben noch voll heißer Erregung, erkaltete schlagartig. Ein kühler Fluss klarer Gedanken blieb übrig, der innerhalb der Zeit eines Lidschlags eine Entscheidung hervorbrachte. Sie hob die Hand nur wenige Zentimeter der empörten Dame entgegen. Und drei leise Worte kamen über ihre Lippen. Mehr bedurfte es nicht.

Tadeya machte auf dem Absatz kehrt und überließ Frau Neuberg ihrem Schicksal.

------- HEINRICH NEUBERG -------

Es kostete einige Überwindung, dieses Haus zu betreten. Bevor er einen ersten Schritt auf die Eingangstreppe setzte, warf er einen Blick über die Schulter. Keine Bekannten, die ihn hierbei beobachteten?

Die Straße war leer. Es handelte sich ohnehin nicht gerade um eine belebte Gegend. Stadtrandgebiet, spärlich bebaut. Hier hatte die alte Hexe schon vor vielen Jahren ihr Domizil errichtet. Eine zugegebenermaßen prächtige, kleine Villa, erbaut von einer völlig indiskutablen Frau in einem Bezirk, der als Wohnort für wirklich feine Leute nicht infrage käme.

Auf Knien zu kriechen vor dieser alten Hexe lag ihm fern, er wollte ihr mit Entschlossenheit entgegentreten. Er zog an der Glocke, die ein ohrenbetäubendes Läuten von sich gab. Man musste dieses Ungetüm bis in den hintersten Winkel des Hauses hinein vernehmen!

Doch es dauerte eine ganze Weile, bis jemand das mit zahlreichen Eisenbeschlägen besetzte, beinah festungsähnliche Eingangstor öffnete. Heinrich Neuberg war bekannt, dass Elisa über keine Dienstboten verfügte, die für sie zur Tür eilen konnten. Deshalb machte er sich auf eine gewisse Wartezeit gefasst. Bevor die Tür sich öffnete, hörte man das Geräusch von schweren Riegeln, die im Inneren zurückgeschoben wurden und das Knarren eines alten Schlosses, in dem sich ein Schlüssel drehte. Dann erschien Elisa auf der Schwelle.

Sie war eine groß gewachsene Frau mit langem, offenen Haar von schneeweißer Farbe. Vor vielen Jahren noch hatte das Haar dieselbe Farbe besessen wie die pechschwarze Iris der Augen. Die Gesichtshaut wies zahlreiche Falten auf, doch die Lippen waren jugendlich voll und die Wangen leicht gerötet. Das schmale, feine Gesicht, strahlte Leben aus und ließ keinesfalls einen nahenden Tod erahnen. Der Blick war ruhig und fest auf Heinrich Neuberg gerichtet. Die Frau schwieg und erwartete wohl, dass ihr Gegenüber das Wort eröffnete.

Heinrich Neuberg entschied sich für eine höfliche Begrüßung, obwohl ihm innerlich nicht wirklich nach Höflichkeit war. Doch die jüngsten Ereignisse hatten ihm wieder einmal gezeigt, wie sehr man sich vor dieser Zigeunersippe in acht nehmen musste. Ein falsches Wort konnte bei diesem Pack zum Verhängnis führen.

„Guten Tag Frau Sleyvorn. Ich freue mich, dass ich Sie daheim antreffe.“

Sie reichte ihm mit einem angedeuteten Kopfnicken die Hand zur Begrüßung. Die Frau besaß außergewöhnlich lange, schmale Finger, die Heinrich nicht gerne berührte. Aber er würde in diesem Fall wohl nicht darum herumkommen.

Der Händedruck war kühl.

Ein Ring mit einem großen, roten Stein funkelte an ihrem Finger. Ein echter Rubin war es sicherlich nicht, den sie trug. Die Farbe erschien Heinrich ein wenig zu dunkel. Mit einer Geste wies Elisa ihn an, hereinzukommen.

Heinrich setzte zum ersten Mal in seinem Leben einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses. Gerüchteweise war ihm bereits zu Ohren gekommen, was einen Besucher hier erwartete. Von außen gab allein das Eingangstor einen Hinweis darauf, welche Kapriolen bei der Inneneinrichtung zu erwarten waren.

Die unverkleideten Wände gaben den Blick auf kahlen Sandstein frei. Ein merkwürdiges Sammelsurium von Gegenständen lag auf schmiedeeisernen Regalen, die meisten Dinge schienen recht alt und besaßen ein entsprechendes Aussehen: Rost, Risse und Staub sprangen Heinrich ins Auge. Eine aus grobem Räderwerk bestehende Uhr ohne Gehäuse gab ein lautes, gleichmäßiges Ticken von sich. Rechts von der Uhr lag etwas, das aussah, wie ein mittelalterlicher Dolch. Daneben wiederum erhaschte Heinrich einen Blick auf einen mit verblasstem Garn bestickten Handschuh. Er fühlte sich gedrängt, der vorauseilenden Hauseigentümerin in das angrenzende Zimmer zu folgen, welches keinesfalls gemütlicher war. Die an den Wänden angebrachten, antiquarischen Konsolen trugen hier flackernde Öllampen. Das Fenster war mit schwerem Tuch verhangen, die Sitzgelegenheiten aus blankem Holz gefertigt. Auf rustikalen Regalen stapelten sich Unmengen antiquarischer Bücher.

Heinrich wurde Platz angeboten auf einem Sessel, der hart war wie eine Folterbank. Elisa nahm ihm gegenüber Platz auf einem knarrenden Holzstuhl, der vor Jahrhunderten bessere Zeiten gesehen haben mochte. Sie bot ihm weder etwas zu trinken, noch einen kleinen Imbiss an.

Heinrich hatte sich vorgenommen, sogleich mit der Sprache herauszurücken. Was nützte es schon, die Angelegenheit auf die lange Bank zu schieben? Dadurch würde die Sache auch nicht erfreulicher. „Frau Sleyvorn, meine Frau ist schwer erkrankt. Und wir können uns des Verdachtes nicht erwehren, dass Ihre Enkelin damit etwas zu tun hat.“

Elisa verzog keine Miene. Die dunklen Augen hafteten stumm auf dem Gesicht ihres Besuchers, sodass dieser unruhig hin und her zu rutschen begann. Dies war alles Andere, als die angenehmste Mission seines Lebens. Tapfer führte Heinrich seinen Verdacht weiter aus, obwohl seine Handflächen spürbar feucht wurden. „Ihre Enkelin ist mit meiner Frau in Streit geraten. Das Mädchen hat sich in eine ungerechtfertigte Wut gesteigert.“

Elisa hob stumm die Brauen, die im Gegensatz zum weiß gewordenen Haupthaar noch ganz schwarz waren.

„Sie wissen, worauf ich hinaus will“, setzte Heinrich hinzu und zwang sich, den festen Blick der Frau zu erwidern. „Meine Frau war nie zuvor krank“, erklärte er weiter. „Sie hat eine sehr robuste Natur. Doch nachdem das Mädchen seine Hand erhoben und diese merkwürdigen Worte gesagt hat, ging es ihr von Minute zu Minute schlechter. Es ist nicht das erst mal, dass derartige Dinge im Umkreis Ihrer Familie vorfallen. Darum wissen meine Frau und ich genau, dass die ganze Sache keine Einbildung ist.“

Elisa lehnte sich in ihrem knarrenden Stuhl vor. „Und?“ fragte sie mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme.

„Was, und?“ fragte Heinrich irritiert zurück.

„Was erhoffen Sie sich nun hier, bei mir?“

„Frau Sleyvorn, meiner Frau geht es wirklich äußerst schlecht. Der Doktor kann ihr nicht helfen, und wenn es weiter mit ihr bergab geht, dann ist sie in wenigen Tagen tot.“ Er machte eine Pause, währenddessen er die Schultern straffte und sich darauf konzentrierte, den Blick anzuwenden, mit dem er üblicherweise seinen Geschäftspartnern gegenübertrat. „Es liegt nicht im Gutdünken Ihrer Enkelin, Todesurteile auszusprechen. Niemand hat das Recht, so etwas zu tun.“

Elisa lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück und strich sich mit der schmalen Hand durch das weiße Haar. Wieder fiel Heinrichs Blick auf den Ring mit dem roten Stein, der im Licht der Lampen funkelte. Nach einer Weile des Schweigens sagte sie, ohne jegliche Erregung in der Stimme: „Glauben Sie tatsächlich, dass ein Todesurteil durch ein paar gesprochene Worte vollstreckt werden kann? Hängen Sie diesem Aberglauben an?“ Sie schenkte ihm einen langen, düsteren Blick.

Natürlich traf diese Hexe damit Heinrichs wunden Punkt. Keinesfalls wollte er als abergläubischer Spinner abgestempelt werden. „Nein, Frau Sleyvorn“, widersprach er ihr deshalb. „Ich bin nicht abergläubisch. Ich bin ein moderner Mensch, der glaubt, was er sieht. Und von Ihrer Sippe habe ich bereits mehr als genug gesehen.“

Um Elisas Mundwinkel spielte ein kleines, amüsiertes Lächeln.

„Es tut mir leid, Frau Sleyvorn“, betonte Heinrich. „Ich lasse mich davon nicht abbringen: Was meine Frau und ich gesehen haben, das haben wir gesehen. Unsere Schlussfolgerungen sind eindeutig und Sie können mich nicht von meiner Meinung abbringen.“

Obwohl Heinrich innerlich bebte, blieb er nach außen hart wie ein Fels. Man konnte wahrlich nicht behaupten, dass ihm die Liebe zu seiner Frau eine solche Kraft verlieh, dass er über seine Angst, sich vollkommen lächerlich zu machen, hinwegsehen konnte. Er liebte seine Frau nicht. Er war einfach ein Mann mit Prinzipien.

 

„Warum“, fragte Elisa leise, „wenden Sie sich mit dieser Geschichte an mich?“

„Weil Sie die Sache rückgängig machen sollen, natürlich“, erwiderte ihr Heinrich. „Dieses trotzige Kind würde doch sicher keinen Finger rühren...“

Elisa wiegte leicht den Kopf hin und her. „Wissen Sie, Herr Neuberg,“, sagt sie, „ich würde Ihnen wohl kaum helfen wollen, selbst, wenn Ihre verrückte Geschichte wahr wäre. Tadeya ist längst kein Kind mehr und es widerstrebt mir zutiefst, mich in ihre Angelegenheiten einzumischen.“

Heinrich fuhr daraufhin aus seinem Sessel hoch. Stockgerade stand er dort, vor seiner Gastgeberin, und blickte auf die alte Frau herab.

„Was Sie sagen, ist kalt und gefühllos“, gab er zurück. „Aber es wundert mich nicht, das entspricht ganz dem Handeln Ihrer Enkeltochter. Hätte ich dieselbe Fähigkeit, wie dieses Mädchen, dann würde ich Sie verfluchten, Frau Sleyvorn, glauben Sie mir. Und Sie würden elendiger dahinsiechen, als meine Frau!“

Elisa hob den Kopf. Das Lächeln war von ihren Lippen verschwunden.

Das Blut rauschte in Heinrichs Schläfen und er wusste genau, dass sein Kopf feuerrot geworden war. Doch sein hauptsächliches Gefühl war nicht der Zorn, sondern die Angst. Er sah sein endgültiges Schicksal mit großen Schritten herbeieilen.

Auch Elisa stand nun aus ihrem Stuhl auf, jedoch viel langsamer, als Heinrich es zuvor getan hatte. „Herr Neuberg“, antwortete sie ihm mit ihrer tiefen Stimme. „Sie besitzen mehr Mut, als ich dachte. Und Mut ist eine Eigenschaft, die ich zu schätzen weiß.“

„Werden Sie nun meiner Frau helfen oder nicht?“ war Heinrichs herausfordernde Frage. Zu verlieren hatte er sowieso nichts mehr.

Sie schüttelte als Antwort nur den Kopf.

Heinrich verharrte mit gestrafften Schultern in seiner Position. Er hatte keine Ahnung, was er noch sagen konnte, um diese Hexe zu überzeugen. Sie hatte die Macht über Leben und Tod in der Hand und er konnte nur noch um ihre Hilfe betteln. Doch zu betteln verbot sich ihm von selbst.

„Wenn Sie noch mehr von Ihrem Mut auf Lager haben,“, begann Elisa, „dann mache ich Ihnen einen Vorschlag.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu und zog die Brauen zusammen, um ihn auf diese Weise zu fixieren. „Fahren Sie nicht mit Ihrer Kutsche zurück,“, sagte sie, „sondern schicken Sie den Kutscher allein nachhause und gehen zu Fuß über den Strand. Wenn Sie dort einen Fremden treffen, dann sprechen Sie mit ihm. Es ist gut möglich, dass er Sie abweist. Aber vielleicht ist es einen Versuch wert.“

Heinrich drängte sich der Gedanke auf, dass Elisa ihn nur mit einer billigen Ausrede fortschicken wollte. Dieser Vorschlag klang verdächtig an den Haaren herbeigezogen. Doch was blieb ihm anderes übrig, als zu tun, was sie ihm riet? Er konnte schließlich nicht zur Polizei gehen und Elisa in Erzwingungshaft nehmen lassen. Man würde ihn nicht nur auf der Wache, sondern zusätzlich in der gesamten Region auslachen. Man würde sagen, Heinrich Neuberg sei verrückt geworden über das schwere Schicksal seiner Frau.

Eines nahm er sich fest vor: Wenn er den seltsamen Fremden am Strand nicht träfe, dann käme er hierher zurück, zu Elisa Sleyvorn. Und er würde dieser Frau keine Sekunde mehr von der Seite weichen, bis sie schließlich nachgab. Und wenn er sich dafür in ihrem Haus fest ketten musste!

So schickte er den Kutscher fort und machte sich auf den Weg hinunter zum Strand. Das Wetter bot sich nicht eben für einen Strandspaziergang an. Der Sturm, der über zwei Tage hinweg getobt hatte, hatte sich zwar etwas gelegt, doch von Windstille konnte keine Rede sein. Außerdem war es eiskalt und ein feiner Nieselregen durchnässte nach und nach seinen Mantel. Graue Wellen krochen gurgelnd den Strand hinauf, um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. Heinrichs Stiefel sackten bei jedem Schritt in den nassen Sand ein, sodass er nur sehr mühsam vorwärtskam.

Er hob den Kopf und blickte zu den schwarzen Klippen hinauf. Dieser Strand war nichts weiter als ein schmaler Sandstreifen zwischen Meer und Fels. Nur selten waren hier um diese Jahreszeit Menschen anzutreffen und auch im Sommer führte es nur sehr vereinzelte Spaziergänger her. Ein solch ungastlicher Ort wie dieser, fand Heinrich, wurde zu Recht gemieden.

Er wandte den Blick von den kahlen Felsen ab und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Die alte Hexe saß jetzt sicher auf ihrem harten Folterstuhl und lachte sich ins Fäustchen über seine Dummheit. Und er würde bei der ganzen Sache nichts als klamme, feuchte Kleidung ernten - und vielleicht eine daraus resultierende Lungenentzündung. Na, auf diese Weise würde es dieser Zigeunersippe vielleicht sogar gelingen, ihn gemeinsam mit seiner Frau das Zeitliche segnen zu lassen.

Grau, kalt und vor allem leer war dieser Ort.

Trotz seiner Überzeugung, dass man ihn hereingelegt hatte, schaute Heinrich sich aufmerksam um. Wenn es auch nur einen winzigen Hoffnungsfunken gab, dass diese Frau die Wahrheit sagte, dann wollte er sich daran klammern. Was blieb ihm auch sonst übrig?

Plötzlich sah er eine graue Hütte, die wie aus dem Felsen gehauen unter den Klippen kauerte. Dieser Anblick schien ihm ungewöhnlich genug, um die Sache genauer zu untersuchen. Heinrich ging geradewegs auf die Hütte zu, die zur Vorderseite hin weder Fenster noch Tür aufwies. Das Dach war flach und bestand ebenfalls aus Stein. Er bewegte sich um das Haus herum und entdeckte an der Seite eine schmale, graue Tür mit augenscheinlich neuen, metallisch glänzenden Beschlägen. Auch hier war kein Fenster zu sehen, nur eine massive Steinwand. Nirgendwo eine Möglichkeit, in die Hütte hinein zu sehen.

Heinrich wandte sich um, ging zurück zu der Tür und klopfte dort entschlossen an. Die Fäustlinge ließen sein Klopfen dumpf ertönen, doch es war weitaus laut genug, um dort drinnen gehört zu werden. Er lauschte, hörte aber nur das Heulen des Sturms zwischen den Felsspalten. Eine Bö riss kräftig an seiner Mütze und ließ ihn erschauern. Auch nach wiederholtem Klopfen regte sich nichts in der Hütte, die Tür blieb geschlossen.

„He!“ rief Heinrich nun laut. „He! Jemand zuhause?“

Keine Antwort.

Er griff nach der Türklinke, um zu probieren, ob die Tür wirklich verschlossen war. Doch auch das Rütteln an der Klinke blieb erfolglos. Fröstelnd legte er die Arme um seinen Oberkörper und dachte einen Moment lang nach: Hatte es einen Sinn, hier vor der Tür zu warten, bis der Bewohner der Hütte eventuell noch nachhause käme? Hinter der Hütte war es windgeschützt, dort ließ es sich sicher besser eine Weile aushalten. Als er sich umdrehte, musste er feststellen, dass das Warten nicht mehr nötig war. Die schwarzen Augen, die ihn mit beklemmender Intensität musterten, waren wie ein deja vu für ihn. Es schien Heinrich im ersten Moment, als stände die alte Hexe wieder vor ihm.

Jedoch das Gesicht war das eines Mannes, in dem Heinrich die Feinheit von Elisas Zügen wiederzuerkennen glaubte. Der vor ihm stehende Mann war einige Jahre jünger als er selbst, vielleicht nicht einmal dreißig. Und doch besaß er eine derart intensive Ausstrahlung, dass Heinrich im ersten Moment kein Wort herausbrachte. Es war ihm, als sei er ohne Erlaubnis in ein fremdes Haus eingedrungen und dabei ertappt worden. Der finstere Blick, der so unverhohlen auf ihn gerichtet war, beraubte ihn für einige Augenblicke völlig seines rationalen Denkvermögens.

Erst nach einer Weile brachte Heinrich, über seine eigene Reaktion verärgert, mühsam einige Worte über die Lippen. „Ich... bin ... hergeschickt worden von ... Frau Sleyvorn...“

Der düstere Ausdruck seines Gegenübers veränderte sich um keine Nuance. Heinrich wäre am liebsten einen Schritt zurückgetreten, da er sich in der Nähe dieses Mannes äußerst unbehaglich fühlte. Doch hinter ihm befand sich die Tür der Hütte, sodass es keine Ausweichmöglichkeit gab.

„Frau Sleyvorn“, wiederholte der Fremde und hob den Kopf ein wenig an, ohne jedoch den Blick von Heinrich abzuwenden. „Warum schickt sie Sie?“

Heinrich straffte die Schultern und bemühte sich, seine völlig unangebrachte Verwirrung abzuschütteln. Mit noch immer ein wenig belegter Stimme fragte er: „Sie kennen Frau Sleyvorn?“

Die Antwort war ein Kopfnicken.

Also war er hier wohl an der richtigen Adresse, dachte sich Heinrich. Den fremden Mann am Strand hatte Elisa Sleyvorn sich nicht einfach ausgedacht. Fraglich schien nun nur noch, ob dieser tatsächlich eine Hilfe für ihn und seine Frau bedeutete. Offensichtlich gehörte der Fremde ebenfalls dieser Zigeunersippe an, von der er kein entgegenkommendes Verhalten gewohnt war. Heinrich räusperte sich, um sich von dem Knoten in seinem Hals zu befreien. „Frau Sleyvorn war der Ansicht, dass Sie mir vielleicht helfen könnten“, sagte er.