Heilung

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Aus der Reihe: Paráklesis #18
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3. Krankheit und Heilung bei Jesus

3.1. Jesu doppelter Auftrag

Wenn man den Hintergrund der Hoffnung Israels kennt, wird auch verständlich, was in der Synagoge in Nazareth geschah, als Jesus, nach der Darstellung des Lukasevangeliums, zu Beginn seiner Wirksamkeit (4,16ff) die Schriftrolle öffnete und Jesaja 61,1f vorlas. Für die Hörer verband sich mit diesem Text die Erwartung, Jesus werde nun zu ihnen über die kommende, erhoffte Heilszeit und über den Messias als den Boten, der diese Heilszeit ankündigen soll, sprechen. Aber gerade das geschieht nicht. Jesus sagt: Jetzt, jetzt ist es soweit. »Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren« (4,21). Er selbst ist der Freudenbote, der mit dem Geist gesalbte Prophet, der Messias. Die von Israel erhoffte Heilszeit bricht nun herein.

Im weiteren berichtet das Evangelium davon, dass Jesus dem ihm bestimmten doppelten Auftrag auch gerecht wird. »Ich muss das Evangelium vom Reiche Gottes verkündigen; denn dazu bin ich gesandt« (4,43; man beachte, wie genau hier Jesaja 61,1f anklingt).

Diese Predigttätigkeit ist jedoch begleitet von einer umfassenden Heilungstätigkeit. »Als aber die Sonne unterging, brachten alle, die Kranke hatten mit mancherlei Leiden, sie zu ihm; und er legte jedem von ihnen die Hände auf und heilte sie« (4,40). Es wäre ein entscheidendes Missverständnis, würde man die Heilungen Jesu für bloße Zeichen der Freundlichkeit Gottes halten, die irgendwie, gar als Machtdemonstrationen, zur Predigt als dem eigentlichen Auftrag Jesu noch hinzukämen. Nein, Jesu Predigt und Jesu heilendes, helfendes Tun sind eine unlösbare Einheit, aus der uns kein Element in den Hintergrund treten darf.12 Es entspricht einer starken geistesgeschichtlichen Tradition, in der wir stehen, wenn wir Jesu Predigt für das alles Entscheidende halten und dem gegenüber Jesu Heilungen, seine Wundertaten nur nebenbei erwähnen, sie aber im Grunde für entbehrlich halten. Man sieht in ihnen bestenfalls noch »Illustrationen« der Botschaft Jesu. Illustrationen mögen interessant sein, sind aber doch unwesentlich. Das Entscheidende liegt, wie man meint, »im Wort allein«. Das klingt zunächst ganz reformatorisch. So werden aber Jesu Wort und Jesu Tun, die doch unlösbar zu einer Einheit zusammengehören, auseinandergerissen und sogar in Gegensatz zueinander gestellt. Mit der Bibel selbst hat solche Argumentation nichts zu tun. Viel eher kann man behaupten, dass für die Bibel das Verhältnis zwischen Wort und Werk Jesu umgekehrt liegt. Es ist das Tun Jesu, das seiner Botschaft den eindeutigen und damit verpflichtenden Charakter verleiht (vgl. Johannes 10,37f; 15,22–24).

3.2. Sehen und Hören

An einem Bericht soll uns dieser doppelte Aspekt der Wirksamkeit Jesu etwas deutlicher werden. Als Johannes der Täufer von Herodes (Antipas, dem Sohn Herodes des Großen) gefangengenommen wurde, hörte er im Gefängnis von den »Werken Christi« (Matthäus 11,2). Da Johannes, wie uns seine Botschaft gut zeigen kann, den Kommenden als den Bringer des großen Gerichtes erwartet und angekündigt hat13, wird er angesichts der Heilstaten Jesu unsicher. Ist es doch noch nicht soweit? Hat er sich in Jesus getäuscht?

»Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?«, so lautet die Anfrage, die aus dem Gefängnis zu Jesus kommt. Lukas erzählt uns dazu: »In jener Stunde heilte er viele von Krankheiten und Qualen und vielen Blinden schenkte er das Augenlicht« (Lukas 7,21). Das sollen die Jünger des Johannes ihrem Meister berichten, und zwar mit Worten, die genau im Anklang an jene alttestamentlichen Stellen formuliert sind, die von der kommenden Endzeit nicht als von einer Gerichts-, sondern als einer Heilszeit sprechen: »Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde werden sehend, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird die frohe Botschaft gebracht …« Beachten wir: Die Jünger des Johannes werden nicht mit Worten, nicht mit einer theologischen Erklärung abgefertigt. Sie sollen sagen, was sie gesehen und gehört haben. Beides ist entscheidend, denn beides gehört unlösbar zusammen. Der Anbruch des Reiches Gottes zeigt sich nicht darin, dass Jesus diesen Anbruch bloß predigt. Das könnte jeder andere auch tun. Man wüsste nicht, ob es sich um einen rechten oder um einen falschen Propheten handelt. Dass das Reich Gottes wirklich anbricht, nimmt man erst wahr, wenn man sieht und hört. Darum erfolgt auf die Anfrage der Hinweis auf die Taten Jesu, die genau das erfüllen, was das Wort der Verheißung im Alten Testament versprochen hat. Jesus erweist sich durch sein Tun als Erfüller des Verheißungswortes.14 »Wieder sind das Hören und das Sehen die Vorgänge, die die Gewissheit zu begründen vermögen … Gottes Königtum wird nicht nur mit Worten beschrieben, sondern wird im Wirken offenbar« (Adolf Schlatter).15

Heute sagt man gerne, die Taten Jesu, vor allem seine Wunder, seien zweideutig und würden erst für den Glaubenden eindeutig. Das klingt für unser Denken verlockend, entspricht aber in keiner Weise dem biblischen Zeugnis. Was Jesus getan hat, das konnte man, auch als Nicht-Glaubender, sehen. Und wer hat denn zur Zeit von Jesu öffentlicher Wirksamkeit schon an ihn geglaubt? Daran aber, dass man sehen und dieses Sehen mit dem Schriftwort verbinden konnte wie die Johannesjünger, daran sollte und konnte man zum Glauben kommen. Gerade das Sehen-Können stellt in eine Verantwortung, die letztlich unausweichlich ist und den Unglauben unentschuldbar macht. »Hätte ich nicht die Werke unter ihnen getan, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; nun aber haben sie sie gesehen und haben doch sowohl mich als meinen Vater gehasst« (Johannes 15,24; vgl. 10,37–38).16

3.3. Sünde und Krankheit in der Sicht Jesu

Haben wir anhand des Alten Testamentes gesehen, dass Krankheit in enger Verbindung mit Sünde steht, Heilung also mit Sündenvergebung zusammenhängt, so werden wir fragen müssen, ob sich bei Jesus diese Sicht der Krankheit durchhält, oder ob sich das Bild irgendwie ändert.

Die Evangelien berichten von der Heilung des Gelähmten, den seine Freunde durch das aufgedeckte Dach zu Jesus bringen (Markus 2,1–12 par.). Natürlich erwarten die Freunde die Heilung des Mannes. Zunächst aber erfolgt durch Jesu Wort etwas anderes. »Mensch, deine Sünden sind dir vergeben!« Diese Art der Formulierung (im grammatischen Passiv, dem sogenannten »passivum divinum«) bedeutete für den damaligen Hörer, dass Jesus dem Mann Gottes vergebendes Handeln direkt zuspricht. Das zwingt die anwesenden Schriftgelehrten zum Protest. Wie kann denn Jesus die Vergebung, die endgültig von Gott im letzten Gericht verkündet werden wird, bereits jetzt als von Gott ergangen zusprechen? »Wer ist dieser, der Lästerungen redet? Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein?« (Lukas 5,21 b).

Hinter diesem Gedankengang haben wir die Aussage von Psalm 103,3 zu erkennen: »Lobe den Herrn …, der dir alle deine Sünden vergibt.« Schon Jesu Zuspruch ist anhand dieses Wortes formuliert, aber auch der Protest der Schriftgelehrten geht von diesem Psalmtext aus. Wie soll es in dieser Frage zu einer Lösung kommen? Nimmt Jesus zurecht den Zuspruch der Vergebung vorweg? Der Psalm gibt uns einen Hinweis. Er sagt ja im selben Atemzug von Gott aus, dass er »alle deine Sünden vergibt und alle deine Gebrechen heilt«. Die darauffolgende Heilung des Mannes wird so zum Erweis, dass im Menschen Jesus von Nazareth Gott selbst als der Vergebende und Heilende nach Psalm 103,3 in die Welt gekommen ist und nun vor den Menschen steht. Die Heilung ist keine weniger wichtige und darum vielleicht entbehrliche Draufgabe zur alles entscheidenden Sündenvergebung. Nein, die Heilung tritt als zweiter Teil des umfassenden heilenden Handelns Gottes, das den ganzen Menschen meint, zur Sündenvergebung hinzu.17 Jesus war mit dem Wort der Bibel, unserem Alten Testament, als dem Wort seines himmlischen Vaters zutiefst vertraut. Er hat darin die Stimme seines Vaters vernommen und anhand der Schrift seinen Weg, den er zu gehen hatte, erkannt.18 Mit der Schrift hat er auch die Sicht vom Zusammenhang von Sünde, Krankheit und Tod geteilt, auch wenn er sich dagegen gewehrt hat, das Wie dieses Zusammenhanges im konkreten Fall für Menschen durchsichtig zu machen.19

3.4. Die Vertiefung der alttestamentlichen Sicht

Jesus hat ganz vom Alten Testament her gelebt, in gewissem Sinn aber seine Aussagen vertieft. So hat er die alttestamentliche Sicht der Krankheit unlösbar mit dem Endkampf Gottes gegen den Bösen verbunden. Hinter Krankheit und Sünde, die das Leben der Menschen zerstören, wird das Werk des »Menschenmörders von Anfang an« (Johannes 8,44) sichtbar. So ist Jesus nach dem Zeugnis des 1. Johannesbriefes dazu gekommen, »dass er die Werke des Satans zerstöre« (3,8).20 Damit erweist sich jede Deutung der Heilungen als bloße »Zeichen der Freundlichkeit Gottes« als unzureichend. Es sind Kampfhandlungen, die in den größeren Zusammenhang der Überwindung und Entmachtung des Bösen gehören und mit dem Einbruch des Reiches Gottes in den Machtbereich des Bösen unlösbar verknüpft sind.21

Am Umgang Jesu mit der Krankheit wird das sogleich sichtbar. Nach Lukas 4,38f liegt die Schwiegermutter Simons mit schwerem Fieber darnieder. Von Jesus heißt es an dieser Stelle, er habe das Fieber »bedroht«. Es ist ein Ausdruck, der sonst bei der Austreibung der Dämonen verwendet wird (z. B. Lukas 4,35).22 Fieber erscheint nicht als eine mehr oder weniger normale Reaktion des Körpers, z. B. auf eine Infektion. Es ist keine Erscheinung, die als normale Lebensäußerung in den Bereich der guten Schöpfung Gottes gehört. Daran wird die Wirkung des Bösen sichtbar, der diese Schöpfung Gottes zerstören will. Darum wird das Fieber von Jesus bedroht und muss weichen.

 

Einer kleinen Notiz bei Lukas sollten wir Beachtung schenken. Er sagt, die Frau habe »starkes Fieber« gehabt. Wie sehr solches Fieber einen Menschen schwächt, wissen wir. Und doch stand sie, wie Lukas betont hinzufügt, nach der Heilung »sofort auf und diente ihnen«. Die Heilung Jesu greift in viel tiefere Schichten des Menschseins, als das durch unsere »Heilungen« geschehen kann. Ähnlich klingt der Bericht, den Lukas uns von einer Frau gibt, die achtzehn Jahre »verkrümmt« und »nicht imstande (war), sich ganz aufzurichten« (Lukas 13,10–17). Das Krankheitsbild weist auf eine schwere Deformation der Wirbelsäule. Der Text selbst blickt jedoch tiefer. Sie habe einen »Geist der Krankheit« gehabt. Ja, Jesus spricht nach der erfolgten Befreiung – sie wurde unter Handauflegung sofort wieder gerade – davon, es sei Satan gewesen, der diese Frau achtzehn Jahre lang gebunden gehalten habe.23 Für Jesus wird hinter der Krankheit nicht allein die Sünde der Menschen oder die Sündhaftigkeit der Welt sichtbar. An Sünde und Krankheit wird die in sich geschlossene Herrschaft Satans erkennbar, die nun, da die Herrschaft Gottes in die Welt kommt, gebrochen wird.

3.5. Der Sieg über den »Starken« (Markus 3,27)

Von diesem Hintergrund her wird das Wort Jesu in Markus 3,27 par. wichtig. »Niemand kann in das Haus des Starken (gemeint ist der Satan) hineingehen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuvor den Starken bindet; erst dann wird er sein Haus ausrauben.« Genau das geschieht in Jesu Wirksamkeit. Werden die Heilungen und Wunder Jesu einfach als helfende Taten, als Freundlichkeiten angesehen, so ist das eine verhängnisvolle Verkürzung, die den Aussagen des Neuen Testamentes nicht gerecht wird. Nein, hier ist über den Starken, über Satan, der noch Stärkere »gekommen und hat den entscheidenden Sieg errungen« (Otto Michel).24

Es handelt sich hier um ein Bildwort, in dem uns Wesentliches über die Auseinandersetzung Jesu mit dem Bösen gesagt ist, ohne dass wir dabei die Bildhaftigkeit zugunsten rationaler Denkformen abstreifen könnten. Gesagt ist uns, dass es sich beim Bösen um eine umfassende, zusammenhängende und differenzierte »Organisation«, um ein »Hauswesen«, handelt, das hierarchisch strukturiert ist und an dessen Spitze der »Starke« steht. Der Einbruch an der zentralen Stelle, die Bindung des »Starken«, zieht Einbrüche auch an anderen Stellen nach sich. Diese Aussage ist wichtig, da sie uns zeigt, dass es sich bei den Heilungen und den Dämonenaustreibungen nicht um vereinzelte Einbrüche in das Reich Satans handelt. In diesen einzelnen Taten kündigt sich zeichenhaft der entscheidende Sieg, die angebrochene Heilszeit und die beginnende Vernichtung Satans an.25 Wichtig ist auch, dass in dem Bildwort der Kampfcharakter dieses Geschehens herausgestellt wird. Es handelt sich nicht um Alltäglichkeiten, sondern um einen »Raubzug«. Davon weiß das ganze Neue Testament.

Das dritte, zu dem uns dieses Bildwort führen will, ist die Einsicht, dass das Böse auch in seiner Form als Krankheit weit über unsere Wirklichkeit in die unsichtbare Welt hineinreicht. Ja, der entscheidende Kampf und Sieg Jesu wird über das Böse in dieser umfassenden Dimension geführt und errungen. Das bedeutet, dass die Heilungen Jesu nicht nur mit dem Bereich unserer sichtbaren Schöpfung zu tun haben, sondern gewissermaßen tief in den Bereich der unsichtbaren Welt hineingreifen.26

3.6. Sieg, Kampf und Transzendenz

An weiteren Aussagen des Neuen Testaments müssen wir unsere Sicht vertiefen. Jesus hat seine Jünger ausdrücklich mit der Vollmacht zur Heilung und zur Dämonenaustreibung ausgestattet.27 »Die Vollmacht über die Geister kehrt in den Sendungslogien ständig wieder und ist geradezu ein Kennzeichen dieser Worte« (J. Jeremias).28

»Warum Jesus den Dämonenaustreibungen der Boten so großes Gewicht beilegt, zeigt der Jubelruf, mit dem Jesus auf den Bericht der zurückkehrenden Jünger, dass auf ihr Wort die Geister weichen mussten, antwortet: … (Lukas 10,18) ›Ich sah, wie Satan, jählings aus dem Himmel ausgestoßen, wie ein Blitz auf die Erde herabfiel‹« (J. Jeremias).29

Was sich auf der Erde in Heilung und Dämonenaustreibung vollzieht, hängt mit Vorgängen in der himmlischen Welt zusammen. Den Hintergrund zeigt uns die Aussage der Offenbarung, die uns ebenfalls vom Sturz Satans aus dem Himmel erzählt (12,7ff), dazu aber auf drei Dinge hinweist, die in einem eng geschlossenen Zusammenhang stehen. Einmal ging dem Sturz Satans auf die Erde ein Kampf in der Himmelswelt voraus (12,7–9), andererseits führt er zu einer gesteigerten, gezielten und auf der Erde umfassend entfalteten Wirksamkeit des Bösen, der von Gott selbst Raum gegeben ist (12,12). Beide auf den Satan bezogenen Aussagen werden jedoch vom himmlischen Jubel begleitet. Es sind der endzeitliche Herrschaftsantritt Gottes und die Machtübernahme durch seinen Gesalbten, den Messias, die diese vermehrte Wirksamkeit Satans auf der Erde auslösen. »Jetzt ist das Heil und die Kraft und die Herrschaft unserem Gott zuteil geworden und die Vollmacht seinem Christus. Denn der Ankläger unserer Brüder wurde hinabgeworfen … « (12,10).

Wir werden hier in der besonderen Sprache und Vorstellungswelt der Offenbarung auf die Transzendenz dieses Geschehens hingewiesen. Was sich in unserer sichtbaren Welt vollzieht, ist nicht die volle, nicht die einzige Wirklichkeit. Die Herrschaft Gottes, aber auch die Machtentfaltung des Bösen haben eine uns verborgene Dimension innerhalb der unanschaulichen Welt. Zu dieser Einsicht versucht die Bibel die Menschen zu erziehen. Es gehört zu den Schwächen der Christenheit, dass sie die Bindung an biblische Transzendenz nicht durchhält, ja sich den Zugang dazu durch rationale Denkformen noch verbaut. Damit ist auch die Einsicht in die biblisch bezeugte transzendente Dimension des Bösen verstellt. Die Kirche hat aber gerade in ihren Kämpfen immer gewusst, dass der ihr aufgetragene Kampf »nicht gegen Fleisch und Blut« allein geht, sich also nicht allein auf der Ebene der sichtbaren Schöpfung vollzieht.30

Auch eine zweite Einsicht muss uns deutlich werden. Die biblischen Texte sprechen zunächst nicht von einem Kampf, sondern halten die Aussage vom einmal erworbenen, entscheidenden und endgültigen Sieg Jesu durch. Er wird auch durch einzelne Niederlagen nie mehr in Frage gestellt. Der endgültige Sieg liegt immer hinter der Gemeinde Jesu und nur so auch vor ihr. Der Sieg Jesu über das Böse beendet jedoch nicht den Kampf, sondern bringt ihn paradoxerweise erst recht in Gang, und zwar in einem ungeheuren, menschlich ungeahnten und unausdenkbaren Maß. Dem Sturz Satans aus dem Himmel folgt die Entfaltung der satanischen Wirksamkeit auf der Erde. Das Neue Testament weiß um die Herrschaft des Satanischen und seine Entfaltung in unserer Welt auch und gerade nach Kreuz und Auferstehung Jesu.31 Gott hat nicht versprochen, seine Gemeinde aus dem damit einsetzenden Kampf herauszunehmen, wird ihr aber bewahrend beistehen und sie hindurchtragen (Offenbarung 12,13–17). Da der Kampf sich in besonderer Weise gegen die Gemeinde zuspitzen wird (12,17), wird derjenige verloren sein, der das Wort vom Sieg Jesu, vom feststehenden Herrschaftsantritt Gottes nicht durchhält (13,8–10).

Ohne diesen Hintergrund, der uns hier in seinen Zusammenhängen aufgezeigt und gedeutet wird, ist ein letztes Verständnis des Ganges unserer Geschichte, der Vorgänge in unserer Zeit, ja auch der Ereignisse, die sich in unserem eigenen Leben vollziehen, unmöglich. Wir stehen innerhalb von schweren Krisen, die über die Menschheit hereinbrechen. Dabei haben wir es mit Vorgängen zu tun, die sich jedem Versuch, sie rein rational zu durchdringen, verschließen. Das Maß des menschlich noch Verstehbaren ist längst gesprengt. Es ist, so deutet die Offenbarung diese Entwicklungen, gerade der Anbruch der Gottesherrschaft, der diese Gegenbewegung des Bösen hervorruft und das Böse aus seinen Tiefen an die Oberfläche des Weltgeschehens heraufkommen lässt.32 Diese Vorgänge vollziehen sich umfassend im Bereich der Volks- und Weltgeschichte, greifen in ihren Auswirkungen aber tief in die Lebensgeschichte der Menschen hinein. Es handelt sich um einen Prozess ständiger Steigerung. »Jeder Versuch, das Böse ernstzunehmen, (wird) auf Gegenwehr des Bösen stoßen … Jeder Sieg über das Böse verschlimmert die Situation für die Folgezeit« (Otto Michel).33

Der Gang des Evangeliums soll nach der Verheißung Jesu von den Zeichen der Herrschaft Gottes, die die Überwindung des Bösen zeichenhaft sichtbar machen, begleitet werden (Markus 16,17ff).34 Das bedeutet konkret, dass die Kirche nie nur zu predigen hat. Sie hat immer im Ringen mit all den Kräften, die sich der Herrschaft Gottes entgegenstellen, den Sieg Jesu zu bekennen, ihn zu bewahren und an seiner Verheißung unbeirrt festzuhalten. Es ist vor allem der Weg des Evangeliums durch die Geschichte bis heute gewesen, der in besonderer Weise den Widerstand des Bösen herausgefordert hat und es noch tut, auch wenn sich die Formen, in denen uns das Böse begegnet, im Laufe der Geschichte bzw. im Übergang zu verschiedenen Kulturen wandeln.

Wichtig für uns ist, dass wir in den damit verbundenen Auseinandersetzungen, vor allem in der Anfechtung, am erworbenen und endgültigen Sieg Jesu festhalten, von daher unseren Kampf führen lernen und uns den Blick für die Transzendenz dieses Geschehens nicht verstellen lassen.35

Wir erkennen an dieser Stelle, dass das Thema der Krankenheilung nicht isoliert abgehandelt werden kann. Es steht in der Bibel in viel weiteren Zusammenhängen und führt bewusst in diese Zusammenhänge hinein. Es gehört zu den Schwächen der meisten vorhandenen Arbeiten zu unserem Thema, dass diese Zusammenhänge entweder kaum gesehen oder sonst nur ungenügend deutlich gemacht werden. Damit kommt es zu Verkürzungen, die der Bibel nicht gerecht werden und sich für die Praxis als hinderlich erweisen.

3.7. Krankheit und Dämonie

Kehren wir zu den Berichten der Evangelien über die Wirksamkeit Jesu zurück. Jesu Wort vom Binden des Starken (Markus 3,27)36 spielt auf ein alttestamentliches Wort an, das den ersten Hörern sofort klar vor Augen stand (Jesaja 49,24f). Es meint im Zusammenhang des Evangeliums die Austreibung von Dämonen, die Befreiung von Besessenen.

Für unser Denken handelt es sich hier um zwei Bereiche, die zu unterscheiden sind. Einerseits sprechen wir von »normalen« Krankheiten, andererseits von besonderen »okkulten«, vielleicht sogar von »dämonischen« Bindungen. Diese Unterscheidung hängt mit unserer Geistesgeschichte zusammen, bleibt aber für unseren Umgang mit der Bibel problematisch. Eine Grenzziehung stößt auf Schwierigkeiten.

Einmal konnte man in der Umwelt des Neuen Testamentes hinter Krankheiten Dämonen und unreine Geister als Verursacher sehen. Im Neuen Testament selbst scheinen verschiedene Aussagereihen parallel zu bestehen. Manche Texte verbinden Aussagen über Besessenheit mit konkreten Krankheitssymptomen.37 In anderen werden dieselben Krankheiten genannt, ohne dass der Text einen Hinweis auf Dämonie enthält. Die Zurückführung jeder Krankheit auf die Einwirkung von Dämonen scheint eher verwehrt.38 Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den Vorgang des Heilens durch Jesus betrachtet. Manche Aussagen über Jesu heilendes Handeln scheinen ganz einer Dämonenaustreibung zu gleichen (z. B. Lukas 4,39; 13,10ff). Dabei kann man fragen, ob es sich nicht doch um Krankheiten handelt (vgl. die Parallelen zu Lukas 4,39 bei Matthäus und Markus). Andererseits gibt es Aussagereihen, die offensichtlich zwischen Heilungen und Dämonenaustreibungen unterscheiden. Eine strenge Systematisierung des Befundes scheitert daran, dass das Neue Testament zwar Hinweise auf Grundakzente gibt, selbst aber an einer Systematisierung nicht interessiert scheint. Über unsere unmittelbare Fragestellung hinaus ist für das Neue Testament eine Voraussetzung grundlegend. Hinter beiden, den »natürlichen« und den »dämonischen« Schwächezuständen wird die eine, Gottes Schöpfung zerstörende Macht Satans sichtbar, die im Anbruch des Reiches Gottes entmachtet wird. »Dazu ist der Sohn Gottes erschienen, dass er die Werke des Teufels zerstöre« (1. Johannes 3,8). Die Unterscheidung zwischen Krankheit und dämonisch verursachtem Schwächezustand besteht zurecht, scheint aber nicht streng durchführbar zu sein. Die Grenzen sind zumindest fließend. Beide sind vom Kampf Jesu um die Aufrichtung und Durchsetzung der Herrschaft Gottes betroffen. Darum gehören in unsere Überlegungen über die Krankenheilung die Berichte über die Dämonenaustreibungen mit hinein.

 

Nach der Verheißung des Alten Testamentes, die Jesus (nach dem Bericht des Lukas 4,18) zu Beginn seiner Wirksamkeit in Nazareth zitiert, werden mit dem Anbruch des Reiches Gottes »die Bande gelöst« werden (Jesaja 61,1).39 Unter den »Banden«, die im Text genannt sind, hat man einerseits das Binden Satans in Dämonie, vor allem in der Form der Besessenheit,40 andererseits die »Banden des Todes« (vgl. Psalm 18,5; 116,16 u. a.) verstanden, die ja in Form der Krankheit mitten in unser Leben hereinschlagen. Es zeigt sich, dass Jesus in den Prozessen der Krankheit eine Macht am Werk gesehen hat, die sich zerstörerisch gegen den Menschen und damit letztlich gegen Gott erhebt. Diese Macht kann so stark über einen Menschen kommen, dass er zeitweilig oder ganz seiner eigenen Persönlichkeit beraubt wird. Auch unsere Erfahrung, die sich in unserer Sprache niederschlägt, wird diese Sicht bestätigen. Schon ein Fieber kann uns »regelrecht überfallen« und in kürzester Zeit unsere ganze Kraft rauben. Stimmungen »kommen irgendwie über uns« und »wir mussten einfach …«. Der Umgang mit suchtkranken Menschen zeigt uns, dass man mit Therapie und mit Medikamenten manche Hilfe leisten kann. Die Mächte, die zum Konsum von Drogen treiben, werden aber nicht gebrochen. Trotz großem Einsatz an Zeit, Menschen und Mitteln bleiben die Heilungserfolge äußerst gering.

Jesu heilendes Handeln greift nicht bloß die Krankheit an, sondern greift hinter sie zurück und bindet die Mächte, die hinter dieser Krankheit stehen. Erst dadurch wird ein Mensch wahrhaft frei. Es zeigt sich erneut, dass die Heilungen ein Teil seines Kampfes gegen den Bösen sind, der sich aufgemacht hat, die gute Schöpfung Gottes zu zerstören. Jesus bringt die Herrschaft Gottes, die neue Schöpfung.

3.8. Warum heilte Jesus am Sabbat?

Die bisher gewonnenen Einsichten können uns zu einer Antwort hinleiten, warum Jesus ausgerechnet am Sabbat geheilt hat. Für den Sabbat galt ja, vom biblischen Gebot her, das Arbeitsverbot. Heilen aber fiel als Tätigkeit des Arztes unter die Liste der Arbeiten, die am Sabbat gemieden werden mussten. Man muss sich ja tatsächlich fragen, warum denn Jesus bei der Frau, die achtzehn Jahre vom Satan gebunden war, nicht noch einen Tag zugewartet und so das religiöse Gefühl der Menschen geschont hat. Genau so empfiehlt es ja der Synagogenvorsteher: »Sechs Tage gibt es, an denen man arbeiten soll; an diesen nun kommet und lasset euch heilen und nicht am Sabbattag!« (Lukas 13,14). Nach pharisäischer Anschauung befreite konkrete Lebensgefahr vom Arbeitsverbot. Aber das lag bei den Sabbatheilungen Jesu in keinem Fall vor. Jeder der Geheilten hätte, so denken wir, gut noch einen Tag warten können. Warum hat Jesus gerade am Sabbat geheilt?

Das rechte Verständnis scheint sich von dem alttestamentlichen Wort her zu ergeben, das wir schon betrachtet haben, von Jesaja 61,1f her. Die Botschaft, die der Gesalbte, der Messias auszurichten hat, wird dort mit dem Ausdruck »Gnadenjahr des Herrn« zusammengefasst. Was ist damit gemeint?

Israel kannte eine eigenartige soziale Vorschrift, das Sabbatjahr und das Jubel- oder Erlassjahr.41 Jedes siebte Jahr sollte der Ackerboden ruhen, also »dem Herrn einen Sabbat feiern« (Levitikus 25,2). Der hebräische Ausdruck Sabbat bedeutet ja »Ruhe«. Nach sieben Sabbatjahr-Perioden soll dann das fünfzigste Jahr als umfassendes Erlösungsjahr ausgerufen werden. Der Besitz, den die Armen hatten verkaufen müssen, wurde wieder zurückerstattet. Ja, die Israeliten, die durch Verarmung sich selbst und ihre Familien als Knechte hatten verkaufen müssen, wurden wieder frei. Der Grundgedanke war, dass damit der alte, ursprüngliche Zustand wieder hergestellt wird. »In diesem Halljahr sollt ihr ein jeder wieder zu seinem Besitz kommen« (25,13). Schulden sollen nicht endgültig sein! Verlust des Besitzes der Väter, es ging dabei vor allem um den Grundbesitz, durfte nicht die alte, von Gott gegebene Ordnung außer Kraft setzen. Es gibt ein Jahr, in dem die alte Ordnung wieder hergestellt wird. »So sollt ihr das fünfzigste Jahr weihen und Befreiung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; als Halljahr soll es euch gelten. Da sollt ihr ein jeder wieder zu seinem Besitz und ein jeder wieder zu seinem Geschlecht kommen« (25,10). Das ist es, was Jesus in der Synagoge von Nazareth als Freudenbote ausruft, wenn er den Jesajatext vorliest. Nun ist »Erlassjahr«, das Gnadenjahr des Herrn. Es ist das Jahr, in dem man wieder zur Ruhe kommen soll, zum »Sabbat« findet und wo Ordnung in unsere menschlichen Verhältnisse kommen wird. Auf diesen großen »Sabbat«, diese große Ruhezeit wartete man in Israel,42 denn dann sollte auch im Verhältnis zwischen Gott und Mensch die alte Ordnung wieder einkehren. Dieses »Erlösungsjahr« war nach den Worten Jesu angebrochen: Jetzt ist es soweit (Lukas 4,21). Die Heilungen Jesu erweisen, dass nun wirklich die »Befreiung im Lande« (Levitikus 25,10) beginnt. Nun wird gelöst, was bisher gebunden war. Die alte Ordnung wird wieder hergestellt. Wahrhaftig, die Schuld erweist sich als nicht endgültig.43

Damit allein wäre aber nicht erklärt, warum Jesus gerade am Sabbat geheilt hat. Hätte er nicht erst recht am Sabbat ruhen sollen, wenn er doch den alten Zustand der Schöpfung wiederbringen wollte? Eine letzte Antwort darauf zu geben, ist wohl nicht möglich, da die Texte des Neuen Testamentes diese Frage nicht eingehend behandeln. Eine Stelle jedoch enthält zumindest einen leisen Hinweis. Bei der Heilung der Frau mit dem krummen Rücken sagt Jesus: »Musste sie nicht am Sabbattag von dieser Fessel befreit werden?« (Lukas 13,16). Ist es gerade der Sabbat, an dem geheilt werden muss? Dem, was uns die Evangelisten über die Wirksamkeit Jesu erzählen, scheint das durchaus zu entsprechen.

Liegt die Antwort auf unsere Frage in der Schöpfungsgeschichte? Bei der Erwähnung des ersten Sabbats sagt der Text etwas Merkwürdiges. »Und Gott vollendete am siebenten Tage von all seinem Werk, das er gemacht hatte … « (Genesis 2,2). Wir würden doch denken, Gott habe an sechs Tagen die Welt geschaffen, also sein Werk auch in diesen sechs Tagen vollendet. Am siebten Tag habe er sich davon nur noch ausgeruht. Aber das sagt der Text nicht. Gott hat am siebten Tag nicht einfach geruht, sondern in dieser Ruhe über seinem Werk vollendete Gott dieses sein Schöpfungswerk. Vollenden heißt nicht »fertig machen«, sondern über dem, was fertig geworden ist, »zur Ruhe kommen«. Die Vollendung der Schöpfung, die darin besteht, dass Ruhe einkehrt, ja dass Gott selbst darüber zur Ruhe findet, vollzieht sich am Sabbat. Wenn Jesus also die Schöpfung vollenden, die alte Ordnung Gottes wiederherstellen will – und gerade das geschieht ja in seinen Heilungen –, dann gibt es dafür im Grunde nur einen Tag: den Sabbat. Das würde auch erklären, wie stark Jesus in solchem Handeln den Platz Gottes für sich in Anspruch nimmt, ja das Urteil der Menschen mit Recht hervorruft, er würde sich an die Stelle Gottes setzen (vgl. Johannes 5,17f).

3.9. Wie heilte Jesus?

Die Berichte der Evangelien zeigen eine große Vielfalt der äußeren Form des Heilens. Jesus heilt durch bloßes Befehlswort (Bedrohungen!), die manchmal auch mit körperlichen Berührungen44 verbunden sind. Relativ oft kommt es zur Handauflegung. Auch andere Formen, z. B. das Berühren der Augen des Blinden45 bzw. der Ohren und der Zunge beim Taubstummen46 werden uns berichtet. Es kommt jedoch auch zu Heilungen, indem Menschen von sich aus Jesus berühren.47 Die zehn Aussätzigen dagegen werde geheilt, »indem sie hingingen«.48 Auch Fernheilungen werden berichtet, bei denen der Kranke überhaupt nicht anwesend ist. Von den Jüngern hören wir von Salbungen mit Öl,49 die zur Heilung führen. Überblickt man die verschiedenen Formen, wird deutlich, dass es keine einheitliche »Methode« Jesu gibt. Heilung ist nicht Frage einer Methodik.