Buch lesen: «Verbrechen und kein Ende?»

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Wunibald Müller

Verbrechen und kein Ende?

Wunibald Müller

Verbrechenund kein Ende?

Notwendige Konsequenzen

aus der Missbrauchskrise

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2020

© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: Shutterstock)

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05468-7

978-3-429-05082-5 (PDF)

978-3-429-06481-5 (ePub)

Inhalt

Vorwort

TEIL IRückblick und Bestandsaufnahme – was ist bisher geschehen?

Es ist wie ein Déjà-vu

Ein Segen, dass der Skandal ans Licht gebracht worden ist

Sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext findet weiterhin statt

Die Kirche hat längst noch nicht genug getan

Was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden

Die Finger in die Wunde legen

Wenn die Kirche nicht handelt, läuft sie Gefahr, sich wieder schuldig zu machen

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten

„Die Wahrheit wird euch frei machen“

TEIL IIZölibat, Homosexualität, Sexuallehre und sexualisierte Gewalt

Sexueller Missbrauch und der Zölibat

Keine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch

Pädophile Priester

Therapeutisches Ziel bei pädophilen Personen, ihre Neigung kontrollieren zu können

Ausschluss von pädophilen Männern vom Priesterberuf

Priester, die psychosexuell unreif sind

Fehlende Auseinandersetzung mit der eignen Sexualität

Eine noch sorgfältigere Auswahl der Kandidaten für das Priesteramt

Viele haben den Zölibat geschluckt, aber nicht verdaut

Plädoyer für eine Aufhebung des Pflichtzölibats

Die frohe Botschaft: Der Pflichtzölibat befindet sich in Auflösung

Sexueller Missbrauch und Homosexualität

Homosexualität und Pädophilie werden oft in einem Atemzug genannt

Die Mehrheit der Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester besteht aus männlichen Kindern und Jugendlichen

Homosexuelle neigen nicht mehr als Heterosexuelle dazu, Minderjährige zu missbrauchen

Mangelnde Auseinandersetzung mit der Sexualität und der Homosexualität

Überdurchschnittlich hoher Anteil an unreifen homosexuellen Priestern unter homosexuellen Priestern

Risikofaktor für sexuellen Missbrauch: psychosexuell unreife homosexuelle Priester

Die negativen Folgen der Tabuisierung von Homosexualität

Notwendiger Perspektivenwechsel in der Einstellung der Kirche zu Homosexualität

Warum ist der Priesterberuf für schwule Männer so attraktiv?

Ein klares Ja zur Weihe homosexueller Männer

Die Notwendigkeit einer offenen und toleranzfördernden Atmosphäre

Sexueller Missbrauch und die kirchliche Sexuallehre

Die Kirche sollte endlich mit der Sexualität ihren Frieden schließen

Die sexuelle Lust darf nach kirchlicher Lehre ausschließlich in der Ehe genossen werden

Die kirchliche Sexuallehre hat den Boden für sexualisierte Gewalt mitbereitet

Eine Sexualität, die im Dunkeln gelebt wird, ist besonders anfällig für missbräuchliches Verhalten

Hinter der Sexualität steht die Schöpfermacht Gottes und nicht der lüsterne Satan

Ernstnehmen des Verlangens nach der Erfahrung von Lust

Körperliche Lust und der Verzicht auf erotische Erfüllung

TEIL IIIWas kann helfen, sexualisierte Gewalt von Klerikern zu verhindern?

Die Auseinandersetzung mit der Sexualität und die Befähigung zur Intimität

Priester, die erst viele Jahre nach ihrer Priesterweihe zum ersten Mal Minderjährige missbrauchen

„Wer ehelos lebt, setzt sich auf sehr reale Weise dem Risiko aus, niemals einer echten Intimität fähig zu werden“

Worin zeigt sich die Fähigkeit zur Intimität?

Die Erfahrung von Intimität

Unterschiedliche Dichte in der Erfahrung von Intimität

Die Bedeutung inniger, verbindlicher, tiefer Beziehungen

„Ein Mensch ist der Priester. Er ist also aus keinem anderen Holze gemacht als wir alle“

Der Priester muss seine menschliche, bedürftige Seite kennen

Ernstnehmen des Verlangens nach sexueller Erfahrung und Lust

Hingabe, Selbsttranszendenz, Generativität

Die Bedeutung der Selbstfürsorge für die Prävention sexualisierter Gewalt

Eine angemessene Sorge um mich selbst

„Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb“

Den Blick nach innen wenden

Den körperlichen und seelischen Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden

Die notwendige Fürsorge der Vorgesetzten für die kirchlichen Mitarbeiter

Die Bedeutung guter Beziehungen zu den Mitbrüdern, dem Bischof und Gott

Heiligkeit und priesterliche Lebenskultur

TEIL IVKlerikales System und sexualisierte Gewalt

Die frühere Praxis im Umgang mit Tätern

Der üble Geruch kommt aus dem Innersten der Kirche selbst

Das klerikale System hat die Ausübung sexualisierter Gewalt in der Kirche begünstigt und verharmlost

Die negativen Auswirkungen der herausgehobenen Position des Klerikers

Der Klerikalismus der Laien

Die frühere Praxis im Umgang mit Tätern

Späte Erkenntnis und Einsicht: Hier geht es um eine Krankheit und ein Verbrechen

Die Macht und Verantwortung des Vatikans

Das „secretum pontificium“

Mauer des Schweigens

Die Rolle von Joseph Ratzinger

Die frühere Praxis im Umgang mit Opfern

Wo war der Anwalt der Opfer?

Das fehlende „Mea culpa“

Sich nicht hinter Floskeln wie „wir haben uns gemeinsam so verhalten“ verstecken

Ist das Leid der Opfer wirklich bei den Bischöfen angekommen?

Die verheerenden Auswirkungen eines herzlosen Klerikalismus

Mangelndes Gespür für die verheerenden Folgen, die von sexueller Gewalt ausgehen

Sexualisierte Gewalt und Frauen in der Kirche

Auch die Frauen sind Opfer des klerikalen Systems in der Kirche

Vom Reichtum, den Frauen in die Kirche einbringen könnten

Im Mann und in der Frau schuf er sein Ebenbild

Immer wieder die Kirche kritisch von außen her betrachten

Alle sind gleich würdig und gleichberechtigt

Ein Traum

Umkehr oder Entmachtung

„Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“

Die Aussperrung vom Volk Gottes ist ein Skandal

Umkehren und sich den Opfern zuwenden

Umkehr als Verzicht auf die Macht

Die Bischöfe sind nicht bereit und in der Lage, die Macht abzugeben

Der Geist weht, wo er will

Die Abschaffung der Monarchie in der Kirche

Das System einer absoluten Monarchie in der Kirche ist unakzeptabel

Die Salbung des Heiligen

TEIL VAusblick – Wie geht es weiter?

„Mit Kirche darf ich nicht scheiße aussehen“

Zusammen aus dieser unheilvollen Situation herauskommen

Keine Beschwichtigungen

Vom Missbrauch des Missbrauchs

Die Verharmlosung von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Kontext

Die Gefahr, den eigentlichen Missbrauch nicht ernst zu nehmen

Miteinander den Karren aus dem Dreck ziehen

Im Kreis miteinander sitzen, ein Netzwerk bilden

Eine Kirche, die wieder mehr „Biss“ bekommt

Der synodale Weg

Der eigentliche Skandal – die Abwesenheit Gottes in der Kirche

Der wunde Punkt: Gott hat letztlich keine Rolle gespielt

Literatur

Die Kirche ist nicht in der Lage gewesen,die Taten als das zu benennen,was es war: als Verbrechen.

(Erzbischof Robert Zollitsch,ehemaliger Vorsitzenderder Deutschen Bischofskonferenz)

Vorwort

Die Missbrauchskrise ist da. Wir begegnen ihr fast täglich. Und jetzt? Wie geht es weiter? Was muss geschehen? Welchen Beitrag können, müssen wir leisten, wir, die Mitglieder der Kirche, die Verantwortlichen in der Kirche, die Bischöfe, damit das nicht länger geschieht? Damit keine Priester mehr zu Tätern werden, keine potentiellen Täter mehr zum Priesteramt zugelassen werden? Keine Bischöfe mehr zu Tätern werden? Denn wenn heute von der „Täterinstitution Kirche“ gesprochen wird – manche sprechen inzwischen gar von der „Verbrecherorganisation Kirche“ –, meint man damit nicht mehr nur die Täter, die sexuelle Gewalt an Minderjährigen ausgeübt haben, sondern auch die Bischöfe, die nicht angemessen mit den Tätern umgegangen sind und damit ermöglicht haben, dass die Täter weiterhin im Kontext der Kirche ihr missbräuchliches Verhalten ausüben konnten.

Dazu kommt: Die Opfer wurden systematisch übersehen. Das Wohl und Ansehen der Kirche standen über allem und rechtfertigten offensichtlich jede Maßnahme, die anscheinend dazu beitrug, das zu gewährleisten. Die betroffenen Opfer, ihr Leid wurden nicht gehört. Es mangelte offensichtlich an der Sensibilität, der Empathie, dem Mitleiden.

Das ist und bleibt entsetzlich und unfassbar. Es offenbart, ein welch schreckliches und menschenverachtendes System die Kirche sein kann. Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu relativieren. Daher auch der Buchtitel. Weil es sich tatsächlich um Verbrechen handelte und um Verbrechen handelt, was im Kontext von Kirche in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist und bis heute immer noch geschieht. Da gibt es immer noch diese Scheu und inzwischen auch schon wieder eine gewisse Zurückhaltung, das verbrecherische Verhalten von Priestern und derer, die das deckten, nicht als ein Verbrechen zu benennen, weil es sich um Priester und Bischöfe handelt. Aber genau darum geht es ja: sich nicht länger von Personen blenden zu lassen mit dem Ergebnis, dass wir ihr Verhalten verharmlosen, die, wie es im Titelbild so treffend zum Ausdruck gebracht wird, fromm daherkommen, hinter dieser Tarnung sich aber Verbrecher befinden.

Wie unheimlich schwer das sein kann, haben wir in der Vergangenheit erlebt und erleben wir auch heute noch. Können wir es doch auch heute noch kaum fassen, wenn da plötzlich ein Kardinal in Handschellen vorgeführt wird. Auf der anderen Seite kann, wenn man als Verbrechen bezeichnet, was ein Verbrechen ist, Verbrecher nennt, wer etwas verbrochen hat, vermieden werden, in jedem Priester, in jedem Bischof gleich einen Täter zu sehen. Darunter leiden ja mit Recht viele Priester und Bischöfe und damit wird man den meisten Priestern und Bischöfen nicht gerecht.

Ich möchte mit diesem Buch aufrütteln, weitergehende Konsequenzen aufzeigen, die sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. Ich möchte Mut machen, angesichts der dramatischen Situation, in der sich gegenwärtig die katholische Kirche befindet, entschiedener konkrete, auch radikale Schritte zu unternehmen, die wirklich zu einer Wende führen. Das aber wird nur im Miteinander auf Augenhöhe möglich sein, nicht im Gegeneinander, bei dem man sich gegenseitig Missbrauch des Missbrauchs vorwirft.

Wenn es überhaupt noch möglich ist und es nicht längst zu spät ist. Denn, Tatsache ist: Was wir augenblicklich erleben, ist der Zusammenbruch eines kirchlichen Systems, das sich überlebt hat. Ein Zusammenbruch, der offensichtlich nicht mehr aufzuhalten ist, mag man sich auch noch so vehement dagegenstemmen. Dass es mit der Kirche weitergeht, ist nicht selbstverständlich und gottgegeben. Auch Dinosaurier sterben aus.

Was jetzt ansteht, ist ein Reinigungsprozess, dem die Kirche sich ohne Wenn und Aber stellen muss, soll es weitergehen mit ihr. Mit all den Schmerzen, aber auch Chancen, die damit verbunden sind. Dieser Reinigungsprozess betrifft alle, denen die Kirche weiterhin etwas bedeutet, die sogenannten Kleriker nicht weniger als die sogenannten Laien. Bei diesem Reinigungsprozess wird und muss noch vieles von der Kirche abfallen, was sich bei ihr als ein falsches Licht erwiesen hat. Sie wird sich auf einen Weg machen müssen, auf dem weiterhin viele Menschen irgendwann entscheiden werden, dass sie aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht länger bereit sind, diesen Weg mitzugehen, und deshalb die Kirche verlassen. Der Schrumpfungsprozess, in dem wir uns befinden, wird weitergehen und sich sogar noch intensivieren. Dabei geht es nicht darum, wie Kardinal Marx befürchtet, dass am Ende eine kleine Schar der Reinen übrigbleibe. Vielmehr geht es darum, dass die Kirche endlich wieder, so Papst Franziskus, „Biss“ bekommt. In ihr, das ist meine Erwartung an den Reinigungsprozess, endlich wieder das wahre Licht leuchtet, der in der Kirche das Sagen hat, von dem es im Neuen Testament heißt, dass er die Liebe ist. Dahin ist es ein langer Weg, an dessen Ende hoffentlich die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederhergestellt ist.

Heribert Handwerk danke ich für die gute Zusammenarbeit bei diesem Projekt.

Ich widme dieses Buch den Frauen und Männern, die bis heute unter den Folgen sexualisierter Gewalt durch Priester leiden, und den Journalisten, die sich in den vergangenen Jahren in besonderer Weise für die Opfer starkgemacht haben, unter ihnen Christine Jeske von der Main-Post, Matthias Drobinski von der Süddeutschen Zeitung und Heike Vowinkel von der Zeitung Die Welt. Ohne sie wäre die Mauer des Schweigens, hinter der sich die Kirche lange versteckt hat, nicht geschleift worden.

Wunibald Müller

TEIL I

Rückblick undBestandsaufnahme – was istbisher geschehen?

Es ist wie ein Déjà-vu

Es ist ein Weinen in der Welt,

als ob der liebe Gott gestorben wär,

und der bleierne Schatten, der niederfällt,

lastet grabesschwer.

Diese Worte von Else Lasker-Schüler (2004,104) aus ihrem Gedicht „Weltende“ fallen mir ein, wenn ich an die augenblickliche Situation – wir befinden uns im Jahr 2019 – der katholischen Kirche angesichts der Missbrauchskrise denke. Was mich dabei besonders bestürzt, ist, dass es mir nicht das erste Mal so ergeht, sondern wieder einmal. Es ist wie ein Déjà-vu, dem man anscheinend nicht entweichen kann. Ich habe das in den Jahren 1995, 2002, 2010 in den USA und hier in Deutschland erlebt. Es werden Fälle sexualisierter Gewalt bekannt. Ein Aufschrei erfolgt. Es werden Konsequenzen angekündigt, manche auch vorsichtig umgesetzt. Mit der Zeit legt sich die Empörung. Die anfängliche Bereitschaft, etwas grundsätzlich zu ändern, weicht mit der Zeit der Macht des Alten, Gewohnten, des „so wie bisher“.

Wer sich ernsthaft mit der Thematik befasst hatte, konnte nicht wirklich überrascht sein von den Ergebnissen der MHG-Studie, dem im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführten Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (Dreßing et al., 2018). Es wurde bestätigt, was längst bekannt war. Auch den Bischöfen, wenn sie es nicht vorgezogen hatten, der Wirklichkeit lieber nicht ins Gesicht zu schauen.

Immerhin haben, so mein Eindruck, inzwischen viele unter den Bischöfen, zumindest im deutschsprachigen Raum, erkannt, dass die katholische Kirche sich in einer existentiellen Krise befindet. Auch hat vor allem unter den Gläubigen eine Erschütterung stattgefunden und ist noch voll im Gange, die die Kirche in ihren Grundfesten ins Wanken gebracht hat. Die katholische Kirche befindet sich in einer Situation, die an die Zeit vor der Reformation erinnert, ja, so der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, mitunter sogar noch dramatischer ist. Die Glaubwürdigkeit der Kirche, einst ihr höchstes Kapital, ist nahezu aufgebraucht. Geschieht nicht eine radikale Umkehr, befindet sich die Kirche auf dem besten Weg, mit Karacho an die Wand zu fahren.

Wer angesichts dieser Situation über Konsequenzen nachdenkt, darf nicht bei den unmittelbaren Konsequenzen, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, stehen bleiben. Man denke etwa an die Leitlinien, die Präventionsordnung, die zunehmende Praxis, der Opferperspektive vor jeder Rücksichtnahme auf die Institution oder die Täter absoluten Vorrang einzuräumen. Hier hat die Kirche dazugelernt. Die Kirche bzw. die Verantwortlichen der Kirche gehen – zumindest in der Regel – auf die betroffenen Opfer zu. Es gibt klare Regelungen, wie gegenüber den Tätern vorzugehen ist, wobei hier auch noch manche Fragestellungen auftauchen, wenn es z. B. darum geht, wie im Einzelfall mit den Tätern umgegangen werden soll. Hier ist seitens der Diözesen das Bemühen festzustellen, noch mehr Verantwortung als bisher für sie wahrzunehmen. Ich denke z. B. an das Dekret des Münchner Erzbischofs zur „Führungsaufsicht für Kleriker, denen wegen schwerwiegender Delikte die Ausübung der mit der Weihe verbundenen Befugnisse untersagt ist“.

Das Bemühen, alles Menschenmögliche zu tun, um Missbrauch im Kontext von Kirche zu verhindern, ist deutlich erkennbar. Auch wenn noch viele weitere Fragestellungen, Klärungen, Verbesserungen, die u. a. die angemessene finanzielle Anerkennung für das den betroffenen Opfern zugefügte Leid oder die Zusammenarbeit der Kirche mit staatlichen Stellen bei der Strafverfolgung der Täter betreffen, anstehen. Doch insgesamt befindet man sich in diesem Bereich auf einem guten Weg. Das alles muss weiter gefestigt, ständig weiterentwickelt und nicht nur in unseren Breiten, sondern weltweit immer mehr umgesetzt werden.

Das gilt vor allem auch für die osteuropäischen Länder, wie z. B. Polen, vor allem aber auch Afrika und Asien, wobei, so Myriam Wijlens, es nicht ganz richtig ist, dass Letztere in Sachen Missbrauch weiße Flecken sind. Sie verweist auf sehr fortschrittliche Projekte in Afrika und Asien, die bei der Aufarbeitung teilweise deutlich weitergehen als das, was wir aus Amerika und Europa kennen. So gibt es z. B. ein Pilotprojekt, bei dem Missbrauchsopfer sich als Gruppe zusammenschließen, die von der Sambischen Bischofskonferenz unterstützt und bei der Aufarbeitung direkt beteiligt werden. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland noch nicht. Hier kann man in Deutschland also auch von anderen Ländern noch dazulernen.

Ein Segen, dass der Skandal ans Licht gebracht worden ist

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass der Missbrauchsskandal nicht erst begonnen hat, seitdem wir von den Verbrechen, die im Kontext von Kirche geschehen sind, wissen. Wir leben seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten mit diesem Skandal. Dabei können wir das ganze Ausmaß des Leids und des Schadens, die davon ausgegangen sind und ausgehen, noch gar nicht ermessen. Es geht auch um die subtilen Auswirkungen, die ein solches Verhalten auf die Kirche, die Seelsorge, die einzelnen Pfarreien, die Theologie, betroffene Familien usw. hatte und hat.

So gesehen, ist es ein Segen, dass der über viele Jahrzehnte lange Skandal endlich – zumindest zum Teil – aufgedeckt worden ist. Aus dem Dunkel ins Licht gebracht worden ist. Denn dadurch wurden die Voraussetzungen geschaffen, die notwendig waren und sind, um die Konsequenzen zu ziehen, die sich daraus ergeben. Einige sind zumindest zum Teil bereits gezogen worden und die gilt es jetzt auch konsequent umzusetzen. Dazu zählen:

endlich die Opfer ernst nehmen. Sie stehen an erster Stelle;

nicht mehr wegschauen. Es muss in der Kirche eine Kultur geschaffen werden, in der weder Platz ist für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen noch für einen Machtmissbrauch, der Vertuschen ermöglicht;

nicht mehr bagatellisieren. Sich nicht mehr blenden lassen vom Amt. Klar aussprechen, dass sexualisierte Gewalt durch Kleriker ausgeübt wurde und wird, Bischöfe sich schuldig gemacht haben, indem sie sexuellen Missbrauch im Kontext der Kirche vertuscht haben;

noch genauer hinschauen. Wer ist für einen kirchlichen Beruf geeignet? Sich durch das Nachlassen von Berufungen nicht verleiten lassen, weniger sorgfältig bei der Auswahl zu sein.

Andere Konsequenzen müssen noch gezogen werden, meint man es wirklich ernst mit der Prophylaxe sexualisierter Gewalt in der Kirche; dazu zählt:

die tieferen Ursachen für sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext ernst nehmen und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Dabei geht es vor allem um die Abschaffung des Pflichtzölibats, ein Ende der negativen Einstellung gegenüber Homosexualität und homosexuellen Menschen, ein Ende der Diskriminierung von Frauen durch Verweigerung von Führungspositionen in der Kirche. Ein Ende der unseligen Trennung zwischen Kleriker und Laien, ein Umbau des klerikalen Systems in ein Netzwerk kollegialer Zusammenarbeit.

Das aber steht unbedingt an, will man einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Verbrechen in der Kirche, die in einem Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt stehen, zu vermeiden.

Sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext findet weiterhin statt

Denn, so Harald Dreßing (2019, 261), der Leiter der MHG-Studie, sexueller Missbrauch findet in der Kirche weiterhin statt. Es gibt keinen Hinweis darauf, „dass sich seit 2009 die Quote beschuldigter Priester signifikant verringert hat“. In einer persönlichen Mitteilung an mich schreibt er: „[…] es gibt ja leider nach wie vor auch neue Fälle, die sich jetzt ereignen, und die Reaktion der Kirche darauf ist m. E. fatal; man preist die Prävention und behauptet, es sei alles ein Problem vergangener Zeiten, was leider nicht stimmt.“ Das lässt mich nicht nur aufhorchen, sondern alarmiert mich auch. Zeigt es doch, dass längst nicht alles getan ist. Die eingeleiteten Maßnahmen nicht dort greifen, wo sie greifen müssten, sollen sie bewirken, dass sexualisierte Gewalt in der Kirche verhindert wird.

Harald Dreßing und seine Mitarbeiter plädieren dafür, dass Priester verstärkt in die kirchlichen Präventionsprogramme einbezogen werden. Das ist sicher eine Möglichkeit, die Wirksamkeit der in den Leitlinien und im Präventionsprogramm vorgestellten Maßnahmen zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt zu verstärken. Tatsächlich gibt es ja auch immer wieder Berichte, wonach Priester sich besonders schwertun, an solchen Programmen teilzunehmen; das als überflüssig oder auch als eine Zumutung erachten. Auf der anderen Seite höre ich aber auch von Präventionsverantwortlichen, dass sie keinen Unterschied feststellen können zwischen Klerikern und anderen hauptamtlichen oder ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, was die Bereitschaft betrifft, an solchen Programmen teilzunehmen.

Es mutet mich angesichts dieser Daten eigenartig an, wenn ich inzwischen immer öfters höre, dass es nur noch wenige Fälle sexuellen Missbrauchs gebe, und der Eindruck erweckt wird, man habe inzwischen viel, vielleicht sogar genug getan; vor allem aber dass die Kirche im Vergleich zu anderen Einrichtungen wie Schulen oder sportlichen Organisationen hinsichtlich der bisher beschlossenen und durchgeführten Präventionsmaßnahmen recht gut dastehe. Ganz abgesehen davon, dass ich solche Vergleiche für recht problematisch halte, scheint hier etwas nicht richtig zu laufen, nicht angemessen bedacht und berücksichtigt zu werden. Oder einfach – ich werde nicht müde, das immer und immer wieder aufs Tapet zu bringen – nicht ernst genommen zu werden.

Kann es also nicht auch sein, dass deswegen die Zahl der Täter nicht signifikant zurückgegangen ist, weil die tieferliegenden Gründe für den sexuellen Missbrauch noch nicht behoben worden sind? Leitlinien und Präventionsordnung sind wichtige Instrumente bei dem Versuch, sexualisierter Gewalt in der Kirche zu begegnen. Allein, sie tangieren nur die Oberfläche. So ist es wichtig, in der Kirche eine Atmosphäre und eine Situation zu schaffen, die die Sensibilität für potentielle sexualisierte Gewalt fördern. Bei der Schulung, die dazu beitragen soll, müssen alle kirchlichen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit einbezogen werden, also neben den Priestern auch die Personen, die nicht zumindest in erster Linie zur Risikogruppe der Täter gehören, wie etwa die Kindergärtnerinnen oder die Eltern bei Firmvorbereitungsgruppen. Darüber hinaus müssen aber die die eigentliche Risikogruppe – also die Priester – betreffenden Maßnahmen, die dazu beitragen können, sexualisierte Gewalt zu reduzieren oder gar zu verhindern, umgesetzt werden. Geschieht das nicht, bleibt das alles nur eine halbe Sache oder sogar weniger als eine halbe Sache.

Die Kirche hat längst noch nicht genug getan

Um welche Maßnahmen und Konsequenzen es sich dabei handelt, ist nicht erst seit der MHG-Studie, sondern seit Jahrzehnten bekannt. Neben anderen habe ich in den zurückliegenden Jahren, ja man kann sagen Jahrzehnten, gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, zum ersten Mal bereits 1996 in der Herder-Korrespondenz. Danach gibt es u. a. einen Zusammenhang zwischen dem hohen Vorkommen sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche und dem Zölibat, der Einstellung der Kirche zur Homosexualität, homosexuellem Verhalten und homosexuellen Priestern, der Morallehre der katholischen Kirche im Bereich menschlicher Sexualität und schließlich dem Fehlen von weiblichem Führungspersonal in der Kirche und vor allem dem Klerikalismus. Sie sind nicht die Ursache dafür, können aber die Ausübung sexualisierter Gewalt mit verursachen, sie begünstigen und stellen somit einen Risikofaktor dar.

Die Betonung liegt dabei auf Risikofaktor. Wenn ich aber weiß, dass etwas mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, muss ich besonders gut darauf achten, dass dieses Verhalten, diese Einstellung die Ausübung sexualisierter Gewalt, also die Ausübung eines Verbrechens, nicht begünstigt. Ich muss weiter alles tun, was dazu beiträgt, das zu verhindern, bis dahin, dass ein Verhalten, eine Praxis, eine bestimmte Einstellung geändert wird. Solange in diesem Bereich keine entscheidenden Veränderungen erfolgen, vor allem keine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus, der sexualisierte Gewalt in der Kirche erleichterte und zu deren Verharmlosung beitrug, stattfindet, wird das Problem sexualisierter Gewalt in der Kirche nicht angemessen angegangen, geschweige denn gelöst werden.

Damit die Kirche aber so weit kommt, sie nicht Gefahr läuft, sich wieder schuldig zu machen, müssen aber auch endlich die notwendigen weitergehenden Konsequenzen gezogen werden, die sich aus der Krise ergeben. Sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem missbräuchlichen Verhalten von Mitarbeitern der Kirche und dem Vertuschen eines solchen Verhaltens nicht um Bagatellfälle, sondern schwerwiegende Verbrechen und Verfehlungen handelt, kann helfen, endlich bereit zu sein, diese weitergehenden Konsequenzen anzugehen.

Doch auch und selbst das reicht inzwischen nicht aus, um die Schäden, die die Erschütterung, welche die Missbrauchskrise ausgelöst hat, in der Kirche angerichtet hat, zu beheben, den immensen Vertrauensverlust, den die Kirche erlitten hat, wiederherzustellen. Die Missbrauchskrise hat nämlich deutlich gemacht: An der Kirche selbst ist etwas faul. Der üble Geruch, der von sexualisierter Gewalt in der Kirche und dem lieblosen Umgang der Bischöfe mit den betroffenen Opfern ausging, kommt aus dem Innersten der Kirche. Er kommt von der Fäulnis, die die Kirche befallen hat, die in der Gestalt des klerikalen Systems ihre stärkste Ausprägung gefunden hat und bis heute darin ihren Ausdruck findet. Denn, so muss man sich fragen, was ist das für ein System, in dem Personen, die Verantwortung tragen, über Jahrzehnte den Schrei der Betroffenen nicht gehört haben, nicht hören wollten, unterdrückt haben? Deren Herz sich nicht vor Schmerz gekrümmt hat angesichts deren Schicksale?

So hat die Missbrauchskrise die Kirche, die mit dem Pontifikat von Papst Franziskus dabei war, sich etwas von der Schreckensherrschaft seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die von einer innerkirchlichen Atmosphäre der Angst und der Sanktionen gegen missliebige Theologen geprägt war, zu erholen, wieder eingeholt und gezwungen, sich mit ihrer unerlösten Seite auseinanderzusetzen. Das heißt, die weitergehenden Konsequenzen, die u. a. den Pflichtzölibat, die Einstellung zur Homosexualität, die Morallehre der Kirche, die Rolle der Frauen und vor allem das klerikale System der Kirche betreffen, sind längst auch ohne die Missbrauchskrise fällig. Diese hat lediglich mit dazu beigetragen, dass ihre Notwendigkeit noch einmal deutlicher wird, und gezeigt, wie notwendig es ist, endlich die sanatio in radice, die gründliche, radikale Erneuerung der Kirche, in den Blick zu nehmen. Dem Reinigungsprozess nicht länger aus dem Weg zu gehen, der die Voraussetzung dafür ist, dass es mit der Kirche weitergeht. So weit ist aber die Kirche noch lange nicht, so sehr und so gerne man das alles am liebsten hinter sich lassen und nach vorne schauen will. Jetzt gilt es daher zunächst, so schwer das vielen in der Kirche fallen wird und fällt, den Blick in diesen Abgrund, der Unfassbares ans Tageslicht gebracht hat, zu wagen und auszuhalten. Denn was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden.

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