Kulturtheorie

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Pointiert gesagt, legt der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch die Idee nahe, dass Kultur keinen eigenständigen Bereich darstellt, sondern mehr oder weniger nur ein Reflex ist, ein Abbild, ein Spiegel, ein ÜberbauÜberbau auf einem Fundament.7 Nicht wenige Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts – Cultural StudiesCultural Studies, Frankfurter SchuleFrankfurter Schule, AlthusserAlthusser, Louis, GramsciGramsci, Antonio – zeichnen sich dadurch aus, dass sie diesen Ökonomismus kritisch hinterfragt und revidiert haben (→ Kap. 6, 12).

SimmelSimmel, Georg interessiert sich vor allem für die kulturellen Veränderungen, die mit dem Triumph des GeldesGeld als eines für alle verbindlichen MediumsMedium einhergehen. Er benennt sie zunächst einmal, um sie an späterer Stelle ausführlich zu analysieren. Es geht ihm dabei nicht um die Einstellungen und Gesinnungen einzelner Menschen, sondern um eine kollektive Formung des Menschen unter den Bedingungen einer durch das Geld bestimmten Kultur. Diese besitzt eine entschieden eigene Logik, das heißt aber auch, dass sie eine ganz bestimme Kultur repräsentiert. An dieser Stelle wird deutlich, was kultureller MaterialismusMaterialismus bei SimmelSimmel, Georg bedeutet: Die Veränderung der MentalitätenMentalität(en), Einstellungen und Verhaltenswerte ist weniger den diversen intellektuellenIntellektueller, intellektuell und geistigen Programmen und Manifesten geschuldet, die Menschen – Dichter, Philosophen, Politiker – formulieren, sondern liegt im Wesen des Geldes begründet, das auf einmalige Weise subjektivesSubjektivität, subjektiv BegehrenBegehren steuert und mit einem rationalen Kalkül verbindet. SimmelSimmel, Georg benennt diese Phänomene der modernenModerne, modern, -moderne Geldkultur in loser summarischer Abfolge: Charakterlosigkeit, Intellektualisierung, Kult und Kultur der DingeDinge (Kultur der), wachsende Bedeutung der Präsentation, Kult der Person, IndifferenzIndifferenz, ‚KommunismusKommunismus‘, Pazifismus, Abschwächung der Gefühlsfunktionen, Wandel der Geschlechterbeziehungen.

Diese Auflistung ist keineswegs zufällig, sondern macht die Bandbreite der Wirkung des MediumsMedium GeldGeld plastisch. Die Verschiedenheit hat einen gemeinsamen Nenner: das kommunizierte BegehrenBegehren, das in seinem Einsatz der Mittel von großer Rationalität getragen ist. Bemerkenswert ist aber auch das, was ich die radikale AmbivalenzAmbivalenz im Denken SimmelsSimmel, Georg nennen möchte: Die Angehörigen der Geldkultur haben keine Wahl zwischen deren positiven und deren negativen Aspekten, denn beide Seiten bilden eine unzertrennliche Einheit. So ist der charakterlose Mensch der Kultur des Geldes keineswegs nur negativ, ihm sind nur die festen Grundlagen des Seins abhanden gekommen, deshalb fällt es ihm – so jedenfalls das Argument von SimmelSimmel, Georg – leichter, friedfertig zu sein.

Betrachten wir also noch einmal etwas genauer die Phänomene des Begehrens und Wertens. Wie wir schon gesehen haben, hat MarxMarx, Karl bekanntlich den Wert der Ware an die durchschnittlich in dieser vergegenständlichten Arbeit geknüpft.8 Wenn die Arbeit jenes Element ist, das den Wert einer Ware konstituiert, liegt es nahe, das Hauptaugenmerk dieser Produktionsstätte nicht nur der modernenModerne, modern, -moderne Waren, sondern auch ihres Wertes zuzuwenden. Kurzum, der von MarxMarx, Karl initiierte DiskursDiskurs ist auf die Produktion, nicht auf die Distribution und die medialen Interaktionen und Inszenierungen gerichtet. Mit dieser so produktiven wie unproduktiven Blickverengung hängt ursächlich zusammen, dass der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch niemals eine anspruchsvolle Kultur-, geschweige denn eine MedientheorieMedien, Medien-, -medien, medien- hervorgebracht hat. Dass der Realsozialismus zum Zeitpunkt einer medialen Revolution, der des Computers, in sich zusammensackte, war also kein reiner historischer Zufall.

SimmelSimmel, Georg hingegen interessiert sich für die PhänomenologiePhänomenologie des Tausches. Für ihn ist der Wert an ein begehrendes Ich geknüpft, das den Abstand zum begehrten ObjektObjekt (im realen wie im übertragenen Sinn) zu überwinden sucht, um dieses als Besitzer in Händen zu halten. Aber nicht alle DingeDinge dieser Welt begehrt jeder von uns in gleicher Weise, um sie sodann – wirklich oder vermeintlich – genießen zu können. Es gibt da individuelleindividuell Unterschiede: Was für den einen der BMW, ist für den anderen die große Weltreise, das Glück des Eigenheims, wertvoller Schmuck, teure Gemälde. Aber die individuelle DifferenzierungDifferenzierung, die durch die Kultur des GeldesGeld eingeleitet wird, hat noch einen anderen Aspekt. Wir vergleichen die Dinge, die uns die moderneModerne, modern, -moderne Kultur anbietet. Wir stellen – mit oder ohne Fee, die uns drei Wünsche frei stellt – eine implizite oder explizite Prioritätenliste auf, sozusagen die Top Five unserer Begehrens-Hitparade: Wir unterscheiden Dinge, die wir begehren, von Dingen, die uns vollkommen gleichgültig sind. Den Objekten fließt also Wert nur deshalb zu, weil sie Objekte eines – meines – subjektivenSubjektivität, subjektiv Begehrens sind. Geld ist MediumMedium und Motor der Selbstdarstellung und Selbstkonstruktion des modernen Individualismus. Dass diese Objekte ihren Wert auf Grund unserer eigenen Wertsetzung besitzen, dass also Geld etwas zutiefst ‚Menschliches‘, durch uns Geschaffenes ist, entgeht uns im AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- einigermaßen gründlich, wir

empfinden […] Dingen, Menschen, Ereignissen gegenüber, dass sie nicht nur von uns als wertvoll empfunden werden, sondern wertvoll wären, auch wenn niemand sie schätzte.9

Was SimmelSimmel, Georg hier anspricht, hat Karl MarxMarx, Karl im prominenten Warenkapitel im ersten Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Das KapitalKapital, Kapitalismus, kapitalistisch mit Scharfsinn und Witz als „FetischcharakterFetisch(ismus), Fetischcharakter der Ware“ beschrieben:10 Den Gegenständen wird eine geheimnisvolle Kraft zugeschrieben, die sie von sich aus gar nicht besitzen (→ Kap. 6).

Ganz analog zu KantKant, Immanuel, der nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gefragt hatte, stellt SimmelSimmel, Georg die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Begehrens: Die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie uns – zumindest zunächst – nicht zur Verfügung stehen, sondern sich uns entziehen:

Das so zustande gekommene ObjektObjekt, charakterisiert durch den Abstand vom SubjektSubjekt, den dessen BegehrenBegehren ebenso feststellt wie zu überwinden sucht –, heißt uns ein Wert.11

An die Stelle eines statisch-kontemplativen Verhältnisses zwischen SubjektSubjekt und ObjektObjekt tritt eine dynamische und funktionale Beziehung. Steht für die klassische Philosophie das Sein der DingeDinge, das Verhältnis des Seienden (in seiner Mannigfaltigkeit) zum Sein, im Mittelpunkt allen Fragens, so werden in der Philosophie des GeldesGeld der Wert der Dinge und die daraus erwachsenen RelationenRelation (BegehrenBegehren, Tausch) zur treibenden Kraft der Kultur. Das Geld überlagert auch all jene Elemente, die VicoVico, Giambattista für konstitutiv gehalten hat: Familie und Genealogie, Vertrag und Totenkult. Nicht, dass es auch in anderen Kulturen Tausch gibt, sondern dass der Tausch selbst zum Charakteristikum der Kultur wird, ist die Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie.

Die moderneModerne, modern, -moderne WerbungWerbung zitiert diesen Sachverhalt, den SimmelSimmel, Georg als Erster genauer analysiert hat, tagtäglich: In der medialisierten Werbung ist dieser Abstand auch durch die traditionellerweise weiblichen Repräsentantinnen des Wertes gut sichtbar markiert. Im BildBild des lockenden Abstandes wird auch die Psychomotorik des Begehrens sichtbar: Der Abstand scheint nur da zu sein, um ihn zu überwinden. Mit dem Begriff des Abstandes liefert SimmelSimmel, Georg also einen Schlüssel zur PhänomenologiePhänomenologie des Begehrens: Abstand bedeutet einen Entzug, der das BegehrenBegehren erst in Gang setzt. Von SimmelsSimmel, Georg kulturellem MaterialismusMaterialismus aus betrachtet ist es also kein Zufall, dass die Kultur des GeldesGeld ihrer ganzen StrukturStruktur, strukturiert, strukturell nach ‚erotisch‘ ist. Denn Erotik meint ja keineswegs blinde Emotionalität oder Gefühlsseligkeit, sondern ein Spiel mit Abständen, in dem zweckrationale Strategien ersonnen werden, um den Abstand zu tilgen. BegehrenBegehren heißt also: das Glück der Überwindung. Von daher ist das Glück fragwürdig, das uns das märchenhafte oder auch kommunistische Schlaraffenland bietet, diese utopische Landschaft, in der sich uns alles aufdrängt. Zumindest entbehrt es des Vorhandenseins von BegehrenBegehren, das ohne die Erfahrung des bittersüßen Entzugs undenkbar ist. Unter den Bedingungen der Moderne ist es das Geld, das als kalkulierbares Zaubermittel fungiert.

Dieses Zaubermittel gebiert wiederum einen völlig neuen LebensstilLebensstil. GeldGeld ist, wie schon gesagt, nicht bloß ein ökonomischer, sondern ein kultureller Faktor, der die conditio humana formt, modelliert und konditioniert. Diese Modellierung bezeichnet SimmelSimmel, Georg im Geist seiner ZeitZeit als „Stil“. So hat SimmelSimmel, Georg den von NietzscheNietzsche, Friedrich adaptierten Begriff systematisch für die Analyse der Kultur entfaltet, der bis heute in der Soziologie aber auch in der Alltagssprache geläufig ist. Vermutlich ist LebensstilLebensstil die eleganteste Übertragung der englischen Wendung way of life, und T.S. EliotEliot, Thomas S., der argwöhnische Kulturkonservative, hatte wohl gleichfalls den modernenModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil im Sinn, als er seinen weit gefassten Begriff von Kultur (Kultur II) prägte (→ Kap. 1). Das Wort „Stil“ leitet sich vom lateinischen Wort stilum ab und meint eigentlich einen Griffel, ein mittlerweile längst verschwundenes Schreibwerkzeug, das Generationen von Schülerinnen und Schülern zum Schreiben auf eine Schiefertafel benutzt haben. In der heutigen Verwendung bezeichnet es eine ästhetische Formgebung, wofür wir heute gerne den englischen Begriff Design verwenden (von lat. designare bezeichnen, mit einem Zeichen versehen). Aber es gibt da doch einen entscheidenden Unterschied. Im Begriff des Stils steckt eine positive Aufladung. Wenn der Mensch nämlich Stil ist, dann ist es der Stil, der einen zum Menschen macht. Wenn einem Mann oder einer Frau Stil zugeschrieben wird, dann ist das keine neutrale Beschreibung, die trivial ist, weil ja jeder irgendwie einen LebensstilLebensstil hat, sondern schließt ähnlich wie beim Menschen, der Kultur besitzt, die Wertschätzung mit ein. Der expressionistische Lyriker und NietzscheNietzsche, Friedrich-Schüler Gottfried Benn, der zeitlebens die Stillosigkeit seiner Landsleute beklagt hat, hat sich zu der Aussage verstiegen, im Zusammenhang mit dem FaschismusFaschismus von „RasseRassismus, Rasse mit Stil“ zu sprechen.12

 

Auffällig ist, dass SimmelSimmel, Georg, von einer Leidenschaft nüchterner Neugierde getrieben, den Begriff Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben (SimmelSimmel, Georg verwendet zunächst diese Bezeichnung für LebensstilLebensstil) in einem völlig neutralen Sinn verwendet. Unklar bleibt auch, wer da formt, der Mensch oder die selbstläufig gewordenen kulturellen Kräfte, die er entbunden hat, allen voran das GeldGeld. Dieses bringt nämlich eine spezifische Form des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben hervor. Aber eigentlich ist das Phänomen des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben selbst – so wie das Phänomen der ModeMode – neu. Es hat auf den ersten Blick keinen Sinn, vom LebensstilLebensstil der antiken Griechen, der Mayas oder der Menschen im MittelalterMittelalter zu sprechen. LebensstilLebensstil bedeutet nämlich ein ästhetisches Verständnis und Selbstverständnis des Menschen, das vor der ModerneModerne, modern, -moderne einigermaßen fremd war. SimmelSimmel, Georg beschreibt verschiedene zentrale, für den modernen Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben charakteristische Merkmale:

1 Der LebensstilLebensstil hat keine ‚Tiefe‘, keine Authentizität, er ist arbiträrArbitrarität, arbiträr und „charakterlos“. Arbiträr, vom lateinischen arbitrari, glauben, meinen abgeleitet, verweist auf die Tatsache, dass unser LebensstilLebensstil einigermaßen willkürlich gesetzt ist und zum Teil auch so verstanden wird. Er resultiert nicht länger aus der Befolgung heiliger, von göttlichen Instanzen eingesetzter Regeln, Geboten, Verboten, Vorschriften. Charakterlos meint auch, dass dieser LebensstilLebensstil sich ändern kann und dass ihm gegenüber kein Treuegebot gilt. Ein 68er Linker, ein Punk oder eine Grün-Alternative muss seinen bzw. ihren LebensstilLebensstil nicht das ganze LebenLeben, Lebens-, -leben hindurch tragen, er/sie kann ihn ändern, ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen und ohne dass ihm/ihr Schuldgefühle nahegelegt werden.

Die Pluralität der heutigen Lebensstile lässt sich als Auswirkung der Vorläufigkeit modernerModerne, modern, -moderne Existenz begreifen. Ihr offenkundiger Mangel, ihre Unverbindlichkeit und geringe soziale Bindekraft erzeugt, verschärft durch das Abgrenzungsbedürfnis der nachfolgenden Generationen, immer neue Lebensstile, die strukturellStruktur, strukturiert, strukturell verblüffend ähnlich sind.

In diesen Zuschreibungen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur des GeldesGeld treten Phänomene zutage, die man seit den 1980er Jahren gern als postmodern bezeichnet: eine Form von Selbstzuschreibung, die kontingentKontingenz, kontingent, das heißt zufällig und nicht zwingend ist. Damit steht der moderne LebensstilLebensstil im krassen Gegensatz zur klassischen ‚Persönlichkeit‘ des 18. und 19. Jahrhunderts, deren zentrales Bestreben die Entdeckung und Entfaltung des wahren Selbst ist.

1 Der moderneModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben ist durch das Primat des Verstandes geprägt: Das BegehrenBegehren eines Menschen nach einem bestimmten Produkt mag subjektivSubjektivität, subjektiv, unvernünftig, ja sogar irrational sein, aber die Art und Weise, es in seinen Besitz zu bekommen, ist zweckrational. Das ist, wie SimmelSimmel, Georg ausführt, die Folge des „Mittelcharakters des GeldesGeld“. Das Geld ist ein MediumMedium, es tritt dazwischen. Aber das Dazwischentreten des Geldes hat weitreichende Folgen, für den Einzelnen wie für die Kultur. Das BegehrenBegehren wird aufgeschoben. Es entsteht eine lange Reihe von Mitteln und Zwecken. Das strategische Denken wird zur vorherrschenden Mentalität unseres kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensLeben, Lebens-, -leben. Das Geld wird zum Mittel der Gestaltung unseres Willens im KontextKontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, die wiederum durch die Verbindung zwischen subjektivem Willen und absolutem Werkzeug geschaffen werden. Durch das Medium Geld tritt das Prozesshafte der Kultur vollends zutage.13

Aber damit modifiziert sich der Wille als solcher, er rationalisiert sich durch die Beziehung zum Mittel, dessen er sich zur Durchsetzung bedient. Der Wille ist, bemerkt SimmelSimmel, Georg an einer Stelle, blind wie der des „geblendeten Cyclopen“, der „aufs Geratewohl losstürmt“14. Was ihm fehlt, ist ein Inhalt, ein Zweck und die strategische Wahl der Mittel. Woran es ihm mangelt, ist, um die Anspielung aus der Odyssee aufzugreifen, die List des Odysseus, die HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. in ihrer Lesart des Homerischen Epos kulturkritisch und antikapitalistisch wenden werden (→ Kap. 6).

Der moderneModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil ist subjektivSubjektivität, subjektiv, begehrlich und zugleich rational-strategisch. Er impliziert ein Zurückdrängen all jener Bereiche, die man als Gemüt und Gefühl bezeichnet. In der Umgangssprache werden sie mit dem Begriff des Romantischen belegt. Zur Veranschaulichung sei hier ein Beispiel aus der österreichischen Literatur zitiert, der erste Roman von BrochsBroch, Hermann Trilogie Die Schlafwandler. Er trägt den Titel Pasenow oder Die RomantikRomantik. Der romantische junge Pasenow, der für eine junge Varietéschauspielerin und Halbweltdame entflammt ist und am Ende die standesgemäße Nachbarstochter ehelicht, verkörpert einen untergehenden Typus, für den noch alles in OrdnungOrdnung, ordnungs- ist und in Ordnung aufgeht. Demgegenüber verkörpert sein liberaler und melancholischer, unternehmerischer Jugendfreund den neuen rastlosen urbanen LebensstilLebensstil des GeldesGeld. Mobilität geht immer auf Kosten der Treue.15 Auf das Verhältnis der beiden ungleichen Freunde lässt sich SimmelsSimmel, Georg folgende Anmerkung blendend zur Anwendung bringen:

Wie der, der das GeldGeld hat, dem überlegen ist, der die Ware hat, so besitzt der intellektuelleIntellektueller, intellektuell Mensch als solcher eine gewisse MachtMacht gegenüber dem, der mehr im Gefühle und Impulse lebt. Denn soviel wertvoller des letzteren Gesamtpersönlichkeit sein mag, so sehr seine Kräfte in letzter Instanz jenen überflügeln mögen – er ist einseitiger, engagiert, vorurteilsvoller als jener, er hat nicht den souveränen Blick und die ungebundenen Verwendungsmöglichkeiten über alle Mittel der PraxisPraxis wie der reine Verstandesmensch.16

Wichtig ist hier festzuhalten, dass diese Überlegenheit zunächst einmal eine rein praktische und keineswegs eine moralische ist. Im Gegenteil. Ein klein wenig suggeriert SimmelSimmel, Georg den Eindruck, dass diese Überlegenheit möglicherweise moralisch durchaus fragwürdig ist. Mit dem GeldGeld umgehen zu können, ist also eine KulturtechnikTechnik, -technik, die Menschen erst erlernen müssen. Sie setzt die Kenntnis von Kalkülen und die Rechtfertigung von diversen Operationen voraus. Diese ‚mediale‘ Rationalität konzentriert sich auf den ökonomisch effizienten Mitteleinsatz zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Das gilt nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern in allen relevanten Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. In dieser Konzentration liegt freilich, wie SimmelSimmel, Georg später zeigen wird, auch ein verkehrendes Moment: dass nämlich wie bei Dagobert Duck in Entenhausen das Mittel alles, nämlich zum Ziel wird.

1 Aus der Rationalität des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLebensstil resultiert, dass er intellektuellIntellektueller, intellektuell, d.h. charakterlos ist. Aber das Wort „charakterlos“ erfährt hier ebenso wie das Adjektiv „intellektuell“ eine verschobene Bedeutung. Es meint nicht, dass alle Mitglieder der modernen Geldkultur moralisch defizitär wären, es meint auch nicht, dass alle Menschen zu Intellektuellen würden. Und es bedeutet auch nicht, dass Intellektuelle charakterlos in moralisch abwertendem Sinn sind – Zuschreibungen, die von radikalen linken wie rechten Denkern immer wieder vorgebracht worden sind. Simmel schreibt diesbezüglich:

Der IntellektIntellekt, seinem Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht.17

Das Wort „Charakter“ kommt aus dem Altgriechischen. Sein Bedeutungsumfang lässt sich durch Worte wie Gepräge, Ritzung, Zauberzeichen, amtliche Eigenschaft, Rang, Stand beschreiben. Der „charakterlose“ LebensstilLebensstil ist ambivalent und widerspricht dem berühmten Lutherischen Diktum: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. In den KontextKontext des (post-)modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben gestellt, bedeutet er demgegenüber: Hier bin ich gerade, ich kann auch anders. Die heute allseits beschworene Biegsamkeit (Flexibilität), die geschickt der sozialen Unterwerfung des einzelnen Menschen unter die Logik des KapitalsKapital, Kapitalismus, kapitalistisch einen dynamisch-erotischen ‚Kick‘ verleiht, weist genau in diese Richtung: Bereitschaft zur permanenten Veränderung, zum Wechsel der eigenen IdentitätIdentität.

Überhaupt ist es sinnvoll, SimmelsSimmel, Georg Begriff der Charakterlosigkeit mit den Identitätsdebatten unserer Tage in Verbindung zu bringen. Charakterlos bedeutet auch, die Einbuße, die Unmöglichkeit, den (scheinbar) freiwilligen Verzicht auf eine fixe, unveränderliche IdentitätIdentität, freiwillig zu akzeptieren. Nicht nur haben wir verschiedene Identitätsoptionen – nationaleNation, Nationalismus, national, geschlechtlichegeschlechtlich, berufliche, regionale usw. – wir ändern womöglich auch unsere Identität im Laufe unseres LebensLeben, Lebens-, -leben. Diese Form von verflüssigter Identität wird in der modernenModerne, modern, -moderne Kultur offenkundig vorgezogen.

Um sich dies anschaulich vor Augen zu führen, kann man auch einen Blick von SimmelsSimmel, Georg opus magnum auf ein literarisches Werk werfen, auf Robert MusilsMusil, Robert Roman Mann ohne Eigenschaften, der sich – nebenbei bemerkt – als eine KulturanalyseKulturanalyse mit literarischen Mitteln lesen lässt. Der schon im Titel des Buches angesprochene Mangel an Eigenschaften des Sohnes, der im Kontrast zum Vater, dem Mann mit Eigenschaften steht, korrespondiert ganz offenkundig mit der SimmelSimmel, Georg’schen Charakterlosigkeit.

SimmelSimmel, Georg zielt auf etwas, das MusilMusil, Robert als Eigenschaftslosigkeit bezeichnet. Der Protagonist Ulrich entspricht wenigstens zu Anfang des Romans mit all seiner nüchternen Distanz, seinem Faible für Körperertüchtigung, seiner IronieIronie und seinem Konsumverhalten der Charakterlosigkeit des SimmelSimmel, Georg’schen Menschen. Er ist dessen spezifisch österreichische Variante, womöglich in DifferenzDifferenz zum realen Autor.

Mit der Eigenschaftslosigkeit ist offenkundig jene Einbuße an Selbstverständlichkeit im Hinblick auf die eigene Person gemeint, der Verlust des GlaubensGlaube an die Verfügbarkeit über die eigene Person, die der klassische HumanismusHumanismus wenigstens nahelegt. Es geht nicht darum, dass Ulrich jedwede Spezifität und Besonderheit eingebüßt hätte, sein Bedürfnis nach aristokratischer DifferenzDifferenz gegenüber dem aufkommenden MassenmenschenMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- ist ohnehin unübersehbar. Aber was ihm abhanden gekommen zu sein scheint, das ist eben jene selbstverständliche IdentitätIdentität mit sich selbst. Das LebenLeben, Lebens-, -leben des modernenModerne, modern, -moderne Menschen ist immer auf Vorbehalt angelegt und gerade deshalb ist es ihm möglich, immer wieder die Rollen zu wechseln.

 

1 Mit diesem Vorbehalt sich selbst gegenüber und mit der Intellektualität unmittelbar verbunden ist jenes Phänomen, das SimmelSimmel, Georg als „eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens“ bezeichnet. Die Dämpfung des emotionalen LebensLeben, Lebens-, -leben ist eine direkte Folge jener Distanz, die durch das Dazwischentreten des GeldesGeld im zwischenmenschlichen Umgang eingeübt wird. Im strategischen Handeln ist es nicht klug, Gefühle zu zeigen. Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts etwa war es in Deutschland üblich, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen. So wurde es in der Epoche der Empfindsamkeit zum kulturellen Gebot, im Theater öffentlich zu weinen. Ein Begriff wie Herzensbildung erscheint uns heute unerträglich pathetisch. Die Abneigung gegen Sentimentalität und Pathos, die Aufladung des eigenen Selbst im und durch das Gefühl zeigt sich bis vor kurzem auch in der programmatischen Unterkühltheit (coolness) der Jugendkulturen; die spezifische Verwendung des amerikanischen Englischen leistet dabei einen entscheidenden symbolischen Beitrag. Die kulturell eingeübte Kühle in den westlichen Kulturen Nordamerikas und Westeuropas, die von Angehörigen anderer Kulturen nicht selten als unerträgliche Kälte beschrieben wird, hat natürlich auch ihre Kehrseite. Die Berufsgruppe, die uns beibringen möchte, zu unseren Gefühlen zu stehen, Gefühl zu zeigen, unsere Emotionen neu zu entdecken, der Bereich der Psychotherapie im weitesten Sinn, wächst mit dem kulturellen Imperativ, als Agent der Geldkultur kühlen Kopf zu bewahren. In gewisser Weise lässt sich mutmaßen, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebene Tendenz der Emotionsverringerung auch kontrafaktisch ist.

2 Wo es nicht um oder an das persönlich Eingemachte geht, wo die eigene Überzeugung wenig, aber die Einigkeit über bestimmte rationale Prozeduren viel zählt, da stellt sich jenes Phänomen ein, das SimmelSimmel, Georg als „Leichtigkeit intellektueller Verständigung“ beschreibt. Man kann sich einigen, weil für alle Beteiligten nicht allzu viel auf dem Spiel steht, außer der eigenen Selbstbehauptung. Es geht nicht – um einen alten Pop-Song zu zitieren – um All or Nothing. Kein Zufall, dass in dieser Kultur eine Berufsgruppe auf dem internationalen Parkett zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Diplomatie. Sie ist die hohe SchuleSchule des Kompromisses, der Gewandtheit und der Mediation, die mittlerweile Teil unseres gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags- geworden ist, und zwar auf allen Ebenen unserer Kultur: privat wie öffentlich. Um in diesem Spiel zu bestehen, bedarf es eben eines gewissen Maßes an Charakterlosigkeit, eines Mangels an eigenen inneren Überzeugungen. Denn solange sich die eigene IdentitätIdentität aus solchen inneren ‚tiefen‘ Überzeugungen und Gefühlen bestimmt und speist, so lange wird jeder Kompromiss zwangsläufig zu einem Verrat an sich selbst. Als 1989 die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa fielen, konnte man die von SimmelSimmel, Georg beschriebene kulturelle DifferenzDifferenz sehr gut wahrnehmen, hier die gewandten, emotional ‚abgeflachten‘ Westeuropäer, dort jene Menschen, die über Standpunkte, Emotionen, Ecken und Charakter verfügten und diese auch in ihrem Handeln ins Spiel brachten, übrigens mit nicht selten bedenklichen Folgen. Der Überzeugungstäter ist die Gegenposition zum überzeugungslosen Diplomaten, so wie sich Helden und Händler – die beiden Gegenpole bei Werner SombartSombart, Werner – ausschließen.18

Hinter SimmelsSimmel, Georg Argument steckt aber indirekt eine wichtige These, nämlich die Auffassung, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die eigene Selbstversicherung spielen. Die vorbehaltliche und provisorische IdentitätIdentität und die Abkühlung der eigenen Emotionen bedingen einander. Auf paradoxe Weise hat – so wenigstens das SelbstbildSelbstbild – der emotional distanzierte Mensch ohne fixe Identität eine weit höhere Verfügungsgewalt über sich selbst als der Mensch, der aus seinen Emotionen eine starke Identität bezieht, aber diesen zugleich ausgeliefert ist. Ihm ist der Kompromiss wesensmäßig fremd. Demgegenüber attestiert SimmelSimmel, Georg dem charakterlosen Menschen der Geldkultur eine „Tendenz zur Versöhnlichkeit“.19 Das hängt mit einer weiteren Facette seiner kollektiven Disposition zusammen, die man heute als IndifferenzIndifferenz bezeichnet, als GleichgültigkeitGleichgültigkeit. SimmelSimmel, Georg bescheinigt dem Menschen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur „Gleichgültigkeit gegenüber den Grundfragen des Innenlebens“,20 damit aber auch eine Gleichgültigkeit sich selbst und dem anderen gegenüber. Diese Gleichgültigkeit hat mehrere Aspekte. Zunächst einmal bedeutet die Gleichgültigkeit positiv gesehen, dass mein Gegenüber, ungeachtet seiner Herkunft und seines GeschlechtsGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, gleich gültig ist, seine Besonderheit interessiert mich nicht weiter. GeldGeld ist ein radikaler leveller, hat MarxMarx, Karl einmal attestiert.21 Etwas von dieser Gleichgültigkeit des Geldes ist in die modernen zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschrieben. Was übrigens nicht bedeutet, dass in dieser Kultur der Einzelne gänzlich wertlos wäre, ganz im Gegenteil. Vielleicht lässt sich zur Illustration für diese kulturelle Befindlichkeit noch ein weiterer berühmter Autor aufrufen, nämlich Milan KunderaKundera, Milan, der die geniale Formel von der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ zum Titel seines wohl prominentesten Romans gemacht hat. Um sich leichtfüßig zu bewegen, muss man möglichst viel Ballast abwerfen, die Schwere des Gefühls, der Metaphysik, der eigenen Person. Freilich legt allein schon der Romantitel nahe, dass diese Leichtigkeit am Ende unerträglich sein könnte und – mit SimmelSimmel, Georg gesprochen – das BegehrenBegehren nach Schwere auslöst.22

Programmatisch und selbstbildhaft bleibt hingegen die unpersönliche Sachlichkeit, wie sie uns aus unzähligen Stellenausschreibungen, den medialen Manifestationen des ökonomischen Bereichs aus Karrierebeschreibungen oder aus medialen RepräsentationenRepräsentation als Ausweis von Professionalität entgegenschlägt. Es handelt sich dabei um eine Form von Moderatheit, die durch das GeldGeld ‚moderiert‘ wird. Wenn SimmelSimmel, Georg in diesem Zusammenhang von der „Objektivitätobjektiv, Objektiv- dieser Lebensverfassung“23 spricht, dann meint er nicht, dass die moderneModerne, modern, -moderne Kultur ein stabiles ‚objektives‘ Fundament besitzt, sondern vielmehr, dass die Welt der durch das Geld vermittelten DingeDinge und Einrichtungen eine Objektivitätobjektiv, Objektiv- erzeugt, an die wir uns in unserem Verhalten gleichsam anschmiegen. Das Geld etabliert insofern eine Art von leerer Objektivitätobjektiv, Objektiv-, indem es Sachzwänge schafft, denen wir uns nicht nur fügen, sondern die wir in unserem Verhalten verinnerlichen. Kultur ist jener wundersame Bereich, in dem es nicht um Verbote und Repression geht, wie im Feld von PolitikPolitik und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, sondern um die Frage der Selbstkonditionierung, einer Form von mehr oder weniger unbewusstunbewusst verlaufender kultureller SozialisationSozialisation, die, wie Pierre BourdieuBourdieu, Pierre gezeigt hat, viel effektiver ist als der schiere Zwang, die bloße Repression, die schlichte Gewalt (→ Kap. 9).

Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die inneren, ‚unsichtbaren‘ Tendenzen des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben sagen, dass das GeldGeld kulturell betrachtet ein janusköpfiges Phänomen darstellt. Es ermöglicht die Präsenz des IndividuumsIndividuum um den Preis seiner rigorosen Selbstbeschneidung. Im Gegensatz zum üblichen Binarismus – hier Individualismus, dort Kollektivismus – geht SimmelSimmel, Georg davon aus, dass der moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben sowohl individualistisch als auch kollektivistisch ist.