Kulturtheorie

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Mit scharfen Worten attackiert er etwa den Genozid an den slawischen Pruzzen durch die deutschen Ordensritter im Gefolge der Kolonisation in Osteuropa, die sich den Namen der von ihnen Ermordeten aneigneten.



Wenn HerdersHerder, Johann G. Kulturtheorie – vorsichtig formuliert – gleichwohl reaktionären, nationalistischen und protofaschistischen Denkern den Weg bahnte, dann lässt sich das schwerlich aus der Intention, sondern viel eher aus den Widersprüchen, AmbivalenzenAmbivalenz und Unentschiedenheiten seines Denkens ableiten. Der Widerspruch zwischen UniversalismusUniversalismus und KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus, um den sein Denken kreist, ist bis heute ein theoretisches und praktisches Problem geblieben. So verstummt unser Lob der kulturellen DifferenzDifferenz, wenn uns die betreffende Kultur als gewalttätig, frauenfeindlich und undemokratisch erscheint. Im Spannungsfeld des Respekts für andere Kulturen und des Insistierens auf Menschenrechten ist eine dritte Position zu formulieren, die die verschiedenen Kulturen durch das gemeinsame Band einer weltweiten Zivilgesellschaft verbinden will und abweichende Interpretationen ebendieser Menschenrechte konzediert. Ob diese Kompromissformeln tragfähig sind, bleibt abzuwarten. Aber in all diesen Debatten murmelt, um einen Ausdruck FoucaultsFoucault, Michel zu gebrauchen, die Stimme HerdersHerder, Johann G. mit und nach.



HerderHerder, Johann G. ist einer der einflussreichsten Denker im KontextKontext von Nachaufklärung und ModerneModerne, modern, -moderne, wie der folgende Überblick illustriert:





 RomantikRomantik: Neue MythologieMythos, Mythologie, mythisch, Volkslied, Volksmärchen, PopularkulturPopularkultur,



 HistorismusHistorismus (Ranke:

Alle Epochen sind gleich zu Gott

),



 NationalismusNation, Nationalismus, national und KommunismusKommunismus,



 Konservative Revolution (Oswald SpenglerSpengler, Oswald,

Der Untergang des Abendlands

Abendland, abendländisch, Arnold Josef ToynbeeToynbee, Arnold J.,

Der Gang der Weltgeschichte

32),



 Josef NadlersNadler, Josef Konzept der Literaturgeschichte als Kulturgeschichte der deutschen Stämme,



 Samuel HuntingtonHuntington, Samuel,

Der Kampf der Kulturen

Kampf der Kulturen.



 Die gegenwärtigen Identitätsdiskurse, die mittlerweile gesellschaftspolitisch durchschlagen, verraten eine strukturelleStruktur, strukturiert, strukturell Ähnlichkeit mit HerdersHerder, Johann G. KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus. Sie postulieren die Vermehrung kultureller Differenzen, die sich nicht auf universale, sondern auf partikulare Anerkennung, auf ein Recht nach IdentitätIdentität berufen.33







Kritikpunkte und Anmerkungen





 HerdersHerder, Johann G. Kulturkonzept ist, wenigstens dem Ansatz nach, radikal relativistisch.



 HerdersHerder, Johann G. Konzept von Kulturen ist ähnlich wie jenes von VicoVico, Giambattista metaphysisch.



 HerdersHerder, Johann G. Konzept übersieht, dass ein Wert wie VielfaltVielfalt niemals partikular sondern stets nur universal zu begründen ist. Umgekehrt ist sein KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus mit einem humanistischen IdealismusIdealismus (philosophisch) verknüpft, der universalistisch ist.



 HerdersHerder, Johann G. Konzept von Kultur ist naturalistisch, organizistisch und deterministisch.



 HerdersHerder, Johann G. Konzept ist strukturellStruktur, strukturiert, strukturell kulturpessimistisch.



 HerdersHerder, Johann G. Lob der ethnischenEthnie, ethnisch VielfaltVielfalt verkehrt sich in ein Lob des Ethnozentrismus.



 HerderHerder, Johann G. und VicoVico, Giambattista fassen EthnienEthnie, ethnisch als in sich geschlossene, homogeneHomogenität, homogen Entitäten (Einheiten) auf. In der heutigen Kulturforschung wird aber der Akzent eher auf die HeterogenitätHeterogenität, heterogen und HybriditätHybrid, Hybridität von Kulturen gelegt.







Literatur



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Kapitel 5 Georg SimmelSimmel, Georg:  GeldGeld und ModeMode



Bei der Beschäftigung mit der Theorie der Kulturwissenschaft – und als solche wird Kulturtheorie in diesem BuchBuch (als Medium) verstanden – stellt sich eine fortwährende Verunsicherung ein, für die die Begriffe des Transdisziplinären oder Interdisziplinären gar nicht hinreichen. Denn Interdisziplinarität beschreibt das Verhältnis zweier mehr oder weniger kompakter und gut voneinander abgegrenzter Wissenschaftsdisziplinen. Transdisziplinarität wiederum meint ein Überschreiten der disziplinären Grenzen in einem Niemandsland, einer Art

terra incognita

. Die Verunsicherung, um die es hier geht, reicht tiefer: Man weiß nicht mehr, auf welchem Feld und in welcher Disziplin man sich gerade aufhält. Aus heutiger Warte ist gänzlich unklar und kaum entscheidbar, ob man sich in SimmelsSimmel, Georg Werk auf kultursoziologischem, kulturphilosophischem oder eben kulturwissenschaftlichem Boden befindet. Sein Werk entzieht sich einer eindeutigen Beschreibung. Vielleicht ist es ein Charakteristikum der heutigen Kulturwissenschaften, dass sie nicht auf trittfestem Gelände agieren, dass sie zusammengesetzte

ad hoc

-Disziplinen hervorbringen und sich zudem nur schwer von jenen transdisziplinären Anstrengungen abgrenzen können, die sich seit den 1970er Jahren um das Makrophänomen ‚GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich‘ herum gebildet haben.



In jedem Fall ist SimmelsSimmel, Georg Werk in dem unsicheren Zwischengebiet angesiedelt, das sich durch drei Zuschreibungen umreißen lässt: Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie. SimmelSimmel, Georg beginnt seine Karriere als Philosoph in einem akademischen Milieu, in dem sich die Soziologie noch nicht etablieren konnte. Zudem hat seine jüdische Herkunft seinen akademischen Aufstieg überschattet, erschwert und verzögert, obschon die Vorlesungen des Privatdozenten in Berlin enormen Zulauf erfahren haben.

 



Was SimmelSimmel, Georg jedoch fast lebenslang zum akademischen Außenseiter gemacht hat, ist seine assoziative, konkrete SpracheSprache, das Pendeln zwischen beobachtender Assoziation und eingehender Analyse, seine Abwehr des Deduktiven, seine induktive analytische Phantasie und Gesinnung. Nicht selten beginnt er mit unscheinbaren, geringfügigen, ‚irdisch‘-alltäglichen Dingen und Phänomenen. Oder anders formuliert: SimmelSimmel, Georg ist ungeachtet seiner enormen analytischen Schärfe kein Systematiker, sondern ein Essayist des Konkreten. Sowohl seine Themen (KunstKunst, Kunstwerk, GeldGeld, Phänomene wie BriefBrief, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, Geheimnis, Ruine, ModeMode) als auch seine Methode der genauen Beobachtung der Erscheinungen der modernenModerne, modern, -moderne Welt, „die Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des LebensLeben, Lebens-, -leben an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen“,1 machen ihn zu einem Vorläufer und Anreger der Kulturwissenschaften sowie zu einem der fruchtbarsten Kulturanalytiker.



Ähnlich wie bei FreudFreud, Sigmund, sind seine expliziten Aussagen und Begriffsbestimmungen im Hinblick auf ‚Kultur‘ aus heutiger Sicht vergleichsweise traditionell, operieren sie doch nicht selten vonehmlich mit der binären Opposition von Kultur und NaturNatur, auch wenn er dabei betont, „daß Kultur und Natur nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines und desselben Geschehens sind“.2



Das Innovative seiner Überlegungen kommt zumeist in seinen kleinen essayistischen Medaillons zum Vorschein, etwa in seiner Analyse von scheinbar nebensächlichen Gegenständen, Vorrichten und Artefakten wie dem Bilderrahmen, dem Henkel, dem Fenster, der Tür oder der Brücke, die allesamt einen Schlüssel zu SimmelsSimmel, Georg Verständnis von Kultur als einem prozessualen, relationalen und medialen Großphänomen beschreiben, das durch Mechanismen wie Öffnen und Schließen, durch Exklusion und Inklusion, durch mediale An- und Abwesenheit oder durch Kontextualität bestimmt ist.



Zugleich und anders als viele traditionelle aber auch gegenwärtige Denker in diesem Feld ist SimmelSimmel, Georg einer der wichtigsten Theoretiker der ModerneModerne, modern, -moderne und ihrer ganz spezifischen kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben. Der Begriff der Modernität, der in den angelsächsischen Kulturstudien wie in den deutschen Kulturwissenschaften eher unterbelichtet geblieben ist, umfasst mehrere Bereiche, den gesellschaftlichen, den kulturellen und den philosophischen. Die zentrale Frage SimmelsSimmel, Georg lautet: Was macht diese moderne Kultur aus, was macht sie eigentlich so unvergleichlich?



In gewisser Weise hat sein Kulturbegriff, der dezidiert über den engen Bereich der KunstKunst, Kunstwerk-Kultur hinausgeht (Kultur III → Kap. 1), Ähnlichkeiten mit jenem EliotsEliot, Thomas S. (der, wenn auch aus konservativer Perspektive, durchaus das Phänomen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ins Auge fasst) und Raymond WilliamsWilliams, Raymond: Kultur bedeutet symbolische und reale Ausgestaltung der LebensweltLebenswelt, die sich in unverwechselbaren LebensstilenLebensstil manifestiert, die wiederum durch die moderne Welt geprägt sind – durch sich wechselseitig bedingende Phänomene wie GeldGeld, IndividualitätIndividualität, ModeMode und Rationalität.



Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918) war – wie Ernst CassirerCassirer, Ernst – jüdischer Herkunft, ein Freigeist, ein Sammler; er unterhielt enge Beziehungen zum kulturkonservativen George-Kreis, war aber wohl selbst eher ein Liberaler und darüber hinaus ein keineswegs polemischer oder respektloser Kritiker des MarxismusMarxismus, marxistisch. Philosophisch steht er dem Neukantianismus und der PhänomenologiePhänomenologie nahe. Das lässt sich an den Leitmotiven seiner Kulturtheorie sehr gut demonstrieren: Dignität der einfachen DingeDinge. Schlüsselbegriffe seines Denkens sind ferner Begriffe wie FunktionFunktion, RelationRelation und Wert. SimmelSimmel, Georg hat auch als Erster jenes Phänomen beschrieben, das man in der Systemtheorie als AusdifferenzierungAusdifferenzierung, ausdifferenziert bezeichnet. Es besagt, dass moderne Gesellschaften, die in mancher Hinsicht kulturell womöglich homogener sind als vormoderneModerne, modern, -moderne (SpracheSprache, allgemeine BildungBildung), funktional besehen komplexer sind und im Verlauf ihrer Entwicklung immer neue gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Subsysteme mit eigenen Spielregeln hervorbringen. Die gegenwärtige Aktualität SimmelsSimmel, Georg hat freilich auch mit einer Haltung zu tun, die seit der PostmodernePostmoderne, postmodern nicht nur in intellektuellenIntellektueller, intellektuell Diskursen auffällt: AmbivalenzAmbivalenz. Dieser Terminus meint nicht einfach ein Sowohl-als-Auch, schon gar nicht eine bloße Kompromisshaltung, sondern eine Unentschiedenheit, die daher rührt, dass man sich einer Welt gegenüber sieht, deren produktive und problematische Aspekte nur zwei Seiten ein und derselben Sache sind. Zum Beispiel wird nicht selten, zumeist von konservativer Seite der Orientierungs- und WerteverlustWerteverlust in den modernen Zivilgesellschaften des Westens beklagt, aber zugleich ist dieser RelativismusRelativismus, relativ SimmelSimmel, Georg zufolge der Ausgangspunkt für unsere verhältnismäßig hohe Friedfertigkeit. SimmelsSimmel, Georg Radikalität als Kulturtheoretiker besteht gerade darin, an dieser Ambivalenz unbeirrbar festzuhalten. Sie bezeichnet die unmögliche dritte Position zwischen der Affirmation des Bestehenden und jenem pauschalen Unbehagen an der Kultur, das gerade in Deutschland – politisch rechts wie links – so prominent und prekär gewesen ist. Vor diesem Hintergrund ist jene IronieIronie zu verstehen, jener Vorbehalt gegenüber der Wirklichkeit, der diese vielleicht nicht vernichtet, aber doch relativiert. Georg SimmelsSimmel, Georg Theorie der modernen Kultur unterschlägt nicht den Preis, den wir für sie bezahlen.



Die wichtigsten Arbeiten SimmelsSimmel, Georg sind in den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts entstanden. Das Verblüffende an ihnen ist, dass sie ungeachtet der zeitlichen Distanz, die wesentlichen Momente der modernenModerne, modern, -moderne liberalen, durch GeldGeld und Markt geprägten Kultur und die wichtigsten Vollzugslogiken unserer modernen LebensweiseLeben, Lebens-, -leben beschreiben. Sie lassen sich noch immer als eine theoretische Landkarte unserer Kultur lesen. Um diese erstaunliche Aktualität zu begreifen, braucht man nicht auf irgendeine Genialität zu verweisen, obschon SimmelsSimmel, Georg Originalität, sein Gespür für die inneren Befindlichkeiten und Verschiebungen in der modernen Kultur beeindruckend sind. Vielleicht als Erster hat er das Neue an dieser modernen Kultur des Geldes, die sich nach den historischen Krisen und Katastrophen (Erster Weltkrieg, StalinismusStalinismus, FaschismusFaschismus, NationalsozialismusNationalsozialismus) wieder etabliert und entwickelt hat, erfasst, zu einem Zeitpunkt, als dieses Neue noch wahrnehmbar gewesen ist. Heute fällt es uns schwer, diesen dramatischen Wandel überhaupt zu erfassen, den SimmelsSimmel, Georg Schriften so penibel beschreiben und analysieren. Aber noch jede postmodernePostmoderne, postmodern soziologische Analyse über die Erlebnis-, die Risiko- oder die Multioptionsgesellschaft3 argumentiert, explizit oder nicht, im Schatten Georg SimmelsSimmel, Georg. Im Rückblick lässt sich sogar behaupten, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebenen allgemeinen Tendenzen der modernen, durch das MediumMedium Geld gesteuerten Kultur erst heute voll zum Tragen kommen, unmittelbarer als zu seiner ZeitZeit, als die kulturellen Verhaltensmodalitäten aus vorangegangenen Zeiten noch nachwirkten und der LebensstilLebensstil nur an den urbanen ElitenElite, elitär der Zeit ablesbar waren. Der Untergang des ‚realen SozialismusSozialismus‘ hat entscheidend zur Beschleunigung der ökonomischen wie kulturellen Eigenlogik der HerrschaftHerrschaft des Geldes beigetragen.



Die entscheidende Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie besteht darin, dass er GeldGeld als kulturelles Phänomen und als MediumMedium, als ein Mittel begreift, das zwischen DingeDinge und Menschen tritt. Wobei dieses Medium nicht einer spezifischen, ethnischEthnie, ethnisch, religiösReligion, religiös oder sprachlich bestimmbaren Kultur (Kultur I → Kap. 1) zugeschrieben und auch nicht in seiner historischen Genese beleuchtet wird. Das Geld ist schlicht die Münzprägung einer voll entwickelten, kulturell scheinbar unspezifischen Modernität.



SimmelSimmel, Georg untersucht das GeldGeld als ein ‚MediumMedium‘ des modernen LebensLeben, Lebens-, -leben, das nicht nur die Welt der Ökonomie bestimmt, sondern eine ganz spezifische Kultur beinhaltet. Er abstrahiert, anders als etwa VicoVico, Giambattista und HerderHerder, Johann G., von der ethnischenEthnie, ethnisch DifferenzDifferenz ganzer umfassender Kulturen (Kultur I). Der – kontrastive – Zusammenhang zwischen der vormodernenModerne, modern, -moderne okzidentalen und der modernen, sich globalisierenden Geldkultur wird nicht hinterfragt; von daher lässt sich auch kaum die Frage stellen, warum bestimmte Gruppen nicht nur in der arabischen Welt die westlich-amerikanische Kultur ablehnen, weil sie als ‚modern‘ oder weil sie als kulturell different, d.h. als unvereinbar mit den Werten der eigenen Kultur empfunden wird. Im ersten Fall interpretiert man diesen Konflikt als ein Drama der Moderne, im zweiten als einen (medial inszeniertenInszenierung, inszeniert) Konflikt von Mega-Kulturen. SimmelsSimmel, Georg Analyse der modernen Kultur abstrahiert also – im Gegensatz etwa zu SpenglerSpengler, Oswald – von deren raumzeitlichem, d.h. kulturellem und historischem KontextKontext und folgt damit bis zu einem gewissen Grad dem SelbstbildSelbstbild einer Moderne, die sich als universal und globalGlobalisierung, global versteht und missversteht.



Im ersten Teil der

Philosophie des Geldes

Geld entfaltet SimmelSimmel, Georg eine Theorie des Wertes. Er beschreibt dies als einen Perspektivenwechsel, der sich zunächst innerhalb der Philosophie vollzieht. Die traditionelle Frage der Philosophie richtet sich auf die Beschaffenheit der DingeDinge und der Möglichkeit ihrer ErkenntnisErkenntnis. Diese Frage tritt bei SimmelSimmel, Georg in den Hintergrund, zugunsten einer ganz neuen Frage, nämlich der Frage unseres

Verhältnisses

zu den Dingen. An die Stelle eines substanziellen Denkens, das eben nach dem Seinsgrund der Dinge fragt, tritt also ein funktionales und relationales Denken, das die vielfältigen Beziehungen untersucht, die wir zu ihnen unterhalten. Das, was der Mensch bislang für wesentlich hielt, tritt in den Hintergrund. Die Frage der Wertigkeit der Dinge bildet demgegenüber den philosophischen Nucleus der

Philosophie des Geldes.

SimmelSimmel, Georg legt dabei nahe, dass dieser Übergang vom Sein zum Wert, von der Substanz zu RelationRelation und FunktionFunktion idealtypisch den historischen Weg in die moderneModerne, modern, -moderne GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich beschreibt.



Nun erfolgt der nächste Schritt in SimmelsSimmel, Georg Gedankengang. SimmelSimmel, Georg stellt sich nämlich die Frage, was es heißt, den Dingen einen Wert zuzuschreiben. Seine Antwort lautet verblüffend einfach: Werten bedeutet immer, eine RelationRelation herzustellen, sich in Beziehung zu etwas oder jemandem zu setzen. Der betreffende Gegenstand, weit entfernt davon, nur ein Gegenstand interesselosen Wohlgefallens zu sein, ist mir etwas wert, d.h. ich möchte ihn gerne haben, besitzen. So beschreibt der Wert eine Beziehung zwischen Mensch und Gegenstand.



Entscheidend ist dabei mein jeweiliges BegehrenBegehren. Das BegehrenBegehren des SubjektsSubjekt nach dem Gegenstand manifestiert sich demnach im Wert. Die heutige WerbungWerbung, die genau um dieses Zusammenspiel von BegehrenBegehren und Wert weiß, drückt dies direkt in ihren Slogans aus, so etwa wenn das deutsche Modell Claudia Schiffer – die Bezeichnung Modell beschreibt übrigens höchst exakt den formenden Aspekt – im Anschluss an eine Werbung für teure Kosmetika in entwaffnend naiver Weise sagt:

Weil ich es mir wert bin.

Hier wird übrigens schon ein Moment magischer Verdopplung sichtbar: Es geht um den Begehrens-Wert eines kosmetischen Produkts, der sich auf das Subjekt überträgt, das – so lautet wenigstens die Logik im Verhältnis von Mensch und AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags--ArtefaktArtefakte – damit nicht nur das betreffende Kosmetikum, sondern zugleich dessen vermeintliche Exklusivität begehrt und mit dem Kauf seinen Eigenwert erhöht.

 



SimmelSimmel, Georg ist der klassische Vertreter einer subjektivenSubjektivität, subjektiv Werttheorie, die den Wert im BegehrenBegehren des einzelnen Menschen verortet. Ein Gegenstand, den niemand begehrt, verliert seinen Wert und verschwindet als nutzloser Plunder vom Markt, wobei er als nostalgischer Tand wiederum ‚attraktiv‘ werden kann. Aber er hat damit seinen Charakter völlig geändert. Ein anderes anschauliches Beispiel liefert das Phänomen der Kunstauktion. Wenn ein Bieter unbedingt einen Goya, einen Schiele, einen van Gogh oder einen Cezanne sein eigen nennen möchte, dann steigert sich analog zu diesem BegehrenBegehren der Wert des betreffenden Gemäldes und wird ihn – bei entsprechendem Geldpolster – dahin bringen, ein Vielfaches des ursprünglichen Mindestgebots zu bezahlen. Dass heute die schillernden Produkte der Bildenden KunstKunst, Kunstwerk an Repräsentativkraft etwa das BuchBuch (als Medium) oder eine digitale Schallplatte (CD) weit übertreffen, hat mit der Einmaligkeit des auratischen DingeDinges – des bildenden Kunstwerks – zu tun.



Es ist aufschlussreich, SimmelsSimmel, Georg Theorie des GeldesGeld mit jener von MarxMarx, Karl zu vergleichen. Ganz offenkundig stellt seine Theorie ganz bewusst ein Gegenmodell zu dessen objektiverobjektiv, Objektiv- Geldtheorie dar. MarxMarx, Karl‘ Theorie ist bekanntlich dualistisch: Jede Ware hat einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. Ohne Gebrauchswert kein Tauschwert. Aber der Wert einer Ware bemisst sich für MarxMarx, Karl, den revolutionären Schüler des liberalen schottischen Ökonomen Adam Smith, nicht nach dem subjektivenSubjektivität, subjektiv BegehrenBegehren. Das Maß für den Wert eines Gegenstands auf dem Markt liefert die (gesellschaftlichGesellschaft, gesellschaftlich durchschnittliche) Arbeitszeit, die zu seiner Herstellung benötigt wurde, weshalb man diese Theorie des Werts auch Arbeitswerttheorie nennt. Während MarxMarx, Karl den Wert vom Standpunkt der Produktion aus sieht und in der Distribution ein variables Epiphänomen betrachtet, konzentriert sich SimmelsSimmel, Georg Philosophie des Geldes genau auf den Bereich, wo das Verhältnis des Menschen zu den Dingen sichtbar in Erscheinung tritt: auf die Distribution. BegehrenBegehren, sagt man, macht blind. Aber der Mensch, dieses nach den Dingen greifende und begehrende Lebewesen, ist keineswegs verrückt, auch wenn er etwa als Modenarr bezeichnet wird; vielmehr ist sein irrationales BegehrenBegehren mit einem durchaus kühlen und logischen Kalkül gepaart.



Die SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv des Menschen in der Geldkultur geht mit einer wachen und wachsenden Zweckrationalität einher. Das GeldGeld, das den direkten Warentausch überwindet, ist selbst schon ein Abstraktum, dessen einziger Wert darin besteht, wie MarxMarx, Karl zu Recht betont, dass es ein universelles Tauschmittel ist. Oder anders, nämlich kulturwissenschaftlicher formuliert: Es ist das MediumMedium unseres Begehrens.



Die erste ‚Abstraktion‘ besteht also darin, dass ich für etwas arbeite, das ich selbst nicht begehre, das aber andere begehren, so dass ich mir das kaufen kann, was ich eigentlich wirklich begehre. Es sind aber andere Abstraktionen im zeitlichen Maßstab denkbar. Ich möchte unbedingt einen Gegenstand – ein Luxusauto, eine schöne Wohnung, den neuesten Computer –, aber ich habe nicht das entsprechende GeldGeld, um mein BegehrenBegehren zu stillen: Miete, Kredit und Leasing machen das Unmögliche möglich.



In diesem dynamischen Prozess zunehmender Abstraktion wird die Barzahlung zum steinzeitlichen Akt deklariert (wie in einer WerbungWerbung für die Visa-Card); das GeldGeld verflüchtigt sich imaginär in die Visakarte. Die Karte, die das Geld unsichtbar macht, wird mit dem Akt des Sehens verknüpft, das im Wort „Visum“ steckt. Die Visa-Karte ist ein kultureller Sichtvermerk für die mit dem Geld vollzogene kulturelle Abstraktion. Dabei wird der durch das Geld repräsentierte Prozess des Wertens und Tauschens zum Selbstzweck. Im Tausch manifestiert und inszeniertInszenierung, inszeniert sich das BegehrenBegehren dessen, der es sich leisten und der es realisieren kann.



Im zweiten Teil untersucht SimmelSimmel, Georg nun den modernenModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben. Das schließt die These mit ein, dass das GeldGeld, weit davon entfernt, ein neutrales MediumMedium zu sein, selbst ein kulturell prägender Faktor ist, der nicht nur das WirtschaftslebenLeben, Lebens-, -leben und die PolitikPolitik bestimmt, sondern auch unsere LebensformenLeben, Leben