Der Golan-Marathon

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Der Golan-Marathon
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Der Golan-Marathon

Yassin Nasri

Autos finden alleine ihren Weg nach Hause zurück, Häuser ändern beliebig ihre Farben und Polizeidrohnen fliegen über die Köpfe der Bürger. Doch damit nicht genug: Im Jahre 2033 herrscht auch im Mittleren Osten ein dauerhafter Frieden und die dortigen Staaten sind einschließlich Israel in der Ugarit Union vereint. Die gesamte Region, insbesondere Syrien, hat sich ökonomisch, ökologisch und gesellschaftlich zu einem Vorbild für die ganze Welt entwickelt.

Als der junge Deutsche Andy im Herbst 2033 geschäftlich nach Aleppo reist, trägt er ein völlig veraltetes Bild von der Heimat seiner Eltern im Kopf. Seine Eltern verließen Syrien noch vor dem Krieg, um in Deutschland ein Leben frei von Diktatur und religiösem Fanatismus aufzubauen. Überrascht von dem orientalischen Charme und von dem gesellschaftlichen Fortschritt verlängert er seinen Aufenthalt und begibt sich auf eine Entdeckungsreise ins Innere des Landes. Dort lernt er nicht nur interessante Persönlichkeiten und eine vermeintliche Liebe kennen, sondern er erfährt auch die Wahrheit über die Vergangenheit seiner Eltern, bisher ein von ihnen gut gehütetes Geheimnis.

Andy beschließt, an dem berühmten Friedensmarathon durch die Golanhöhen teilzunehmen, mit einem unvorhersehbaren Ende.

YASSIN NASRI, geboren 1966 in Damaskus, Syrien. 1987 wanderte er nach Deutschland aus und studierte Architektur an der TU Braunschweig. Neben seinen schriftstellerischen Aktivitäten ist Yassin Nasri auch als internationaler Business Development Consultant tätig. 2011 veröffentlichte er im VAT-Verlag seinen ersten Roman „Ich will kein Flachdach sein“.

Originalausgabe 2015

Herausgeber: Yassin Nasri

Lektorat: Petra Seitzmayer, Mainz

Umschlaggestaltung und Satz:

Malika Wichtendahl,

gestaltungsraum wichtendahl, Dresden

Manuela Vock, vockdesign, Dresden

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

ISBN: 978-3-7375-5476-3

Obgleich dieser Romans in der Zukunft spielt, beruht er auf historischen Fakten. Es wird dabei auf real existierende politische Ereignisse und Personen Bezug genommen. Davon ausgenommen sind die Figur des Protagonisten, seine Familie sowie seine Freunde und Bekannte. Hier ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Schilderungen, diese Personen betreffend, eine reine Fiktion sind. Jede Ähnlichkeit mit Namen oder Schicksalen lebender oder verstorbener Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

www.golanmarathon.com

„Heimatlosigkeit ist das schöne Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein.“

Der Heimatlose

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dresden, Herbst 2033

Im Elternhaus

Die schwere Last der Vergangenheit

Der Heimatlose

Das Himmelsfenster von Aleppo

Die Verlängerung

Das Museum der Zukunft

Lina

Der Atheist

Selma & Aaron

Munas Geheimnis

Osamas Geheimnis

Der Golan-Marathon

Epilog

Prolog

Drei Schüsse waren auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv zu hören. Die Schwerkraft zog einen Mann zu Boden. Er starb und mit ihm wurde die Zuversicht auf Frieden begraben. Eine Mauer wurde gebaut - ein Grabmal der Hoffnung. In einem fernen Land statteten zwei Passagierflugzeuge zwei Türmen einen tödlichen Besuch ab. Eine Mischung aus Blut, Öl, Feuer und Asche ebnete dem Hass seinen Weg, der in den fernen Nahen Osten führte. Ein tunesischer Mann konnte das Unrecht nicht mehr ertragen. Er zündete sich auf offener Straße an. Sein Tod markierte die Geburt eines Arabischen Frühlings, der keiner war. Diktatoren fielen und neue kamen. Der Hartnäckigste unter ihnen thronte über Damaskus. Er dachte über alles nach, nur nicht darüber abzutreten. Menschen tanzten auf den Straßen bis die Kugeln des Herrschers ihre Körper durchlöcherten. Eine Bombe suchte und fand ihr Ziel. Das war alles kein Problem. Aus einer Bombe wurden tausende. Ein ganzes Land versank in Chaos, Trauer und Hass. Religiöser Fanatismus gewann die Oberhand und die Tränen nahmen eine ungewöhnliche Farbe an – die Farbe Rot.

„Nein!“ Ein brüllendes und laut heulendes „Nein“ brachte den Himmel zum Weinen. Eine Welt wie diese konnten und wollten wir nicht akzeptieren. Die drei Geschosse prallten gegen die Sicherheitsweste von Isaak Rabin. Die Hülsen fielen der Schwerkraft gemäß zu Boden. Rabin überlebte.

Eine Mauer wurde nie gebaut und die Menschen hofften weiter, bis der Frieden kam.

In einem fernen Land berührten nur die Schatten zweier Passagierflugzeuge zwei Türme. Solche „Streicheleinheiten“ bekamen weltweit tagtäglich tausende Bauten. In Tunis zündete sich ein Mann auf offener Straße an. Sein Tod markierte die Geburt eines Arabischen Frühlings, der ein echter Frühling wurde. Diktatoren fielen. Doch Nachfolger gab es keine. Der Hartnäckigste unter ihnen dachte über alles nach, sogar über das Zurücktreten. Er beugte sich dem Druck der eigenen Bevölkerung sowie der Weltbevölkerung und dankte ab. Menschen tanzten Tag und Nacht auf den Straßen, bis das Land des Diktators frei und demokratisch wurde. Freiheit, Frieden und Demokratie besiegten den religiösen Fanatismus, die künstlichen Grenzen und bescherten dem gesamten Nahen Osten Wohlstand. Die Farbe Rot existierte weiter, wenn auch nicht in den Tränen der Menschen. Schließlich ist sie auch die Farbe der Liebe und der Leidenschaft.

Und wieder ein „Nein“, ein leises und nachdenkliches „Nein“. Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Aber es liegt in unseren Händen, die Zukunft zu gestalten. Ja, Rabin ist tot. Auch wurde eine Mauer gebaut und der Arabische Frühling erwies sich als eine Missgeburt. Der Hartnäckigste unter den Diktatoren dachte nicht daran abzutreten. Menschen wurden von Kugeln durchlöchert und tausende Bomben trafen beliebige Ziele. Ein ganzes Land versank in Chaos und Trauer – ein idealer Nährboden für Hass und religiösen Fanatismus. Nur die Hoffnung war nicht tot, denn sie ist einfach unsterblich.

Dresden, Herbst 2033

Er atmete schnell und gleichmäßig. Sein Blick war nach vorne gerichtet, dennoch nahm er die Randbereiche des Weges wahr, als hätte er Fischaugen. Seine Ohren waren gespitzt wie die eines Wachhundes. Seine Nase nahm alle Gerüche des Waldes auf und er atmete sie genüsslich ein. Andy rannte. Er rannte im Wald – auf der Dresdner Heide. Das tat er täglich, bei jedem Wetter, jeweils für eine Stunde. Dabei ging es ihm um viel mehr als um das Laufen an sich. Er war von dem Wald mit all seinen Düften, Geräuschen und Eindrücken besessen, zumal er sich jeden Tag anders anfühlte, aussah und roch.

Andy joggte immer am späten Nachmittag in der Dämmerung und manchmal rannte er sogar im Dunkeln. Aus beruflichen Gründen konnte er nicht früher laufen gehen. Damit verpasste er zwar das imposante Lichtspiel der durch die Baumkronen fallenden Sonnenstrahlen. Dafür aber konnte er jene Unheimlichkeit des Waldes bei Einbruch der Dunkelheit genießen.

Berauscht von den Eindrücken des Waldes bog Andy in die Jägerstraße ein. Als er seine geräumige Wohnung in der Marinenallee im Preußischen Viertel erreichte, war es bereits spät am Abend.

Er trat ein. Ohne durch die Küche zu gehen, wo Carla das Abendessen vorbereitete, lief er ins Schlafzimmer, zog seine durchgeschwitzte Sportkleidung aus und sprang nebenan in die Dusche. Unter dem laufenden Wasser ließ er seinen Rausch abklingen. Während das Wasser über seinen Körper floss, dachte er über seine anstehende erstmalige Reise nach Syrien nach.

Mit halb getrockneten Haaren betrat er die Küche. Carla saß schon am gedeckten Tisch. Außer Brot, Salat und dem Üblichen aus dem Kühlschrank gab es nichts Besonderes. Mehr als ein knappes „Hallo“ sagten sie einander nicht. Schweigend begannen beide, ihre Brote zu schmieren.

Der Kühlschrank brummte leise vor sich hin und die Wanduhr tickte vorsichtig, als schämte sie sich für den verursachten Lärm. In einer solchen Atmosphäre kamen einem sogar die unterdrückten Kaugeräusche wie eine Ruhestörung vor. Schweigend eine Brotscheibe aufzuessen, schien eine Ewigkeit zu dauern. Andy machte das alles nichts aus – nach einem meditativen Lauf, gefolgt von meditativem Duschen, konnte ein stilles, meditatives Abendbrot nicht schaden. Carla konnte die gefühlte Kälte nicht mehr aushalten und versuchte, mit einem Kommentar das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen zu bringen:

„Und, sind die Koffer schon gepackt?“, sagte Carla und zweifelte gleich am Sinn ihrer Frage, denn die Antwort darauf war ihr schon bekannt.

„Eigentlich schon. Es ist ja schließlich nur ein Minikoffer. Ich muss lediglich noch die Kulturtasche reinpacken und fertig, los“, antwortete Andy.

 

„Schön“, murmelte Carla in einem theatralischen Ton. Damit wollte sie Andy erneut signalisieren, dass sie über seine Weigerung, sie mit nach Syrien zu nehmen, nicht glücklich war.

„Hör zu!“, sagte Andy und legte dabei seine Hand auf ihre, „Ich verspreche dir, dass wir Syrien auf unsere Reisewunschliste mit aufnehmen.“

„Das ist aber toll, dann werden wir in fünf Jahren vielleicht endlich mal dorthin fliegen“, entgegnete Carla in einem ironischen Ton.

„Das kann stimmen, denn vergiss bitte nicht, dass Vietnam, Argentinien und Kanada schon länger auf der Liste stehen und entsprechend Vorrang haben.“

Carla antwortete nicht mehr. Sie schaute schweigend, aber mit einem genervten Blick zur Decke hin. Warum sie sich überhaupt noch mal mit Andy anlegte, wusste sie nicht. Immer wieder biss sie bei ihm auf Granit. Sie hatte auch keine Hoffnung, dass er jetzt seine Meinung ändern und sie plötzlich mitnehmen würde. Dafür war es sowieso zu spät: Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr würde Andy zum Bahnhof fahren. Wollte sie damit eine Entschuldigung erzwingen? Carla wusste, wie schwer es war, von Andy eine Entschuldigung für irgendetwas zu bekommen. Und sie legte auch keinen Wert auf leere Worte. Sie war enttäuscht und auch verbittert wegen der verpassten Chance einer gemeinsamen Fahrt nach Syrien, vor allem aber, weil Andy sie so vehement ausschloss. Natürlich sah sie als Studentin der Volkswirtschaft und Internationalen Politik in dieser Reise eine wertvolle Exkursion und eine gute Gelegenheit, das „Musterland“, von dem die ganze Welt sprach, zu entdecken, zumal sie Semesterferien und Andy viele Resturlaubstage hatte.

Seinerseits verstand Andy ganz genau, was Carla von ihm wollte, aber er fühlte sich nicht in der Lage, ihr entgegenzukommen. Bei seiner geplanten Reise nach Syrien ging es ihm lediglich um die vier Messetage in Aleppo. Er wollte sie durchziehen und anschließend mit der nächsten Maschine nach Deutschland zurückfliegen. Einen Urlaub oder eine Entdeckungstour durch Syrien an die Dienstreise dranzuhängen, wie es sich Carla wünschte, kam für ihn gar nicht in Frage.

Für einige Minuten herrschte wieder Stille. Dann sagte Carla versöhnlich:

„Iss noch eine Scheibe mit Brombeermarmelade. Eine solche bekommst du in ganz Syrien nicht.“

Die Versöhnungsgeste kam bei Andy an. Er lächelte und beugte sich über den Tisch, um Carla einen Kuss zu geben.

Im Elternhaus

Carla war am nächsten Tag sehr früh auf den Beinen. Sie radelte schnell zum Wochenmarkt am Alaunpark rüber, wo sie zusätzlich zu den frischen Brötchen auch einige Schinken- und Salamisorten sowie Oliven mit Kräutern und eingelegte Artischocken kaufte. Als Andy an diesem Morgen in der Küche stand, sah er einen perfekt gedeckten Tisch. Carla wirkte wie verwandelt. Sie wollte Andy nicht mit schlechten Erinnerungen an sie und an ihre Beziehung auf die Reise schicken. Er war positiv überrascht, wunderte sich aber zugleich über die Wandlungsfähigkeit seiner Carla – je nach Wunsch zeigte sie ein trauriges, wütendes, nachdenkliches oder - wie heute - ein lebensbejahendes Gesicht.

Das Frühstück war beendet. Carla bot Andy an, ihn zum Hauptbahnhof zu fahren. Er lehnte das Angebot freundlich ab, denn er konnte Abschiedsszenen an Bahnhöfen und Flughäfen überhaupt nicht leiden, zumal der technische Fortschritt solche überflüssig machte: Andy fuhr mit dem eigenen Elektroauto zum Bahnhof, schaltete vor dem Aussteigen den Autopilot ein und gab dem Auto via Sprachsteuerung den Befehl, selbstständig nach Hause zurückzufahren.

Die Bahnfahrt nach Frankfurt am Main verlief insgesamt angenehm, auch wenn sich der Zug in Leipzig deutlich füllte. Um Andy herum herrschte geschäftiges Treiben - Reisende stiegen ein und aus, andere unterhielten sich oder telefonieren mit ihrem TelTab (Ein Handy, das beim Ausklappen gleichzeitig als Tablet-Computer funktioniert). Von all dem bekam Andy wenig mit, denn schon kurz nach der Abfahrt in Dresden holte er selbst sein TelTab raus und fing an, sich mit seinen Arbeitskollegen über die letzten Vorbereitungen für die Messe schriftlich und telefonisch auszutauschen. Als er das Gerät zur Seite legte, befand sich der Zug schon hinter Fulda, nur noch eine halbe Stunde vom Frankfurter Hauptbahnhof entfernt.

Obwohl Andy von der Fahrt und den Mitreisenden wenig Notiz nahm, hatte er das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Unbehagen verstärkte sich beim Verlassen des Bahnhofs in Frankfurt. Zweimal hielt er an und drehte sich um. Seine Blicke suchten nach Anhaltspunkten, die seinen Verdacht bestätigten - vergeblich.

Fünfundzwanzig Minuten nach seiner Ankunft erreichte Andy Kronberg im Taunus. Oberhalb dieses verträumten Ortes wohnten seine Eltern. Die Nähe des Elternhauses zum Frankfurter Flughafen passte Andy ganz gut. So konnte er seine Reisen immer mit einem Besuch bei seiner Familie verbinden. Diesmal blieb er über Nacht. Am nächsten Tag musste er gegen acht Uhr morgens am Flughafen sein.

Nachdem Andy seine Eltern begrüßt hatte, setzte er sich auf die Terrasse. Es war ein herrlicher, sonniger Herbsttag, wahrscheinlich einer der letzten des Jahres, an denen man draußen sitzen konnte. Er genoss den Ausblick, denn von der Terrasse aus konnte man sogar die Skyline der Stadt Frankfurt sehen.

„Kaffee ist fertig!“, rief Muna aus dem Wohnzimmer.

Andy rührte sich kaum. Als er sich gerade aufraffte, um aufzustehen und sich in Richtung Wohnzimmertür zu bewegen, legte seine Mutter nach: „Komm endlich rein! Du wirst in Aleppo genug Sonne abbekommen.“

Andy konnte mit seiner Antwort nicht warten, bis er im Haus war. Er stand noch im Türrahmen zum Wohnzimmer und rief hinein: „Schön wär‘s! Leider werde ich die syrische Sonne kaum auf meinem Gesicht spüren, nicht mal auf dem Weg zur Messe, denn das Hotel und die Hallen liegen alle auf dem Flughafenareal.“

„Du Armer, das tut mir aber leid für dich“, sagte seine Mutter sarkastisch. Osama, der schon auf dem Sofa saß, mischte sich in das Gespräch ein: „Hättest du nicht Lust, einige Tage dranzuhängen, um Land und Leute kennenzulernen?“

„Das hört sich aber sehr nach einem Vorschlag an“, spottete Andy. Man sah ihm die Verwunderung über die Frage seines Vaters an.

„Ich meine, wenn du schon mal da bist …“

„Dass eine solche Empfehlung von dir kommt, finde ich höchst seltsam“, bemerkte Andy auf eine ungeschliffene Art. „In den achtundzwanzig Jahren meines Lebens haben du und Mutter euch stets verweigert, mit mir oder ohne mich nach Syrien zu reisen. Man könnte fast meinen, dass ihr die Existenz Syriens auf der Weltkarte leugnet. Und jetzt auf einmal gibt es dieses Land wieder und kann bereist und erkundet werden!“ Sarkasmus war eher kein Charakterzug von ihm. Er war daher von seiner verbalen Attacke selbst überrascht.

„Ach was, Andy!“, reagierte sein Vater beleidigt. „Wir haben dir die Reise weder empfohlen noch gewünscht, schließlich bist du dort doch beruflich unterwegs. Unabhängig davon weißt du ganz genau, warum wir Syrien all die Jahre gemieden haben.“

In der Tat kannte Andy einige der Gründe, derentwegen seine Eltern seit dreißig Jahren, also schon vor seiner Geburt, keinen Fuß auf syrischen Boden gesetzt hatten. Diese sprachen seine Eltern immer wieder an. Sobald er als Kind eine Frage zur Heimat stellte, wiederholten sie gebetsmühlenartig, dass die Gründe in ihrer Vergangenheit zu suchen seien. Diese klangen immer auf eine verblüffende Art überzeugend, sodass bei Andy nie der Wunsch aufkam, dieses Land kennenzulernen. Rückblickend betrachtet war es fast so, als ob er auf einer Insel leben würde und die Eltern ihn das Meer, das ihn umgab und den Weg in die Welt bedeutete, fürchten lehrten.

„Was ich dich immer mal fragen wollte, Papa: Hast du überhaupt Heimweh oder jemals Sehnsucht nach Syrien gehabt?“

Der Vater schlürfte aus seiner Mokkatasse und schwieg.

Die schwere Last der Vergangenheit

Osama stammte aus Damaskus. Als junger Bursche war er in gewisser Weise ausgeflippt, ein politischer Mensch war er aber nie. Er spielte Gitarre in einer lokalen Hardrock-Band, verehrte Iron Maiden und war dazu ein Computer- und Internetfreak. Er bloggte und chattete intensiv mit anderen jungen Menschen aus der ganzen Welt, einschließlich der USA und Israel. Es war die jugendliche Neugier auf die Welt und ihre Vielfältigkeit, weshalb Osama damals den Kontakt unter anderem zu den Amerikanern und Israelis suchte. Ihre Unterhaltungen drehten sich um Themen wie Musik, Mode, Technik, Freundschaft und Liebe. Der syrische Staat sah darin jedoch eine potenzielle Gefahr, denn diese Art von Kommunikation könnte irgendwann in einem Austausch über Freiheit und Menschenrechte münden. Vorsorglich wurde Osama verhaftet und verschwand für mehr als ein Jahr in den Kellern der Geheimdienste von Bashar al-Assad, wo er alle möglichen Verhörmethoden über sich ergehen lassen musste, inklusive Folter und Misshandlungen. Der offizielle Vorwurf gegen ihn lautete: „Kontaktaufnahme zu dem zionistischen Feind.“

Munas Heimat war Aleppo, die zweitgrößte Metropole Syriens. An der dortigen Universität fing sie an, Freie Kunst zu studieren. Auf einer Heavy Metal Party in Damaskus, wo Osama mit seiner Band auftrat, lernten sie sich kennen und verliebten sich sofort ineinander. Seinetwegen wechselte sie nach kurzer Zeit zur Universität in Damaskus. Es dauerte nicht lange, bis sich die zwei jungen, verrückten Seelen verlobten und heirateten. Von der Hochzeit der beiden damals Zweiundzwanzigjährigen sprach die ganze Stadt – in erster Linie die Damaszener Jugend: Das Paar sprengte alle religiösen und kulturellen Regeln und Maßstäbe, weil sie bei der Hochzeit weder den traditionellen Bräutigamszug namens „Zaffe“ noch islamische Bräuche zuließen. Auf der Feier spielte zur Überraschung aller Gäste Osamas Band Musik von Iron Maiden, Metallica und Danzig. Die Krönung der Party war der Auftritt des Bräutigams mit nacktem Oberkörper. Alle älteren Gäste, darunter die Onkel und Tanten des Ehepaares, verließen augenblicklich die Gesellschaft. Nur die Jungen blieben und tanzten auf den Tischen, einschließlich der Braut selbst. Osamas und Munas Verhalten mitten im arabisch islamischen Damaskus war revolutionär.

Die anschließende Hochzeitsreise der beiden scheiterte schon an der syrisch-türkischen Grenze. Dort wurden Muna und Osama seitens der syrischen Grenzbeamten an der Ausreise gehindert und Osama festgenommen. Inwiefern die diesmalige Verhaftung mit der Hochzeitsparty zu tun hatte oder ob andere Gründe ursächlich dafür waren, erfuhr Osama nicht. Als er nach einer Woche aus dem Gefängnis entlassen wurde, nutzte er die erstbeste Gelegenheit, um mit Muna aus dem Land zu fliehen. Seitdem hatten sie keinen Fuß mehr auf syrischen Boden gesetzt. Kontakt zu ihren Verwandten in Aleppo und Damaskus besaßen sie nicht mehr. Und das ebenfalls seit dreißig Jahren.

In Deutschland dauerte es nicht lange, bis Osama sein berufliches Glück fand. Seine speziellen IT-Kenntnisse verhalfen ihm zu einer Stelle als Datenbankspezialist bei der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Dort war er immer noch tätig. Das junge Paar hatte auch das Glück, ein gesundes Baby zu bekommen. Sie nannten es Anders.

Die Liebe seiner Eltern zu ihrer Heimat Syrien mutmaßte Andy bloß anhand von Indizien. Seine Eltern gaben sich alle Mühe, diese zu verheimlichen, sie leugneten sie sogar. Sie versuchten, mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern, dass Andy Syrien lieben lernte. Durch sie durfte er weder Liebe noch Loyalität zum Land seiner Vorfahren entwickeln und es gewann bei ihm keinen höheren Stellenwert als Länder wie Trinidad und Tobago oder Burkina Faso. Die einzige wertvolle Verbindung zu Syrien, die Andy vom Elternhaus mit auf den Weg gegeben wurde, war die Sprache. Andy konnte fließend Arabisch sprechen.

In der Nacht vor dem Abflug nach Aleppo dachte Andy viel über seine Eltern nach. In Wahrheit mussten sie also Syrien lieben, aber der Krieg und die Tyrannei durch Assad und das Treiben der später dazugekommenen IS-Djihadisten hatten ihre Seelen beschädigt. Die Eltern trauten dem Frieden nicht und fürchteten, dass das Leiden irgendwann wieder ausbrechen würde. Und leiden wollten sie nicht - nie mehr. Auch waren sie der Meinung, dass die Tore der Hölle nicht mit dem Ende des Krieges geschlossen worden waren. Sie hatten Angst vor der kriegsgeschädigten Generation, die aus seiner Sicht unberechenbar war.

In jener Nacht erinnerte sich Andy an eine Begebenheit aus seiner eigenen Kindheit. Er hatte damals vom Bürgerkrieg einiges mitbekommen: wie seine Mutter heimlich vor dem Fernseher saß und beim Anblick der Bilder des Mordens und Zerstörens heulte. Assad legte die Stadt Aleppo damals in Schutt und Asche – eine Stadt, die an historischem Reichtum kaum zu überbieten war. Eine Stadt, die über zwei Jahrtausende älter war als das Christentum. „Eine Fabrik der Geschichte“, hörte Andy seine Mutter einmal über Aleppo sagen.

 

In dieser Aussage erkannte er Munas Hochschätzung für Aleppo. Ein derartiges Lob vernahm Andy jedoch kein zweites Mal.