So schöne blaue Augen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
So schöne blaue Augen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Wolfgang Wagner

SO SCHÖNE BLAUE AUGEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Wolfgang Wagner, geboren 1944, war bis 2008 Lehrer für Englisch und Französisch an einem Düsseldorfer Gymnasium.

Er lebt mit seiner Frau in Hilden, bei Düsseldorf.

Sie haben drei erwachsene Kinder.

Vom Autor sind bereits im Engelsdorfer Verlag erschienen:

Mathias, das Mädchen und das Meer (2012)

Ein Bunker voller Lügen (2014)

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

So schöne blaue Augen

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Wolfgang Wagner

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Auf dem Weg zum Speisesaal kam er am Raum C vorbei, wo bald die Schwerstbehinderten gefüttert würden, und am Raum C, wo einige demente Mitbewohner noch selbstständig aßen. Und er fragte sich jedes Mal, wann es bei ihm so weit sein würde. Im Saal angekommen, hatte er die dunklen Gedanken vergessen. Er grüßte die Frühstückenden mit einem leichten Nicken, umarmte diese, gab jenem einen Klaps auf die Schulter.

»Alles klar?«

»Immer doch.«

Er ging auf seinen gewohnten Tisch zu und erwartete, dort Ellie sitzen zu sehen. Aber sie war noch nicht da; wahrscheinlich brauchte sie noch eine gewisse Zeit im Bad. Dafür saß ein Mann dort, der appetitlos in sein halbes Brötchen biss.

»Guten Morgen!«

Der andere schaute kurz auf, gab aber keine Antwort.

»Sind Sie neu hier?«

Keine Antwort, nur ein scheuer Blick. Er versuchte, etwas lauter zu sprechen.

»Ist das Ihr erstes Frühstück hier?«

»Ja, das kann man so sagen.«

»Ich heiße Schmied, Gerhard Schmied.«

Zum Glück hatte er sich daran erinnert, dass man ein Ein-Euro-Stück für den Einkaufswagen benötigte. Seine Vorräte waren aufgebraucht und er brauchte dringend etwas zu essen und zu trinken. Er kaufte Nescafé, Milch, Marmelade und Margarine zum Frühstück. Brot würde er lieber frisch beim Bäcker kaufen. Bananen und zwei Äpfel. Und zwei Fertiggerichte. In den nächsten Tagen würde er sich sicherlich nichts in der Küche zubereiten. Er steuerte auf die Getränke zu, als er einer Mitarbeiterin in die Hacken fuhr. Sie schrie kurz vor Schmerz auf.

»Tut mir leid. Haben Sie sich verletzt?«

»Nein, geht schon.«

Er schätzte sie auf Mitte dreißig und sie hatte eine gute Figur. Was ihm am meisten auffiel, war ihr hübsches Gesicht. Aber in ihren Augen sah er Tränen.

»Sie haben Schmerzen, Sie haben doch Tränen in den Augen.«

Er schaute auf ihr Namensschild und sagte: »Wenn etwas zurückbleibt, Frau Nieland, sagen Sie Ihrem Chef Bescheid. Hier ist meine Karte. Wahrscheinlich komme ich in der nächsten Zeit häufiger hier einkaufen.«

»Wird schon gehen«, antwortete sie, steckte die Karte in die kleine Tasche ihres Arbeitskittels und wischte die Tränen aus ihren Augen.

2013

Er war heilfroh, dass er mit den übrigen Mitarbeitern der Firma wenig zu tun hatte. Er war zuständig für die Wartung der Computer, bestellte neue Software bei großen Firmen wie PAS und dann musste er sie für seine Firma ›customize‹, wie es im Fachjargon hieß. Selten kam jemand in seinen Raum. Wenn seine Augen müde wurden, machte er eine Pause, schaute aus dem Fenster und blickte in den schönen Park. Er bewunderte die Enten, die so elegant auf dem Wasser landen konnten. Und er machte ein paar Übungen, damit seine Glieder nicht ganz einrosteten.

Zum Mittagessen ging er in die Kantine. Dort verabredete er sich regelmäßig mit seinem einzigen Freund, Peer. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt, obwohl sie verschiedene Fachrichtungen gewählt hatten. Wenn Peer auf Geschäftsreise war, verzichtete er zumeist auf das Mittagessen und aß sein mitgebrachtes Butterbrot.

Sie stand vor dem Spiegel in ihrem Badezimmer. Sie tupfte ein bisschen Rouge auf ihre Wangen und diesmal Bienenwachs auf ihre trockenen Lippen. Jeden Morgen dankte sie dem Herrgott, wieder aufgewacht zu sein. Das war nicht selbstverständlich in ihrem Alter. Viele ihrer Freundinnen waren schon gestorben. Sie konnte noch recht schnell gehen, sich bücken und auch noch tanzen, wenn sich die Gelegenheit bot.

Sie war froh, dass sie rechtzeitig ihr Haus verkauft hatte. Mit dem Geld hatte sie sich eine geräumige Eigentumswohnung im Seniorenzentrum Frieden gekauft. Die meisten wohnten im Haupthaus zur Miete. Meistens ging sie zu den Mahlzeiten dorthin, was bei Regen oder Schnee etwas unangenehm war, musste sie doch einen kurzen Weg im Freien gehen. Aber sie nahm die Mahlzeiten lieber mit anderen ein und mit einigen verband sie eine Art Freundschaft.

Die Angebote im Zentrum waren vielfältig und fast täglich war sie unterwegs: zur Wassergymnastik, zur Meditation, zum Ausdauertraining. Sie lächelte, als sie sich zu Ende gekämmt hatte.

Mit Gesundheit hatte der liebe Gott bei ihr nicht gegeizt, aber in Sachen Liebe. Sie hatte viele falsche Entscheidungen getroffen, gemäß dem Sprichwort »Hinterher ist man schlauer«. Das war wohl wahr.

Sie nahm den Wohnungsschlüssel von der Anrichte und ein Päckchen Papiertaschentücher. Sie wollte sich nun das Frühstück und vor allem den Kaffee schmecken lassen.

2000

Man konnte Lou Begas Mambo No.5 hören und die meisten Jecken tanzten wie wild.

»Wollen wir uns da vorn noch ein Alt holen, Dieter?«

»Okay! Wo?«

Sie schlängelten sich durch die johlende Menge, bis sie den Bierstand erreicht hatten. Vor ihnen standen zwei junge Frauen. Die eine trug ein süßes Fledermauskostüm, die andere sah wie eine Wildwestreiterin aus. Peer tippte der Fledermaus auf die Schulter, sie drehte sich um.

»Helau! In welcher Fakultät seid ihr?«

Die Fledermaus bezahlte, nahm das Bier und schrie zurück: »Helau!«

Peer und Dieter hatten nunmehr auch ein Alt ergattert und Peer ging auf die beiden zu.

»Prost! Welche Fakultät?«

»Wir sind zwei Viertelmedizinerinnen.«

»Und das heißt?«

»Bist wohl auch an Karneval sehr neugierig.«

»Immer, bei hübschen Mädchen.«

Mittlerweile konnte man Britney Spears’ Baby, One More Time hören.

»Arzthelferinnen.«

»Dann könnt ihr ja die Erstversorgung übernehmen, wenn ein Besoffener umkippt.« Die vier tranken einen Schluck Bier.

»Peer. Und wie heißt du?«

»Nina. Und der Priester da?«

»Das ist mein Freund Dieter.«

»Ist er etwas schüchtern?«

»Nein, das sieht nur so aus.«

»Wollen wir tanzen?«

Dieter zog sich immer weiter zurück, ohne Ninas Freundin anzusprechen.

»Du tanzt gut, nein ausgezeichnet. Trinkst du noch mit mir ein Alt?«

»Nein, ein Wasser. Morgen ist in der Praxis die Hölle los.«

»Ich möchte dich wiedersehen, Nina.«

»Ich bin doch keine Akademikerin.«

»Na und?«

Peer und Dieter brachten Nina und ihre Freundin nach Hause, wobei Dieter nicht ein Wort sagte. Peer gab den beiden einen Kuss auf den Mund.

»Ist doch Karneval.«

Die meisten, die ihn kannten, hielten ihn für verrückt, auch einige seiner Freunde. Er lebte allein in einem kleinen Haus am Waldrand. Wenn er in seinem Garten arbeitete, konnte er auf einen Reiterhof mit den Stallungen schauen. Er war kein Selbstversorger, aber er baute ein bisschen Obst und Gemüse an.

Als die Kinder noch bei ihnen waren, lebten seine Frau und er in einer großen Stadtwohnung. Aber sie hatten immer von einem freieren Leben geträumt und schließlich das kleine Haus gekauft. Seine Frau hatte leider die neue Freiheit nur noch ein paar Jahre genießen können.

Als sie noch lebte, hatten sie eine Ziege, ein Schaf und ein paar Hühner. Ihm reichte sein Hund Caesar und seine Katze Chat. Den Kater sah er eigentlich nur, wenn er Hunger hatte, aber mit Caesar ging er täglich dreimal spazieren. Caesar konnte nach Herzenslust durch den Wald streifen und er seinen Gedanken nachgehen.

Warum die anderen ihn für ein bisschen verrückt hielten, hatte mehrere Gründe. Während Marion sehr darauf geachtet hatte, dass alles blitzblank war, herrschte nunmehr ein großes Durcheinander, in dem er aber alles sofort fand, was er suchte. Darüber hinaus gab es im Haus keinen Fernseher, keinen Computer, keine Zeitungen. Aber seine Kinder hatten auf einem Handy bestanden. So konnten sie ihn per Telefon erreichen und er hatte den Eindruck, dass sie sich absprachen, weil jeden Tag eins von ihnen anrief.

 

Wenn er nicht mit seinem Hund unterwegs war, arbeitete er im Garten, sofern das Wetter es zuließ. Er saß viel im Freien und las die Bücher, die er schon früher einmal gelesen hatte. Manchmal brachte eines seiner Kinder ein »neues« Buch mit, das er dann auch brav las. Er hatte noch einen alten CD-Player, den er bei schlechtem Wetter benutzte, wenn er sich drinnen aufhalten musste.

Abends gönnte er sich ein Pils oder ein Glas Côtes du Rhône und eine Pfeife oder auch zwei. Andere saßen dann vor der Glotze oder vor dem Monitor ihres Computers. Er war sich sicher, dass all diese scheußlichen Nachrichten aus aller Welt ihn nicht glücklicher machen würden und helfen konnte er in den Kriegsgebieten auch nicht. Wenn ein Bettler an seine Tür kam, war das etwas anderes. Er bat ihn herein, sprach mit ihm und machte ihm Kaffee. Dann gab er ihm meistens fünf Euro, für alle Fälle. Ihm fehlte eigentlich nichts, nur Marion, mit der er über vier Jahrzehnte verheiratet gewesen war.

2000

Es klingelte dreimal, bis sie den Hörer abnahm.

»Hallo! Hier Nina Schmied.«

»Peer.«

Sie war überrascht und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie antwortete: »Oh, du! Ich hatte gar nicht erwartet, dass du überhaupt anrufst. Es war doch Karneval.«

»Ich wollte eigentlich auch nur fragen, ob du dir heute Morgen das Aschenkreuz in der Kirche abgeholt hast.«

»Ich bin evangelisch.«

»Ich möchte dich wiedersehen, Nina.«

Es dauerte wieder eine gewisse Zeit.

»Ich dich auch. Wann?«

»Da gibt es ein kleines Problem. Dieter und ich fahren eine Woche zum Skilaufen.«

»Ist das nicht der Priester?«

»Genau der.«

»Warum seid ihr nicht direkt nach Ende des Wintersemesters gefahren?«

»Ich musste noch ein paar Klausuren schreiben.«

»Seid vorsichtig! Denkt an das furchtbare Lawinenunglück in Galtür im letzten Jahr!«

»Das bedeutet ja, dass du dir um mich Sorgen machst. Du willst mich wirklich wiedersehen. Ich rufe dich an, wenn wir zurück sind.«

»Ich freue mich drauf.«

Die Damen und Herren warteten an ihren Tischen auf das Mittagessen. Es gab Bratwurst, Rotkohl und Kartoffeln. Die Vegetarier konnten an das Salatbüfett gehen. Am Tisch, an dem Gerhard und Ellie saßen, wartete auch der Neue auf das Essen.

»Kennt ihr Tina Teubner?«

»Wohnt sie auch hier bei uns?«

»Nein, das ist eine Künstlerin, eine Kabarettistin. Sie spielt auch ausgezeichnet Geige. Ich habe sie früher mit meiner Frau gesehen und wir waren begeistert.«

»Und warum erwähnst du sie jetzt?«

»Die Kulturamtsleiterin hat sie für eine Seniorenvorstellung in der Stadthalle engagieren können.«

Ellie war begeistert, sie liebte Veranstaltungen aller Art. Ihr Motto war ›Hauptsache was los!‹.

»Und Sie, Herr …, haben Sie auch Interesse?«

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er antwortete: »Ich heiße übrigens Norbert Busch. Muss ich mir noch überlegen.«

»Ihr Programm heißt übrigens ›Männer brauchen Grenzen‹. Ein etwas merkwürdiger Titel, aber wir werden sehen.«

Inzwischen war das Mittagessen aufgetragen worden.

»Guten Appetit!«

»Einen guten!«

Er brauchte unbedingt etwas Nachschub, damit er zu Hause nicht verhungerte. Mittags ging er zuweilen mit einem Mitarbeiter in die kleine Kantine oder in eine nahe gelegene Pizzeria. Nachdem er ein paar Tomaten und Bananen abgewogen hatte, sah er sie, sie, die er vor ein paar Tagen verletzt hatte. Er schob seinen Einkaufswagen etwas langsamer, um seinem Gedächtnis die Chance zu geben, sich an ihren Namen zu erinnern.

»Hallo, Frau Nieland! Haben Sie noch Schmerzen?«

Sie war gerade dabei, die Becher Joghurt einzuordnen. Sie schaute auf und sagte: »Guten Morgen, Herr …!«

Seit dem Zusammenstoß hatte sie noch nicht auf seine Visitenkarte geschaut.

»Ungemein, Peter Ungemein.«

»Nein! Danke der Nachfrage!«

»Mir wäre gerade etwas Schlimmeres passiert.«

»Erzählen Sie!«

»Bei der Post wollte ich über den Zebrastreifen gehen. Aber der Fahrer stoppte nicht. Da er später dann anhielt, habe ich ihn freundlich zur Rede gestellt. Er pöbelte direkt los und fragte mich, ob ich schon am Morgen getrunken hätte. Zum Schluss nannte er mich ›Penner‹ und ging mit seinem Brief zur Post.«

»Sie ein Penner!«

»Manchmal weiß ich wirklich nicht, woher die ganzen Aggressionen kommen.«

»Was meinen Sie, was hier im Supermarkt manchmal los ist! So, ich muss dann weitermachen.«

Er schaute in ihre hübschen, aber traurigen Augen.

»Bis bald!«

2013

Wie an jedem Freitagabend sah er sich zur Entspannung einen Pornofilm an und plötzlich erinnerte er sich an eine, die letzte Szene im FKK-Club. Seine Eltern waren begeisterte FKKler gewesen und sein Bruder Martin und er mussten von klein auf mit. Aber zumeist machte es auch Spaß, mit den anderen Kindern nackt herumzulaufen, zu spielen und zu schwimmen. Außerdem war es mehr als interessant, heimlich die nackten Erwachsenen anzuschauen, die prallen Brüste der meisten Frauen und da unten so viele Haare. Es war üblich, dass sich alle Erwachsenen im Club duzten, aber plötzlich kam der Vorsitzende auf ihren Vater zu und sagte zu ihm, »Ich muss mit Ihnen reden, Herr Busch.«

Von da an gingen sie nie mehr in den Club, und als sie ihre Mutter nach dem Grund fragten, antwortete sie zögernd, »Ihr seid den anderen zu laut.« Sie protestierten, wie das kleine Jungen so tun können, aber es nützte nichts.

Als er älter war, rückte seine Mutter mit der Wahrheit heraus. Ihr Vater hatte mit fast allen Frauen rumgemacht, was die anderen Männer (und ihre Mutter) nicht so gut vertragen konnten; außerdem war es laut Clubsatzung untersagt.

Seit der Zeit hatte er irgendwie den Spaß an FKK verloren. Peer wollte einmal mit ihm in ein FKK-Schwimmbad gehen, was er aber irgendwie abwenden konnte.

2014

Er wollte sich auch im Alter nicht gehen lassen. Das hatten Marion und er auch nie getan. Er stand sommers wie winters gegen 7 Uhr auf, machte sich Kaffee und wärmte sich ein Körnerbrötchen auf dem Toaster auf. Dann stellte er Chat etwas Milch und etwas zu fressen hin.

Er zog sich seine Jacke über, nahm die Leine und rief: »Komm, Caesar!«

Er kam zur Haustür gerannt und konnte es kaum erwarten, die frische Luft zu schnuppern. Morgens traf er am Feld und im Wald nur ein paar Jogger, andere Hundebesitzer und die eine oder andere Reiterin. Die meisten Hundebesitzer kannte er und er tauschte sich gern mit ihnen aus. Wenn sie über Geschehnisse in der Welt berichteten, konnte er zwar nicht mitreden, aber er hörte mit Interesse zu. Wenn aber jemand begann, über seine Krankheiten zu reden, fand er immer schnell eine Ausrede, sich loszueisen.

»Ich muss jetzt Caesar suchen. Bis bald!«

Einerseits genoss er die Natur, den Duft des Waldes, aber seine Gedanken wanderten bald in Richtung Marion. Sie waren glücklich gewesen, mit den Kindern und später auch ohne. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen und sie konnten beide über sich selbst lachen.

»Caesar, wo bist du?«

2000

»Wie hast du es eine Woche mit dem Priester ausgehalten?«

Peer und Nina saßen in einem einfachen Restaurant und hatten gerade zwei Bier bestellt.

»Du meinst mit Dieter! Sehr gut.«

»Kann er denn überhaupt reden?«

Sie schauten in die Speisekarte und Peer blickte auf: »Natürlich. Er ist ein sehr verlässlicher Freund.«

»Und er sagt auch etwas, so wie wir jetzt miteinander reden.«

»Ja, natürlich. Ich glaube, Frauen gegenüber ist er etwas schüchtern.«

»Und woher kommt das? Er sieht doch nicht schlecht aus.«

»Bitte, frag mich etwas Leichteres! Was nimmst du?«

»Einfach Spaghetti mit Tomatensauce.«

»Ich nehme eine Pizza mit Funghi.«

»Und du, bist du auch schüchtern?«, fragte sie lachend.

Normalerweise war um 18 : 30 Uhr Abendessen, aber diesmal konnten die Bewohner auch noch später etwas essen. Gerhard und Ellie gingen zu ihrem gewohnten Tisch.

»Da haben Sie wirklich etwas verpasst, Herr Busch«, sagte Ellie, etwas außer Atem. Herr Busch trank einen Schluck Tee und schaute die beiden an.

»Warum sind Sie nicht mitgekommen?«

»Das war mir zu umständlich.«

»Umständlich! Der Kleinbus hat uns von hier zur Stadthalle gebracht und hat uns sogar bis zur Eingangstür gefahren.«

»Das war wirklich ein tolles Programm.«

»Und was haben Sie Neues über Männer und Frauen erfahren?«

»Tina Teubner hat auf originelle Weise neue Nuancen geboten, und das sehr spritzig und witzig.«

»Und der Pianist mit der Glatze! Der war klasse. Wie hieß der noch mal?«

»Ich glaube Ben Süverkrüp.«

»Hatten Sie heute Nachmittag Besuch, Herr Busch?«

»Nein, mich kommt keiner besuchen.«

»Haben Sie denn keine Verwandten?«

Norbert Busch räusperte sich, dann sagte er: »Doch, einen Sohn, aber den können Sie vergessen.«

2000

Dieter und Peer hatten wieder einmal Squash gespielt, um sich auszupowern. Unter der Dusche musterte Peer seinen Freund, sah seinen athletischen Körper und seinen knackigen Po.

»Warum machst du dir nichts aus Frauen, Dieter?«

»Du meinst wohl, ich sei schwul.«

»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Wollen wir nachher noch ein Bier zischen?«

»Ja, gern, und vielleicht eine Kleinigkeit essen. Ich habe keine Lust, mir nachher noch etwas zu machen. Übrigens, hast du noch Kontakt zu dem Karnevalsmädchen?«

»Nina? Ja, wir treffen uns ab und zu. Und du hättest doch die Freundin ansprechen können.«

Dieter nahm sein Handtuch und trocknete sich ab. Dann ging er in die Umkleide.

Die Ehe mit Madeleine war für ihn die zweite und nun hatte sie ihn plötzlich, aber nicht unerwartet verlassen. Seit Jahren hatten sie sich nichts mehr zu sagen, obwohl sie nicht richtig stritten. Sie war immer mehr in die Welt der Mode und des Glamour eingetaucht. Vogue, Die BUNTE und Gala waren ihre Lieblingszeitschriften. Als sie sich kennengelernt hatten, war er von ihrer herzlichen und offenen Art begeistert gewesen. Ihr Lachen war herzlich und ungekünstelt und sie hatte eine gute Figur. Und was sie trug, betonte das und es gefiel ihm; es war nicht zu modisch, aber irgendwie pfiffig.

Der erste Knacks kam, da waren sie längst verheiratet, als sie ihm signalisierte, dass sie keine Kinder haben wollte. Er war mehr als enttäuscht, ließ es aber Madeleine nicht spüren.

Ihre Mutter war Französin, und deshalb hatte sie den hübschen Vornamen bekommen. Madeleines Eltern lebten in Deutschland, aber während des Urlaubs zog es sie immer wieder nach Frankreich. Peter dachte an gemeinsame Urlaube an der Côte d’Azur, in der Bretagne und der Normandie. Sie waren eigentlich immer sehr harmonisch, weil Madeleines Eltern ihre Tochter und ihren Schwiegersohn nicht einengten. Er mochte sie und sie mochten ihn auch.

Peter hatte sich in den letzten Jahren immer mehr in die Arbeit vergraben und auch abends war er oft mit anderen unterwegs, wusste er doch, dass Madeleine mit Freundinnen unterwegs war oder irgendwelche Events besuchte. Was das Kochen betraf, so vernachlässigte sie ihn nicht. Es stand jeden Abend eine kleine Mahlzeit bereit, die er sich in der Mikrowelle hätte aufwärmen können, was er auch manchmal tat.

Sie hatte einen großen Zettel hinterlassen: Lieber Peter, du wirst überrascht oder auch zornig sein, aber ich gehe fort, für immer. Ja, wir haben uns geliebt, aber in den Jahren ist die Liebe uns, zumindest mir, abhandengekommen. Ich gehe nicht im Zorn und ich hege keinen Groll gegen dich. Du bist ein netter Mann, der sich auch kümmert, und du warst immer großzügig, auch was das Finanzielle betrifft. Ich nehme jetzt nur einen kleinen Koffer mit und werde vorläufig bei einer Freundin bleiben. Wir können dann in ein paar Tagen alles regeln, ich werde dich nicht ausnutzen. Danke für alles!

Ich verabschiede mich mit einem Kuss, Madeleine

1955

Sie erinnerte sich noch gut an das erste Mal, aber wahrscheinlich war das bei allen Menschen so. Ihre Eltern hatten endlich eine recht geräumige Mietwohnung im Erdgeschoss bekommen und nebenan wohnte eine andere Familie mit drei Kindern. Ihr liebster Spielkamerad war Wilfried. Sie tollten auf der Wiese herum, spielten mit einem Ball und hüpften mit dem Seil.

 

Es kam dann eine Zeit, in der sie sich ein wenig aus dem Weg gingen. Wilfried und sie hatten genug mit sich selbst zu tun. Als sie aber beide 15 waren, flammte das gegenseitige Interesse wieder auf. Wenn ein Elternteil da war, durften sie auch im Kinderzimmer zu zweit die Hausaufgaben machen oder Musik hören. Aber Mitte der 50er Jahre war es streng verboten, zu zweit allein zu sein, wenn die Eltern unterwegs waren. Sie hatten schon öfter miteinander geschmust und sich geküsst.

An einem Nachmittag taten die beiden dann das Verbotene.

»Hast du schon einmal, Ellie?«, fragte er.

»Nein, nie.«

Sie zogen sich beide zögernd unten herum aus und Ellie konnte Wilfrieds steifes Glied sehen.

»Kann ich reinkommen?«

»Ja, aber sei vorsichtig! Wie gesagt, es ist das erste Mal.«

Er war sehr vorsichtig, aber es tat trotzdem weh. Vorsichtshalber hatte Ellie ein Handtuch auf das Bettlaken gelegt.

»Wenn es bei dir kommt, zieh aber schnell das Ding raus! Ich möchte nicht jetzt schon schwanger werden.«

Er bewegte sich ein paar Mal hin und her und versuchte, ihre Brüste unter dem Pullover zu drücken.

»Ich glaube, es kommt.«

Ellie war froh, dass sie ein Handtuch auf das Bettlaken gelegt hatte.

»War es für dich auch schön, Ellie?«, fragte er erleichtert.

»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht so recht.«

Sie zogen sich schnell an und legten die Mathematikhefte auf den Tisch. Nach ein paar Minuten konnten sie auch schon den Schlüssel im Schloss hören.

»Ellie, bist du in deinem Zimmer?«

»Ja, Mama, und Wilfried ist gerade gekommen. Wir wollen Hausaufgaben machen.«

»Gut! Ich bringe euch jetzt Orangensaft, der bringt frische Energie.«

Ellie gluckste und sah Wilfried lächelnd von der Seite an.

Ab und zu ging Gerhard Schmied mit seiner Tochter essen. Immer dann, wenn es ihre Arbeit zuließ und jemand anderes auf die Kinder aufpasste. Diesmal hatte sie das griechische Restaurant Alexandros ausgewählt. Er stieg in ihr Auto ein, gab ihr einen Kuss auf die Wange und schnallte sich an.

»Hallo! Wie geht’s, Nina?«

»Eigentlich nicht schlecht. Aber irgendwie fühle ich mich unter Stress.«

Sie fuhr los und musste auf den dichten Verkehr achten.

»Wo sind die Kinder?«

»Die Nachbarin ist gekommen, du kennst sie ja. Nico und Maja können in ihrer gewohnten Umgebung spielen und vielleicht ein bisschen fernsehen. Ich habe ihnen geschmierte Butterbrote hingestellt.«

Es gelang ihr, das Auto in der Nähe des Restaurants zu parken. Sie gingen hinein und fanden einen kleinen Tisch am Fenster. Nachdem sie in die Speisekarte geschaut hatten, bestellten sie.

»Ich bezahle. Ich weiß, du musst das Geld jetzt zusammenhalten.«

»Danke, Papa!«

»Darf ich dir sagen, dass du traurige Augen hast?«

Sie musste lachen.

»Das hat neulich ein Kunde, den ich gar nicht kenne, auch gesagt.«

»Siehst du! Und der kennt dich gar nicht.«

Nina aß ihren griechischen Bauernsalat und ihr Vater den Seniorenteller: Gyros mit Pommes frites und gemischtem Salat.

»Mir schmeckt’s.«

»Mir auch. Hast du auch daran gedacht, dich vom Essen abzumelden?«

»Ja, ja! Hab ich.«

Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, sagte Nina: »Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, aber ich möchte jetzt nach Hause. Ich möchte meine Nachbarin nicht zu sehr belasten.«

»Verstehe ich doch. Ich werde zu Fuß nach Hause laufen, das tut mir gut.«

»Ist es wirklich schon dein Zuhause geworden?«

Ihr Vater zögerte etwas. Er drückte seine Tochter fest in seinen Armen.

»Bis bald!«

»Ich ruf dich an.«

1955

Sie sahen sich fast jeden Tag, und wenn sie die Gelegenheit hatten, wiederholten sie es. Wilfried war danach immer sehr glücklich und irgendwie dankbar, während Ellie es mehr oder weniger über sich ergehen ließ. Es war schön, jemandem ganz nah zu sein, aber ein wirkliches Glücksgefühl kam nicht auf.

Sie begann, sich da unten selbst zu streicheln, und nach ein paar Minuten hatte sie ein tolles, ungewohntes Gefühl. Dann bekam sie aber Schuldgefühle, denn damals bezeichneten die Kirchen dieses einsame Spiel als große Sünde. Zum Glück gewann die Vorfreude zumeist die Oberhand und das andere wurde dabei vergessen.

Nach ein paar Monaten verlor Wilfried sein Interesse an Ellie, er spielte lieber Fußball mit den anderen Jungen und manchmal tranken sie auch heimlich Bier.

2000

Peer musste zwar viel für das Studium tun, aber er rief Nina fast jeden Tag an. Sie wohnte mit ihrer Freundin zusammen und manchmal ging diese ans Telefon.

»Was macht der Priester?«

»Dieter geht es gut. Warum willst du das wissen?«

»Nur so.«

Während sie Nina ans Telefon holte, kam Peer der Gedanke, dass sie vielleicht Interesse an Dieter haben könnte.

»Hast du wieder heute Morgen 17 Mal Blut abgenommen?«

»Nein, heute waren es 19 Patienten«, sagte sie lachend.

»Wann sehen wir uns?«

»Kannst du am Samstagabend? Tanja fährt zu ihren Eltern und da können wir es uns hier ein bisschen gemütlich machen.«

»Gern. Wir bestellen eine Pizza.«

»Nein, nein. Ich koch etwas.«

»Oh! Du kannst kochen?«

»Stell dir vor, das hat mir meine Mutter beigebracht. Und bisher ist keiner gestorben oder hat sich übergeben.«

»Ist 18 Uhr okay?«

»Ja, bis dann.«

»Ich hauche dir jetzt einen Kuss zu. Merkst du das?«

1962

Nach einigen eher unbefriedigenden Liebschaften lernte sie Bernd kennen. Er sah gut aus und hatte einen Sportwagen, was damals, Anfang der 60er, eher unüblich war. Es war ein MG A Roadster und sie mochte nicht nur das Blau. Er war Ende zwanzig, studierte aber noch. Was, das verriet er ihr nicht. Aber seine Eltern waren reich, sehr reich und besaßen eine Villa, die sie aber nie betrat.

Er war ein großer Angeber, aber im Bett war er zärtlich und geschickt. Sie machten mehrere tolle Reisen: in die Toskana, an den Lago Maggiore, an die Côte d’Azur, aber irgendwie wusste Ellie auch, dass diese Beziehung nicht von Dauer sein würde. Er hatte keine Liebschaft neben ihr, aber nach etwas mehr als einem Jahr signalisierte er ihr, dass er sich anderweitig orientieren wollte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wangen und sagte: »Es war eine schöne Zeit mit dir. Danke für alles, was du mir gezeigt hast!«

»Ich wünsche dir alles Gute, bist eine tolle Frau!«

2014

Nina hatte ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag ein iPAD, gebraucht, geschenkt. Zuerst hatte er sich dagegen gewehrt, aber mittlerweile fand er es ganz nützlich. Im Haus gab es WLAN, und so konnte er ins Internet gehen und E-Mails schreiben, was er aber eher selten tat. Sie wusste, dass er sich gern Günther Jauchs »Wer wird Millionär?« im Fernsehen ansah, und so hatte sie ihm eine App runtergeladen: QuizDuell. Wenn er es nicht vergaß, spielte er jeden Tag. Da musste man sehr fix reagieren und konnte sich nicht minutenlang Zeit lassen. Eine gute Vorbeugung gegen Demenz, sagten die Ärzte, aber das war natürlich Quatsch. Er erinnerte sich an den Professor aus Tübingen, Walter Jens, der jahrzehntelang auf hohem geistigen Niveau geforscht hatte, und auch ihn hatte die Demenz erwischt, mehr als heftig.

Zurzeit lief ein Film zu diesem Thema im Kino Honig im Kopf. Til Schweiger war der Regisseur und zugleich ein Schauspieler. Und Dieter Hallervorden spielte seinen Vater. Er hatte Nina vorgeschlagen, mit ihm den Film zu sehen, aber sie hatte ihm abgeraten. Er solle sich lieber mit lustigeren Themen beschäftigen, sagte sie.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?