Gänseblut

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Wolfgang Santjer

Gänseblut

Küsten-Krimi


Zum Autor

Wolfgang Santjer wurde 1960 in Leer geboren und lebt in Bingum an der Ems. 38 Jahre lang versah er als Polizeibeamter Dienst bei verschiedenen Polizeibehörden – angefangen beim damaligen Bundesgrenzschutz, dann der Wechsel zur Landespolizei. Weitere Stationen waren die Wasserschutzpolizei in Emden und Leer und die Autobahnpolizei in Leer, wo er sich unter anderem auf die Gefahrgutüberwachung spezialisierte. Als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit als Autor schnitzt Wolfgang Santjer aus alten Schiffsdalben große Holzskulpturen für den Garten.

Impressum

Dieses Buch ist ein Roman.

Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2017 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Ini1110/photocase.de

ISBN 978-3-8392-6440-9

Zitat

Autorität wie Vertrauen werden durch nichts

mehr erschüttert als durch das Gefühl,

ungerecht behandelt zu werden.

Theodor Storm

Karte


Legende zur Karte Rheiderland

1 Bohrinsel Dyksterhusen im Dollart

2 Fundstelle in den Salzwiesen

3 Ortschaft Pogum, Emsblick

4 Coldeborger Siel am Emsdeich

5 Vogelbeobachtungshütte »Kiekkaaste« im Dollart

6 Polizeiinspektion im Stadtgebiet Leer

7 Polizeikommissariat Weener

8 Haus der Familie Alting

9 Bauernhof der Familie Hortema

10 Lohnunternehmen Böltjer

11 Haus der Familie Driever

12 Jann-Berghaus-Brücke über die Ems

13 Geisedamm

Personen der Handlung

Polizisten:

Kriminalbeamte:

Chef Renko Dirksen, Vorgesetzter von Jan Broning

Maike de Buhr, Freundin von Jan Broning

Spurensicherung: Egon Kromminga und Albert Brede

Polizeidienstgebäude in der Stadt (Mutterhaus):

Chef Thomas Sprengel/Klaus Hensmann (Schichtleiter)

Soko Nimrod: Jan Broning, Maike de Buhr, Stefan Gastmann, Onno Elzinga und Klaas Leitmann

Polizeistation Weener: Chef Taleus (Talle) Borchers

Staatsanwalt Grohlich

Gerichtsmedizin Oldenburg

1. Gerichtsmediziner: Dr. Knoche

2. Gerichtsmediziner: Dr. Andresen

Jäger/Hegering Nord-Rheiderland:

Chef des Hegerings Hero Hortema, Polderfürst, Ehefrau Feekeline (Lini)

Kuno Hortema, Sohn von Lini und Hero Hortema, ehemaliger Zeitsoldat, Bundeswehrpionier

Sven Richter, Freund von Kuno Hortema, beide waren zusammen im Afghanistaneinsatz

Jakobus Böltjer, Stellvertreter von Hortema, Ehefrau Jannette (Jani), Chef des Lohnunternehmens Böltjer

Siefko Specker, Dollartjäger und Angestellter von Böltjer, Spitzname Max, Ehefrau Erna

Wirtje Hummers, Dollartjäger und Angestellter von Böltjer, Spitzname Moritz, Ehefrau Trienette (Trientje)

Freerk Wienna, Ehefrau Ulrike (Ulli)

Sonstige Personen:

Menno Alting, Naturschützer

Gretje Alting, Freundin von Kuno Hortema, Naturschützerin

Prolog
1986 Nördliches Rheiderland

Das alte Arbeiterhaus lag direkt am Deich zum Dollart. Es war eingeteilt wie ein Gulfhaus: Vorne der schmale Wohnteil, der hintere Teil des Hauses war breiter und diente als Stall.

Dies war aber die einzige Gemeinsamkeit mit den beeindruckenden großen Gulfhöfen, diesen steinernen Symbolen für Wohlstand, mit denen sich die Polderfürsten selbst Denkmäler gesetzt hatten.

Der alte Mann ging um das Haus herum und betrat den Stall durch die Außentür. Sie drohte aus den Angeln zu fallen. Als ich noch gesund war, dachte der Mann, hätte ich das sofort repariert.

Er stöhnte unwillkürlich auf, als er den leeren Stall sah. Früher hatten sie zwei Kühe gehabt, Hühner und Kaninchen. Alles weg, versoffen von seinem faulen Sohn.

Der Alte zog den Wehrmachtsmantel aus und wickelte den Karabiner darin ein. Seine Andenken an diesen elenden Zweiten Weltkrieg. Später würde er das Gewehr auseinandernehmen, putzen und einölen, so wie er es bei der Wehrmacht gelernt hatte. Das Paket versteckte er sorgfältig im alten Kaninchenkäfig an der Stallseite. Die geschossenen Gänse legte er daneben. Die Türchen verriegelte er mit einem Vorhängeschloss. Morgen würde es wieder Gänsebraten geben. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er ging zu der einfachen Holztür, die den Stall mit der kleinen Wohnküche verband, und zog dort seine Stiefel aus. Die Tür war niedrig und er musste sich bücken, um hindurchzugehen.

Als er den Wohnraum betrat, richtete sich nur sein Körper auf, seine Stimmung blieb unten. Die Enge in den Arbeiterhäusern war bedrückend. Die Decke war nur zwei Meter hoch. Jeder kleine Winkel wurde benötigt. Die Kartoffeln lagerten deshalb unter den Schlafbutzen an der Seite des Raums. Rote Backsteine dienten als Fußboden.

Im Raum standen ein alter Stangenherd, ein Tisch und ein Ostfriesensofa. Der alte Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Andere Arbeiterhäuser waren längst abgerissen oder renoviert worden. Kein Wunder, dass seine Schwiegertochter es hier nicht mehr ausgehalten hatte.

Dieser Taugenichts hatte wieder alles hinter sich liegen lassen. Seit seine Schwiegertochter nach Süddeutschland geflohen war, ging hier alles zum Teufel. Sein Sohn lag auf dem durchgelegenen Ostfriesensofa. Die ungepflegten Haare, das schmutzige Unterhemd, und er trug auch noch die schmutzigen Gummistiefel aus dem Stall … Auf der Wachstuchtischdecke standen eine leere Flasche Korn und etliche Bierflaschen.

Von seinem sechsjährigen Enkel keine Spur. Sicher hatte er sich wieder auf dem Heuboden im Stall versteckt. Das Beste, was er tun konnte, um seinem besoffenen Vater aus dem Weg zu gehen.

Der alte Mann ging zurück in den Stall. »Hallo, mein Junge, hier ist Opa«, sagte er, als er die Leiter hinaufstieg. Er achtete darauf, wohin er trat, der Boden war an vielen Stellen morsch. Im Bodenraum stand Gerümpel, unter anderem ein alter wackeliger Hörnstuhl. Darin saß sein Enkel und lächelte ihn an. Durch ein Loch im Dach fiel ein wenig Licht auf ein aufgeschlagenes Buch, das der kleine Junge in der Hand hielt. Ein Buch von seiner Mutter.

»Opa, wann kommt Mama zurück?«

Der alte Mann nahm seine Taschenuhr und einen kleinen Schlüssel in die Hand. Er sah seinen Enkel bittend an. »Ziehst du deinem Opa noch einmal die Uhr auf?« Das war ein Ritual zwischen den beiden. Meistens benutzte er es, um von einer Sache abzulenken.

Während sein Enkel den Deckel der Taschenuhr öffnete und den kleinen Schlüssel in die Aufzugsöffnung steckte, strich sein Großvater ihm übers Haar. »Die Taschenuhr ist von meinem Vater und später«, er räusperte sich, damit seine Stimme den traurigen Klang verlor, »später wird sie einmal dir gehören. Hast du mitgezählt? Nur siebenmal den Schlüssel rum, sonst wird die Feder krumm.« Sie lachten immer an dieser Stelle. Sein Enkel lächelte ihn an und gab ihm die Uhr und den kleinen Schlüssel zurück.

»Opa, die anderen Kinder sagen, dass du ein Wilderer bist.«

»Wir armen Leute müssen doch auch leben. Der Dollart und die Tiere gehören niemandem und deshalb nehme ich für uns einen kleinen Teil.« Dieses Thema behagte dem älteren Herrn nicht, wieder Zeit für eine Ablenkung. »Stell dir vor, was ich heute im Dollart gefunden habe, mien Jung?«

»Opa, was hast du denn gefunden?«

»Ja, mien Jung, ich glaube, ich habe den Kirchturm von Torum gefunden! Dieses sagenhafte Dorf, das damals versunken ist, ich hab dir doch davon erzählt.«

Der Junge klappte das Buch zu und sah ihn erwartungsvoll an.

»Also, ich lauf durch das Watt und plötzlich spüre ich unter meinem Fuß einen Stein. Ich bück mich und tatsächlich ist es nicht nur ein Stein, sondern der Rest einer Mauer aus Backsteinen! Nicht so mickrige, wie wir sie jetzt haben – ganz große Steine wie die, aus denen man früher die alten Kirchen und Klöster baute. Leider hatte ich nichts zum Graben dabei. Aber morgen soll es wieder Nebel geben und dann geht dein Opa noch mal los. Ich finde bestimmt einen Schatz und dann bauen wir hier alles wieder auf.«

»Kommt Mama dann zurück?«

 

Der nächste Tag, im Dollart

Der Dollart: circa 121 Quadratkilometer in der Fläche (elf Kilometer Nord/Süd, elf Kilometer Ost/West). Bei Niedrigwasser fallen 70-80 % des Dollarts trocken. Die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft durch den Dollart. Die deutsche Seite beginnt bei Pogum und endet an der Grenze bei Nieuw Staatenzijl (Richtung Nord-Süd). Ungefähr drei Kilometer von der Landecke Pogum entfernt liegt die kleine Bohrinsel Dyksterhusen (siehe Karte Nr. 1). Auf dieser künstlichen Insel wurde früher nach Gas gebohrt. Genau genommen handelt es sich um eine Halbinsel, weil eine kurze Straße die Insel mit dem Festland verbindet. Im Norden, von der Bohrinsel aus gesehen, liegen der Geisedamm und die Ortschaft Pogum, im Süden die Wattflächen des Kanalpolders bis zur niederländischen Grenze.

Die beiden Jäger waren auf der Pirsch. Aber diesmal nicht nach Gänsen oder Enten, nein: nach diesem verfluchten Wilderer. Auf der Bohrinsel stellten sie den Wagen ab. Sie zogen ihre Gummistiefel an, überprüften ihre Waffen und überlegten, wie sie vorgehen wollten.

Gestern hatten sie wieder Schüsse gehört. Der Nebel war ideal für den Wilderer. In dieser weitsichtigen Landschaft hatte er sonst keine Chance, unentdeckt zu bleiben. Der Dollart war groß und jetzt mussten sie auf ihr Glück setzen, um den Mann zu erwischen. Sie waren sich einig, dass sie getrennte Wege gehen wollten. Ein Jäger lief in nördliche, der andere in südliche Richtung. Schon nach kurzer Zeit verloren sie sich im Nebel aus den Augen.

Im ehemaligen Kuhstall des alten Arbeiterhauses hatte der alte Mann seinen langen Mantel angezogen und darunter sein Gewehr versteckt. Auf dem Weg zum Deich war ihm sein Sohn nachgelaufen und es war zu einem heftigen Streit gekommen.

»Dann geh doch«, hatte sein Sohn ihm hinterhergeschrien, »eines Tages kommt du nicht zurück. Entweder der Jagdaufseher erwischt dich, oder du fällst in einen Priel und ersäufst!«

Sein Sohn hatte es nötig, ihn zu beschuldigen. Dieser Althippie. Es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zu wildern.

Nun stand er auf dem Deich und sah sich um. Links lag die Bohrinsel Dyksterhusen verborgen durch die Nebelfelder. Rechts der Geisedamm. Dieser lange Steindamm trennte die Ems vom Dollart. Von Pogum aus verlief der Damm in westliche Richtung. Am westlichen Ende liefen Dollart und Ems wieder zusammen.

Den Geisedamm konnte er ebenfalls im Nebel nicht sehen. Der Nebel war für ihn ideal. Er lief den Deich hinab­, kletterte über einen Weidezaun und überquerte die Salzwiesen. Als sie in das Watt des Dollarts übergingen, vermischten sich die Geräusche seiner Schritte mit den Nebelsignalen von Schiffen auf der Ems. Die Schreie der Vögel klangen seltsam gedämpft und die kalten weißen Schwaden berührten sein Gesicht so sanft und eisig wie Geisterhände. Auch bei diesem Wetter war der Dollart wunderschön. Es war, als sei er alleine auf der Welt, eingehüllt von Wolken in seinem eigenen Kosmos.

Aber die düsteren Gedanken holten ihn ein. Der Streit mit seinem Sohn ging ihm nicht aus dem Sinn. Das beklemmende Gefühl konnte er nicht abschütteln. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, die Stelle im Watt, wo er die Mauerreste mit den besonderen Steinen gefunden hatte. Sie lag in Richtung der Bohrinsel, im Süden, von seinem Standort aus gesehen. Mit etwas Glück konnte er ein paar Enten schießen, bevor er die Mauerreste erreichte. Den Spaten und den Karabiner hatte er über seine Schulter gelegt. Der Nebel dämpfte seine Schritte und alle Geräusche. Ideale Bedingungen.

Plötzlich hörte er das Schnattern von Enten. Lautlos steckte er den Spaten ins Watt, legte das Gewehr auf den Spatengriff und entsicherte die Waffe. Der Zeigefinger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Nebelvorhang riss für einen Moment auf und gab die Sicht auf mehrere Enten frei. Der Schuss traf die Ente am Boden. Kurz darauf­ hatte er wieder Glück, diesmal war es eine schöne fette Gans. Er hängte sich sein Gewehr um, denn für heute reichte es. Seine Jagdbeute in der linken, den Spaten in der rechten Hand marschierte er weiter durch das einsame Watt.

Endlich hatte er die Stelle mit den Steinen gefunden. Das Gewehr konnte er nirgends ablegen, also blieb es, wo es war. Die Jagdbeute legte er neben sich.

Der Spaten drang leicht in den Schlick ein.

Einer der Jäger hatte die Schüsse gehört und beschleunigte seine Schritte. Der Nebel hüllte ihn ein und er war froh, dass er den Kompass mitgenommen hatte. Ab und zu hörte er ein rhythmisch klatschendes Geräusch, waren das Schritte oder grub da jemand?

Dann war wieder alles still. Zwecklos, der Nebel war zu dicht und die Geräusche hatten aufgehört. So konnte er den Wilderer nicht finden.

Der alte Mann konnte kaum glauben, was er gerade ausgegraben hatte – eine kleine Glocke. Teufel auch, wenn die nicht aus Gold war! Ob sie noch funktionierte? Vorsichtig entfernte er den Schlick aus dem Gehäuse und bewegte die Glocke hin und her. Kling-Klong … Das schönste Geräusch, das er je gehört hatte.

Der Jäger hatte sich schon umgedreht und wollte die Suche aufgeben, als er plötzlich das Klingeln einer Glocke hörte. Da, schon wieder. Kling-Klong … Dieses Geräusch passte nun gar nicht in diese verlassene Gegend. Spukte es hier im Dollart, oder wollte ihn jemand verarschen? Er folgte dem Geräusch.

Die Welt um ihn herum hatte der Wilderer vergessen, deshalb sah er den Jäger zu spät. Der hatte das Gewehr auf ihn angelegt. Im nächsten Moment verschwand er wie eine Spukerscheinung in einer Nebelschwade. »Wirf dein Gewehr weg!«, klang es dumpf aus dem Nebel. Der Alte legte die Glocke ins Watt und griff nach seinem Gewehr, um es abzulegen.

In diesem Moment entstand wieder ein Loch in der dichten Nebelwand und die Kontrahenten hatten Blickkontakt. Der Jäger sah, dass der Wilderer sein Gewehr in der Hand hielt. Er fühlte sich bedroht und feuerte sofort. Der Schuss hallte dumpf nach und der Alte wurde nach hinten ins Watt geworfen. Der Jäger lief zu ihm und bückte sich. »Verflucht, warum hast du das Scheißgewehr nicht weggeworfen?«

Der Mann am Boden konnte keine Antwort mehr geben. Seine toten Augen waren weit aufgerissen.

Der Jäger konnte den Anblick kaum ertragen. Was sollte er tun? Würde man ihm glauben? Der Tote war ein armes Schwein, ein Hungerleider, und er selbst ein geachteter Mann. Das bedeutete jede Menge Ärger und Gerüchte, weil viele an der Notwehrsituation zweifeln würden. All seine Hoffnungen auf die angestrebten Ämter könnte er vergessen. Sein Blick fiel auf die Glocke im Watt. Als er sie aufhob, schlug der Klöppel an das Gehäuse. Kling-Klong.

Diese Glocke würde er niemals hergeben.

Nun wusste er, was er zu tun hatte. Der arme Sack hatte ja die Schaufel für sein eigenes Begräbnis gleich mitgebracht. Er durchsuchte den Toten. Das Einzige, was der bei sich trug, war eine alte Taschenuhr. Er nahm sie an sich und legte die Uhr zur Glocke. Dann zog er den Toten zurück in Richtung der Salzwiesen. Dort bedeckte er ihn und die Ausrüstung mit Treibsel aus abgestorbenen Schilfhalmen, das sich an der Flutkante angesammelt hatte. Danach ging er zurück zur Bohrinsel.

Sein Jagdkumpan wartete dort schon auf ihn. »Mann, wo bleibst du denn, ich steh hier schon eine Ewigkeit!«

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich hab mich wohl ein bisschen verlaufen, aber von dem Wilderer keine Spur … Hast du was gesehen?«

»Nein, aber mehrere Schüsse habe ich gehört.« Sein Freund sah ihn misstrauisch an.

»Ja, ich auch. Ich dachte, du hättest sie abgegeben. Ist ja auch egal, die Suche im Nebel war sowieso sinnlos – lass uns nach Hause fahren.«

Als sie sich ins Auto setzten, sah er noch einmal Richtung Norden zurück. Später würde er alleine wieder­kommen und den Toten in den Salzwiesen begraben.

Seine Hand streichelte unbewusst die Glocke in seiner Manteltasche.

Frühjahr 2009, Weener im Rheiderland, Haus der Familie Alting
(Karte Nr. 8)

Er saß in seinem Auto und beobachtete das Haus von diesem Alting. Das kleine Überraschungspaket lag im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Vier Uhr morgens, die schwache Zeit der Menschen, Tiefschlafzeit und genau der richtige Zeitpunkt für sein Vorhaben. Vorsichtig öffnete er die Tür, nahm das Paket und schlich sich zum Haus.

Alting hing sicher sehr an dem Modell der Marker Mühle in seinem Vorgarten. Der Mann lächelte grimmig, als er sich vorstellte, wie viel Handarbeit darin steckte. Das Paket passte genau durch das kleine Tor der Modellmühle. Er befestigte es im Innenraum des Modells und wickelte die Angelschnur ab, die aus dem Paket hing. Mit dem anderen Ende der Schnur ging er zur Eingangstür und befestigte es an der Klinke. Vorsichtig prüfte er die Spannung. Optimal, nicht zu fest und nicht zu lose.

Er schlich zurück zu seinem Auto. Das gemeine Grinsen auf seinem Gesicht wollte einfach nicht verschwinden.

Menno Alting hatte schlecht geschlafen. Seine Tochter Gretje hatte ihn noch gewarnt. »Reg dich doch nicht so auf, Papa, das ist nicht gut für deine Nerven.«

Natürlich hatte sie wieder recht gehabt, aber dieses letzte Zusammentreffen mit den Jägern … Seine Wut kochte noch einmal hoch, als er daran dachte.

Vorgestern hatte er zusammen mit Naturschützern aus den Niederlanden eine große Anzahl verschiedener Gänse auf einer Wiese beobachtet. Alting wies seine Kollegen gerade auf zwei seltene Gänse hin, als ein Geländewagen auf ihren Standort zufuhr war und circa 200 Meter entfernt auf dem Seitenstreifen anhielt. Alting beobachtete mit dem Fernglas, wie das Seitenfenster des Autos heruntergelassen wurde. Der Fahrer streckte einen Arm aus dem Seitenfenster und warf einen Gegenstand in Richtung der Gänse. Der laute Knall eines Silvesterböllers ließ die Naturschützer zusammenzucken und die Gänse flogen in Panik davon. Gleichzeitig heulte der Motor des Geländewagens auf, der Fahrer fuhr rückwärts auf eine Grundstücksauffahrt und wendete dort. Alting rannte und stieß dabei das Stativ mit dem Fernglas eines niederländischen Kollegen um. Als er sich dem Wagen näherte, gab der Fahrer langsam Gas und beschleunigte immer etwas, sobald Alting wieder näher an ihn herankam. Dieses Spiel wiederholte sich einige Male. Schließlich war Alting völlig außer Atem stehengeblieben und hatte nur noch den ausgestreckten Stinkefinger aus dem Seitenfenster des davonfahrenden Geländewagens gesehen.

Besonders ärgerte ihn, dass dies ausgerechnet vor den Augen der niederländischen Kollegen geschehen war. Das teure Fernglas musste er dem niederländischen Naturschützer auch noch ersetzen. Außerdem war das Autokennzeichen des Geländewagens so verschmutzt gewesen, dass er es nicht hatte lesen können. Es war ihm auch nicht gelungen, den Fahrer zu identifizieren, aber natürlich war das einer der Jäger gewesen.

Direkt nach dem Vorfall hatte Alting voller Wut einen Leserbrief per Internet an den Redakteur des Rheiderlandkuriers geschickt. Der war gestern in der Zeitung erschienen. Jetzt war er gespannt auf die Gegenreaktion. Alting war sich sicher, einen Leserbrief der Jäger in der heutigen Ausgabe der Zeitung zu finden. Dieser Kleinkrieg zwischen Jägern und Naturschützern wurde mit Leserbriefen und wechselseitigen Anzeigen und Gegenanzeigen bei den Behörden geführt.

Menno Alting ging zur Eingangstür, um die Zeitung aus dem Postkasten zu holen. »Mist! Scheißtür, seit wann klemmt das Ding?!«

Er zog kräftiger. Die Tür öffnete sich, die außen angebrachte Schnur spannte sich und der Mechanismus im Kasten wurde in Gang gesetzt.

Die Schnur zog einen feinen Stahldraht in die beiden Kontakte der eingebauten Batterie. Die Stahlwolle entzündete sich in dem Moment, in dem Alting einen zärtlichen Blick auf seine Mühle warf. Die brennende Stahlwolle zündete das Schwarzpulver und das Sprengstoffpaket explodierte. Menno Alting hielt sich reflexartig die Hände vors Gesicht. In seinen Ohren summte es und als er die Augen wieder öffnete, war von seiner Mühle nur noch ein qualmender Rest übrig. Der Vorgarten war mit Holzsplittern übersät.