Buch lesen: «Feindbild werden»

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Bildnachweis

Abb. 1: © Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig/Berlin, und Zwirner, New York/London, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Abb. 2: © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner, Märkisch-Wilmersdorf/Köln/New York

Abb. 3: © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Abb. 4: Victor Lenepveu: Musée des Horreurs, 1899

Abb. 5: © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Abb. 6: © AEDT.de/Krempl

E-Book-Ausgabe 2020

© 2020 Verlag Klaus Wagenbach

Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4290 0

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3701 2

www.wagenbach.de

Vorbemerkung

Es gab gute Gründe, dieses Buch nicht zu schreiben. Warum sollte gerade ich mich mit einem Gemälde auseinandersetzen, das Neo Rauch im Juni 2019 in polemischer Reaktion auf einen von mir verfassten Zeitungsartikel gemalt hat? Gewiss könnte man mir fragwürdige Motive, ein unerlöstes Gemüt oder auch taktisches Ungeschick unterstellen, zumal der Titel des Gemäldes – Der Anbräuner – direkt auf mich zielt. Manche dürften das Buch als das Bellen eines getroffenen Hundes oder als nächste Etappe in einem öden Kreislauf der Rache deuten, andere ein Zuviel an Eitelkeit darin erkennen: Muss einer in Buchform auswalzen, dass er in den Kosmos von Neo Rauch Eingang gefunden hat? Auf der anderen Seite ist von denjenigen, die das Gemälde für missglückt – für einen Ausrutscher – halten, der Einwand zu erwarten, dass ich es zu ernst nehme, wenn ich ihm so viel Aufmerksamkeit widme. Ferner könnte man mir vorhalten, dadurch doch nur seinen Marktwert zu steigern; profitieren würde davon allein sein Besitzer (dem das Bild im Juli 2019 immerhin eine Dreiviertelmillion wert war). Sollte man den Streit also nicht auf sich beruhen lassen? Wird mein Name sonst nicht viel zu eng an den von Rauch gebunden? Wird dadurch nicht von den anderen Themen und Anliegen abgelenkt, die ich als Autor verfolge?

Aus all diesen Gründen wäre das Buch tatsächlich fast nicht geschrieben worden. Im Sommer 2019, als die Idee dazu erstmals an mich herangetragen wurde, entschied ich mich dagegen. Zum Jahreswechsel 2019/20 las ich dann noch einmal vieles nach, was im Zuge der Auseinandersetzung mit Rauchs Bild geäußert worden war – nicht nur öffentlich, sondern auch in zahlreichen privaten Mailwechseln mit ganz unterschiedlichen Personen. Angesichts der Thesen, die in diesen Mails verhandelt wurden, begriff ich nun viel deutlicher, wie sehr Rauchs Bild Ausdruck und Folge etlicher Konflikte ist, die aktuelle Diskussionen in der Kunstwelt, vor allem aber im politischen Raum prägen.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner prophezeite im Juli 2019, Der Anbräuner »werde einst in Schulbüchern abgebildet sein«; es handle sich bei dem Gemälde »um Zeitgeschichte«, es »sei eine Analogie auf die Debattenkultur der 2010er und 2020er Jahre«.1 Abgesehen davon, dass sich über die 2020er Jahre noch nicht viel sagen lässt und dass Lindner wohl »Allegorie« statt »Analogie« meinte, würde ich ihm recht geben. Und wäre eine solche Einschätzung von Rauchs Gemälde nicht Grund genug, es doch zum Ausgangspunkt eines Buchs zu machen?

Noch während ich mich mit einem entsprechenden Plan anzufreunden begann, kamen jedoch neue Bedenken auf. Sie waren sogar schwerwiegender als die ersten. Denn wie mir die Relektüre der Mails deutlich machte, ist Rauchs Gemälde vor allem anderen die Erwiderung eines ostdeutschen Künstlers auf einen westdeutschen Kritiker. In dem Bild werden die seit einigen Jahren wieder verstärkt wahrnehmbaren Abgrenzungen und Aggressionen zwischen Ost und West drastisch zum Thema. Wird Der Anbräuner aber als identitätspolitisches Statement gedeutet, steht meine Eignung als Autor eines Buchs, das sich damit befasst, umso mehr infrage. So liegt der Verdacht nahe, dass ich als Westdeutscher grundsätzlich nicht nachvollziehen kann, was einen Ostdeutschen beschäftigt und verletzt oder inwiefern sein Handeln seinen spezifischen Erfahrungen geschuldet ist.

Doch damit nicht genug. Als Westdeutscher bin ich gegenüber Ostdeutschen zudem Vertreter einer privilegierten Mehrheit oder gelte sogar als jemand, der einer Gesellschaftsordnung angehört, die eine andere Gesellschaftsordnung verdrängt oder kolonisiert hat. Und wie es immer wieder strittig ist, ob Weißen das Recht zusteht, sich in die Deutung der Erfahrungen von Schwarzen einzumischen, oder wie es Homo- oder Transsexuelle als übergriffig, als eine Form von Aggression empfinden, wenn Heterosexuelle sie analysieren, so könnte auch ich einen Fehler begehen, wenn ich mir anmaße, Rauchs Gemälde zu interpretieren.

Aber sind derartige Vergleiche richtig? Sind die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland wirklich so groß, dass ein Gemälde eines ostdeutsch sozialisierten Künstlers aus dem Jahr 2019 – dreißig Jahre nach Ende der DDR – kein Gegenstand für einen westdeutsch sozialisierten Kritiker sein kann oder sein darf? Und würde, wer einen solchen Schluss zöge, nicht sogar dazu beitragen, den Graben zwischen Osten und Westen weiter zu vertiefen? Wäre es also nicht im Gegenteil ein wichtiges Zeichen, als Westdeutscher über Rauchs Gemälde zu schreiben? Das aber setzt nicht nur voraus, dass man Erfahrungsunterschiede eigens reflektiert, sondern ist auch nur dann sinnvoll, wenn man das Bild als das nimmt, was ein Bild immer sein kann, egal mit welcher Intention es entstanden ist: ein Ort, der Freiraum für unterschiedlichste Gedanken und Deutungen lässt.

Bekanntlich gab es Zeiten, in denen Bilder genau deshalb sogar in den Dienst der Diplomatie gestellt wurden. Man sah sie als ideales Medium an, damit verschiedene Parteien, ausgehend von einer Ikonografie oder einzelnen Sujets, jeweils ihre Vorstellungen artikulieren und im Weiteren ihre Standpunkte formulieren konnten. Indem man darauf achtete, auf welche Sujets sich eine Partei bezog oder wie stark eine andere ein bestimmtes Motiv mit Bedeutung belastete, konnte man ihre unterschiedlichen Interessen vielleicht besser verstehen und eventuell sogar ausloten, ob und wie eine Annäherung möglich wäre. Der Kunsthistoriker Ulrich Heinen, der das Verhältnis von Kunst und Diplomatie für das 17. Jahrhundert und am Beispiel von Peter Paul Rubens näher erforscht hat, zeigte auf, wie Gemälde »gerade in angespannten Verhandlungen« zu einem bildhafteren Sprechen anregen, Metaphern und Vergleiche stimulieren und so »den Gesprächsfluss sowie das wirkungsvolle Vorbringen eigener Interessen erleichter[n]«.2

Nun geht es hier um keine angespannten Verhandlungen, aber wenn Rauchs Gemälde innerhalb einer Konfliktlage entstanden ist, eignet es sich vielleicht besser als vieles andere dazu, eben diese zu erhellen. Wer über das Bild spricht, bezieht immerhin jeweils Position innerhalb des Konflikts, formuliert aber unwillkürlich im spielerischen Modus des Als-ob, weiß um die grundsätzliche Mehrdeutigkeit von Bildern, ist daher vielleicht auch neugierig auf andere Deutungen und modifiziert eventuell sogar die eigene Sichtweise immer wieder. Bildexegesen führen so bestenfalls zu einer Reflexion sonst ziemlich verhärteter Standpunkte.

Allerdings – so lässt sich einwenden – ist Rauchs Gemälde selbst parteiisch – und nicht gemalt worden, um Konflikte aufzulösen. Vielmehr sollte mit ihm eine andere Eigenschaft genutzt werden, die man Bildern zuspricht. So vermögen sie Evidenz zu schaffen und etwas bisher Diffuses so anschaulich zu machen, dass es überhaupt erst fassbar wird und sich darauf reagieren lässt. Dann kann es durch sie gelingen, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dargestellt hat, »auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Aktionsform umzuspringen«.3 Manche Bilder etwa führen Utopien klar vor Augen und motivieren so zu einem bestimmten Handeln, andere verleihen Idealen sichtbaren Ausdruck und verschaffen ihnen damit überhaupt erst Geltung, wieder andere aber geben einem Gegner und den gegen ihn gerichteten Emotionen eine Gestalt. In diesem Fall manifestieren sich in ihnen, ja entstehen mit ihnen Feindbilder. Rauchs Anbräuner ist ein solches Feindbild – und damit ein Bild, das Dynamiken in Gang setzen kann, die schlimmstenfalls nicht mehr kontrollierbar sind.

Damit aber ist auch klar, worin die Aufgabe und die Herausforderung dieses Buchs besteht. Es geht darum, die eine Eigenschaft von Bildern gegen die andere auszuspielen – und es zu nutzen, zumindest darauf zu vertrauen, dass selbst ein Bild, das als Feindbild wirken soll und dem eine Schmähfunktion auferlegt wurde, einen Raum eröffnet, in dem man sich frei bewegen kann. Dabei müsste es gelingen, von der Aktionsform in die Möglichkeitsform zurückzuspringen und verschiedene Standpunkte und die ihnen korrespondierenden Erfahrungen auszuloten. Gerade weil ich meinerseits so parteiisch bin wie Rauch und sein Bild, habe ich aber auch ein besonders starkes Interesse daran, es entgegen der mit ihm verbundenen Intention zu behandeln: Weil ich zum Feindbild geworden bin, will ich es nicht bleiben.

Letztlich habe ich mich also doch dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Allerdings will ich damit nicht nur meine westdeutsche Perspektive in den aktuellen Ost-West-Konflikt einbringen. Vielmehr soll dieser Konflikt vor dem Hintergrund von Debatten erörtert werden, die im Bereich der bildenden Kunst stattfinden. Dass dort etwa viel über Freiheitsrechte und verschiedene Konzepte von Autonomie diskutiert wird, erlaubt ein besseres Verständnis einiger Leitmotive, die abgesehen von diesem Konflikt auch andere politische Auseinandersetzungen prägen. So wurde ich etwa davon überrascht, in welchem Ausmaß im Frühjahr und Sommer 2020 bei Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen die Sozialfiguren des Denunzianten und des Dissidenten wiederkehrten, die schon im Streit um Rauchs Gemälde sowie in Debatten über den Topos einer DDR 2.0 eine wichtige Rolle spielen. Doch auch wenn beispielsweise darüber diskutiert wird, ob Kunst eher der Identitätsstiftung dienen oder aber vermeintliche Gewissheiten ins Wanken bringen soll, werden jeweils Ansprüche und Erwartungen sichtbar, die ganz ähnlich in anderen Bereichen auftauchen und von weitreichender gesellschaftspolitischer Bedeutung sind. Deshalb sollte man Milieu- und Mentalitätsunterschiede oder Ost-West-Differenzen überall dort ernst nehmen, wo man auf sie trifft.

1 Die Rechtsverschiebung der Idee autonomer Kunst

Am Morgen des 24. Juni 2019 erhielt ich eine Mail aus der Redaktion der ZEIT – mit der Bitte um ein Telefonat möglichst noch am selben Vormittag, denn: »Es drängt ein wenig«. Ich hatte keine Ahnung, worum es gehen könnte. Am Telefon erfuhr ich dann, dass ein Artikel von mir, den die Zeitung einen Monat zuvor gedruckt hatte, nicht ohne Folgen geblieben war: Neo Rauch hatte darauf mit einer ungewöhnlichen Form von Leserbrief geantwortet, nämlich mit einem eigens gemalten Bild. Man beschrieb es mir als eine Art Karikatur, die einen Mann zeige, der mit seinen Exkrementen male. Dieser Mann sei offenbar ich. So sei die von ihm mit einem Hitlerkopf und einem Hitlergruß beschmierte Leinwand mit den Initialen »W.« und »U.« signiert. Innerhalb der Redaktion sei umstritten, ob man Rauchs Bild veröffentlichen solle, daher wolle man auch meine Meinung hören.

In dem Artikel in der ZEIT hatte ich für einige Teile der Kunstwelt eine politische Rechtsverschiebung diagnostiziert und das unter anderem mit Zitaten aus Interviews mit Neo Rauch belegt.1 Diese Verschiebung ist für mich jedoch mit einer anderen Entwicklung verbunden, auf die ich in dem Text zuerst einging. So wird die seit dem späten 18. Jahrhundert und während der gesamten Moderne wichtige Idee autonomer Kunst seit einigen Jahren von etlichen Vertretern der Kunstwelt, vor allem von linken Intellektuellen und einer jüngeren Kuratorengeneration, kritisch gesehen. War man lange überzeugt, dass eine Kunst, die ohne Rücksichtnahmen auf ästhetische, moralische oder soziale Konventionen und allein nach eigenen, sich selbst auferlegten Prinzipien – autonom – entsteht, aufklärender und emanzipatorischer sein kann als eine Kunst, die sich den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben anpasst, und bestand man daher auf einem speziellen Freiheitsprivileg für sie, so fragt man heute, ob dies nicht gerade zu Werken führen kann, die ziemlich unsensibel gegenüber der sozialen Wirklichkeit sind. Verfestigt autonome Kunst vielleicht sogar – so die Befürchtung – bestehende Formen von Unrecht und Diskriminierung, zumal meist nur eine kleine Elite in den Genuss eines solchen Freiheitsprivilegs kommt?

Diese Frage wurde in den letzten Jahren in etlichen Debatten verhandelt. In ihnen ging es etwa um die Darstellung von Schwarzen durch weiße Künstler, die maßgebliche Diskriminierungserfahrungen nicht gemacht haben, aber auch um Sexismus oder um gesellschaftlich geächtete Formen von Sexualität wie Pädophilie. Sollte es wirklich unter ein Freiheitsprivileg fallen, so etwas darzustellen? Hieße das nicht, Unrecht und Leid zu dulden, solange es im Namen der Kunst geschieht? Und sollte man sich auf einen zeitlosen Standpunkt zurückziehen können, von dem aus alles als Sujet der Kunst berechtigt erscheint, egal ob es heute akzeptiert wird oder nicht? Immerhin wäre es dann doch vielleicht möglich, so ließe sich dafür argumentieren, Zugang zur Erfahrungswelt von Pädophilen zu bekommen und sie, ihre Weltsicht, vielleicht sogar ihr Leiden an der eigenen Sexualität besser zu verstehen. Und kann man wirklich ausschließen, dass es in einer fernen Zukunft einmal eine Gesellschaft gibt, die anders zu Pädophilie steht als die heutige? Doch aus solchen Gründen für eine unbedingte Freiheit der Kunst zu plädieren, lehnen mittlerweile selbst viele Angehörige des Kunstbetriebs ab. Sie wollen der Kunst keine privilegierte Stellung mehr zubilligen und glauben nicht mehr an die lange gepredigten kunstreligiösen Formeln, wonach Künstler Zugang zu sonst verschlossenen Wahrheiten haben oder als Avantgarde einer besseren Welt fungieren können.

Manchmal kommt es daher sogar zur Forderung, bestimmte Werke nicht mehr öffentlich zu zeigen. Beispielsweise wurde 2017 vom New Yorker Metropolitan Museum of Art die Abhängung des 1938 entstandenen Gemäldes Träumende Thérèse des deutsch-polnisch-französischen Malers Balthus verlangt, da es ein junges Mädchen, das dem Maler Modell gesessen hatte, in einer sexuell anzüglichen Pose zeige.2 Gerade im Zuge der gleichzeitigen #MeToo-Debatte erschien es manchen nicht länger erträglich, dass »unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit« sexuelle Ausbeutung betrieben und legitimiert werde. So formulierte es die Kunstwissenschaftlerin Julia Pelta Feldman und plädierte dafür, die Unversehrtheit von Menschen ernster zu nehmen als die Unversehrtheit einzelner Werke. Für sie »verblasst« jede »Gewalt, die sich gegen Kunst wendet, im Vergleich zur Gewalt, die Menschen angetan wurde«.3

Das moderne westliche Konzept eines Freiheitsprivilegs für autonome Kunst ist aber nicht nur durch linke Intellektuelle, feministische Bewegungen und Minderheiten, die sich vermehrt Gehör verschaffen, in die Defensive geraten. In meinem Artikel nannte ich als weiteren Grund die Globalisierung der Kunstwelt. So gibt es mittlerweile sowohl bei kuratierten Events als auch im Handel viele Akteure aus Asien, Afrika oder der arabischen Welt, die nicht mit typisch westlichen Unterscheidungen wie der zwischen freier und angewandter Kunst sozialisiert wurden. Ohne solche Unterscheidungen verlieren aber auch die spezifischeren Ideen von Kunstfreiheit und Kunstautonomie an Bedeutung. Sie relativieren sich noch weiter dadurch, dass die nicht-westlichen Akteure, deren Kulturen jeweils eigene Kunstbegriffe haben, inzwischen ihrerseits die Menschen im Westen beeinflussen. So erscheinen Kunstautonomie und Kunstfreiheit auf einmal sogar als ideengeschichtliche Auslaufmodelle. Wie einiges andere, etwa die Wertschätzung antiker Mythologie, das unbedingte Streben nach Individualität oder die ausschließliche Orientierung an Hochkultur, kann man sie zum erweiterten Repertoire lange unhinterfragter Prioritäten des vielzitierten privilegierten »alten weißen Mannes« zählen.

Dadurch aber passiert zweierlei. Wer befürchtet, selbst der Mentalität eines »alten weißen Mannes« bezichtigt zu werden, wird sich von allem distanzieren wollen, was damit assoziiert ist, fortan also etwa auch auf uneingeschränkte Plädoyers für die Kunstfreiheit verzichten und sich nicht länger auf Topoi der romantisch-westlichen Kunstreligion wie den Geniekult berufen. Doch wer umgekehrt die Vormachtstellung des »alten weißen Mannes« bewahren oder zurückgewinnen will – oder schon die Rede davon für Unsinn hält –, identifiziert sich auf einmal mit allem, was bedroht erscheint. Neben vielen, die die Idee der freien Kunst oder der Hochkultur noch eher aus bildungsbürgerlicher Gewohnheit vertreten, wollen manche sie nun also vor allem deshalb schützen und neu beleben, weil sie sich generell in Opposition zu feministischen und minderheitenbewussten Intellektuellen sowie zu globalisierungsfreundlichen, liberalen Milieus empfinden. Die paradoxe Folge davon ist, dass die Idee eines Freiheitsprivilegs für Kunst, nachdem sie über mehrere Generationen hinweg gerade von aufgeklärten, emanzipatorischen und liberalen Strömungen stark gemacht worden war, nun nicht mehr von progressiven Milieus, sondern verstärkt von Rechten reklamiert wird. Denn vor allem sie sind es, die ihre Schwierigkeiten mit Minderheiten, Fremden und Feminismus haben. Für sie gehört die Freiheit der Kunst auf einmal wie Weihnachten oder der Bikini zur Identität jener westlich-modernen Kultur, die sie vor zu viel Globalisierung, Multikulturalismus und Islamisierung schützen wollen.

In meinem ZEIT-Artikel mutmaßte ich, dass das Freiheitsprivileg autonomer Kunst manchen umso unsympathischer wird, je mehr es in die Nähe rechten Denkens gerät, wohingegen andere, denen diese Idee wirklich wichtig ist, auf einmal dazu neigen, rechten Topoi gegenüber insgesamt aufgeschlossener zu werden. Plötzlich fragen sie sich vielleicht, ob doch etwas dran sein könnte an der Diagnose einer »linksgrünen Kulturhegemonie«, wenn schöne Bilder in den Museen nicht mehr sicher sind vor aggressiven Tugendwächtern, die allenthalben Sexismus, Rassismus, Unrecht wittern.4 Und wo soll das überhaupt noch hinführen? Wer wird nach Balthus der nächste sein, dessen Abhängung gefordert wird? Wird die Kunstfreiheit nicht längst der sogenannten political correctness geopfert?

In den beliebten Untergangsszenarien, die ausgehend von wenigen Fällen entwickelt werden, verbinden sich oft kulturpessimistische und reaktionäre Motive – und die Idee der Kunstfreiheit gerät zum tagespolitischen Kampfbegriff. Mit meinem Artikel wollte ich eigentlich eine Debatte darüber anstoßen, ob es wirklich im Sinne der Kritiker dieser Idee sein kann, dass sie eine Aneignung von rechts erfährt. Man kann sie damit zwar umso leichter als diskreditiert erachten und noch heftiger gegen sie ins Feld ziehen, was aber nur wieder zu Eskalationen auf der Gegenseite, zu noch schärferen Trotzreaktionen – von kunstreligiösen Aufwallungen bis zu aggressivem Verhalten gegenüber Frauen und Minderheiten – führt. Wie sollte sich eine weitere Polarisierung der Gesellschaft da noch verhindern lassen?

Eine sachliche Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen freier Kunst ist schon jetzt kaum mehr möglich. Dadurch aber könnte – und das ist die Sorge, die ich trotz meiner eigenen Abneigung gegenüber kunstreligiösen Topoi habe – mehr verlorengehen, als selbst viele heutige Kritiker dieser Idee sich wünschen. So frage ich mich, was wohl passiert, wenn man ganz darauf verzichten würde, Kunst als relativ eigenständigen Bereich zu bewahren, in dem unabhängig von jeweils herrschenden Geschmacksidealen und Moralvorstellungen fiktionale Überhöhungen sowie Verfremdungen in Form oder Inhalt erlaubt sind – in dem grundsätzlich alles möglich ist. Würden ohne künstlerische Experimente mit anderen Weltbildern und ohne freie Ausgestaltung von Phantasien in Kunstwerken nicht Fähigkeiten der Imagination verkümmern, die aber etwa wichtig sind, um die Gegenwart besser zu erkennen und um in der eigenen Lebenswelt bewusster handeln zu können?

Nicht romantisch-idealistisch, sondern ganz pragmatisch, geradezu utilitaristisch möchte ich daher dafür plädieren, die Kunst als eine Institution zu pflegen, in der Differenzen und Alternativen zum jeweiligen kulturellen Status quo zugelassen sind. Obwohl ich die Autonomie-Idee immer wieder nicht nur in gesellschaftspolitischer Ambition, sondern auch im Hinblick auf die Folgen für die Kunst kritisiert habe,5 gerate ich damit allerdings in den Verdacht, selbst ein »alter weißer Mann« zu sein – und kann mich dieses Verdachts schon rein äußerlich nicht erwehren. Tatsächlich hatte ich erst ein paar Wochen vor Erscheinen meines ZEIT-Artikels erlebt, dass bei einer Diskussion in Wien eine Reihe von Studentinnen protestierend den Raum verließ, weil ich offenbar etwas zu viel über den Verlust der Idee freier Kunst gesprochen und daher genau dem Schema eines noch-privilegierten, naiv-unsensiblen Vertreters westlicher Hochkultur entsprochen hatte. Mir ist also bewusst, wie schnell einseitige, gar radikale Positionen unterstellt werden – und interpretiere das als Beleg dafür, wie nervös und polarisierend die gesamte Debatte geführt wird.

Wird die Autonomie-Idee von links zunehmend ignoriert oder dezidiert abgelehnt, so wird sie von rechts aber nicht nur adoptiert, sondern auch verändert. In ihrem Mittelpunkt steht nicht länger die Erwartung, dass eine Kunst, die möglichst unkorrumpiert von externen Einflüssen ist, ihrerseits emanzipatorisches Potenzial entwickeln kann. Vielmehr erscheint autonome Kunst, so die These meines Artikels, als ein Hort, wo inmitten einer vermeintlich von Verboten und Rücksichtnahmen durchsetzten Welt noch ein letzter Rest an Freiheit existiert – und wohin sich der allseits bedrohte westliche, weiße, meist männliche Künstler zurückzieht, um sich zu verteidigen oder auch zum Gegenschlag zu rüsten. Autonomie bedeutet dann also Selbstbehauptung, sie steht gar für eine Haltung des Widerstands und der Dissidenz, die sich entsprechend martialisch und rebellisch aufladen lässt.

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