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Wolfgang Breuer

Durchgeknallt

Ein Wittgenstein-Krimi


Wolfgang Breuer

Durchgeknallt

Wittgenstein-Krimi

Cover: Flugplatz Schameder, Foto Wolfgang Breuer

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© Herbst 2016

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

info@ratio-books.de (bevorzugt) Tel.: (0 22 46) 94 92 61 Fax: (0 22 46) 94 92 24 www.ratio-books.de

eISBN 978-3-96136-002-4

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Inhalt

Mittwoch, 16. September

Eins war klar. Der Hüne, der da oben an der Straßenböschung stand, wollte Klaus jetzt endgültig ans Leder.Richtig massiv ans Leder. Und kein Schwein weit und breit, das ihm hätte helfen können.

Dem Kripo-Mann wurde gleichzeitig heiß und kalt. Schweiß rann ihm von der Stirn, tropfte auf den trockenen Boden unter ihm, in den er sich förmlich hinein krallte. Und den Rückenstrang herunter schauderte es ihn. Klaus Klaiser ging der Stift eins zu zweihunderttausend.

Aber der Typ konnte ihn wohl nicht sehen, so von oben herunter. Obwohl er keine drei Meter oberhalb von ihm stand. Die Büsche waren einfach zu dicht. Zum Glück war das linke Auge dieses Irren so zugeschwollen, dass er für die nächsten Tage wohl mehr wie ein Zyklop durch die Landschaft tapern würde. Glück für den Gesetzeshüter. Im Moment jedenfalls.

Was für ein Ekel, dieser Typ. Seine lädierte Visage glänzte in der Abendsonne. Seine überdimensionierten Bizepse mit den geschmacklosesten Tattoos, die man jemals gesehen hatte, glitzerten schweißnass. Und seine abgerissenen Klamotten klebten dort, wo sie keine Löcher hatten, an seinem gigantischen Körper. Ein dreckiger Widerling in Schwarzenegger-Ausgabe. Mit einer neun Millimeter SIG Sauer in der Rechten.

Nicht einmal eine halbe Stunde trennte Klaus von seinem vermeintlichen Triumph über den Muskelprotz und diesem Moment, in dem er sein Ende kommen sah.

Mit einem Wahnsinnstempo war dieses Arschloch durch Berghausen gerast, hatte zwei Autos beim Überholen demoliert und fast einen alten Mann mit Fahrrad über den Haufen gefahren. Der Senior hatte gerade bei Laie über die Straße in Richtung Lehmbach gewollt. Gott, war das knapp! Zum Glück verfehlte der Irre mit seinem rasenden Boliden den Mann um wenige Zentimeter und schoss nun durch Rehans´ Kurve. Dann allerdings musste er richtig Gummi auf der Straße lassen. Richtig viel Gummi.

Denn er war nicht nur viel zu schnell. Nur etwa achtzig Meter weiter, in der nächsten Linkskurve, rangierte nämlich ein Lkw mit überlangem Spezialanhänger. Um einen Riesenkran ins Neubaugebiet auf den Brunkel hinauf zu bugsieren. Die Straße war dicht. Vollbremsung!

Fahlgelbe Schwaden schossen unter den Kotflügeln des metallicblauen Porsche Panamera heraus. Und jeder gebremste Meter wurde dokumentiert durch dicke schwarze Streifen auf der Fahrbahn. Vier 265er Schlappen verloren deutlich sichtbar an Profil.

Nur ganz knapp vor dem Gespann kam er quer zum Stillstand. Mitten auf der Fahrbahn. Hauptkommissar Klaiser sah den Wahnsinnigen fluchen und toben, als er sich der Szenerie langsam mit seinem Audi näherte. Der Typ war ausgestiegen und hatte wild mit seinen Fäusten gestikulierend dem Lkw-Fahrer Schläge angedroht, wenn er die Straße nicht endlich frei mache. Klaus, der von hinten mit seinem Audi A5 heran gekommen war, interessierte ihn offenbar nicht die Bohne. Obwohl der Kripo-Mann schon seit Dotzlar immer wieder in seinem Rückspiegel aufgetaucht war. Zum Schluss sogar mit Blaulicht. Womöglich hatte er ihn in seiner Raserei überhaupt nicht registriert.

Klaiser hatte gerade seinen Dienstwagen aus der Inspektion geholt und noch schnell einen neuen Wagen vor dem Autohaus Paul angeschaut, als der Porsche mit Hochgeschwindigkeit die Straße von Sassenhausen herunter kam. Dieses unverwechselbare raue Motorengeräusch, das beim Runterschalten an ein hochgezüchtetes Kreischen erinnert, ließ ihn neugierig herumfahren. Klaus konnte gerade noch sehen, wie der Panamera ungebremst und ohne Rücksicht auf zwei Motorroller in Richtung Raumland einbog und davon raste. Vollgas, mit röhrendem Auspuff. In kürzester Zeit hatte der Wagen schon wieder mehr als hundert Klamotten erreicht. Mitten im Ort.

Die Jungs auf ihren Rollern hatten eine sehenswerte Vollbremsung hingelegt. Und das war gut so. Was hilft einem schon das Wissen um die eigene Vorfahrt, wenn man ohne Knautschzone und Airbag unterwegs ist.

Klaiser war zwar schon um halb vier am Morgen wegen eines Raubüberfalls auf einen Rotlicht-Kneipier aus dem Bett geschmissen worden. Und sein Dienst war längst rum. ‚Doch diesen Typen hier‘, dachte er sich, ‚den schaust du dir trotzdem mal genauer an. Falls du an den ran kommst.’ Auf der kurvigen Strecke am Steinbruch vorbei würde der jetzt nicht so los brettern und ohne weiteres überholen können. Da war zu dieser Zeit noch zu viel LKW-Verkehr. Die Chancen standen daher nicht gerade schlecht.

Und es klappte auch. Kurze Zeit später hing der Zivilstreifenwagen hinter dem Porsche. Davor zwei schwer mit Schotter beladene Sattelzüge. Und ständig Gegenverkehr.

Es war zwölf nach vier Uhr nachmittags. Die Büros und Kliniken im benachbarten Bad Berleburg und die Firmen in den umliegenden Orten spuckten ihre Belegschaft in Richtung Feierabend aus.

Obwohl Klaiser mit Hochgeschwindigkeit aufgeschlossen und sogar in seinem Sichtfeld ein recht haariges Überholmanöver riskiert hatte, war er dem Porsche-Fahrer wohl nicht aufgefallen. Immer wieder zog der Raser seinen Wagen leicht nach links, um dann wegen des Gegenverkehrs blitzschnell wieder einzuscheren. Nix war’s mit Überholen. Zumindest nicht bis kurz vor der Raumländer Kirche.

Dort hatte der Irre endlich eine Lücke auf der Gegenspur entdeckt. Und schon jagte er den sündhaft teuren Wagen auf Hochtouren an den Lastern vorbei. Um ein Haar wäre er in eine bepflanzte Verkehrsinsel gekracht, die er links umschiffte. Und wenige Meter weiter riss eine Mutter ihr Kind mitsamt Dreirad instinktiv in einen Vorgarten.

Der Bolide schoss vorbei und lag nun wie ein Brett in der folgenden scharfen Linkskurve auf der Straße. Diese Kurve um den Bergrücken herum muss es schon gegeben haben, als der Heilige Bonifatius hier die erste Kirche baute. Doch der Gottesmann fuhr damals allenfalls Ochsenkarren. Der Sportflitzer war da bedeutend flotter.

So schnell, wie er ihn eingeholt hatte, so schnell hatte Klaiser den Panamera wieder aus den Augen verloren. ‚Das war´s‘, dachte er. ‚Ende seines außerdienstlichen Einsatzes‘, der ihm wahrscheinlich ohnehin nicht auf dem Überstundenkonto gutgeschrieben worden wäre.

Bis zur „Klinker-Kreuzung“ gab es keine Chance mehr für ihn, an den Vierzigtonnern vorbeizukommen. Dröhnend bogen die PS-Monster mit ihrer Schotterladung dort links ab auf die B480, Richtung Hemschlar. Das schwäbische Galaprodukt in blau war da schon längst über alle Berge.

Klaiser beschloss, für heute die Schnauze voll zu haben. Er wollte heim. Duschen, mit Ute zu Abend essen und dann mit Heiner Fußball gucken. Champions League.

Die Geschichte mit dem überfallenen Puffbesitzer hatte ohnehin genug Zeit gekostet. Und Nerven. Dieser Einfaltspinsel war mit den gesamten Einnahmen der Nacht in einem Plastikbeutel quer durch die Stadt gelatscht und hatte angeblich nicht gemerkt, dass er seit Verlassen seines Etablissements von einem Kerl verfolgt worden war. Der hatte in dem Bordell sein ganzes Geld vervögelt und in Champagner für Nutten angelegt.

Kurz vor dem Nachtschalter der Sparkasse hatte der mittlerweile klamme Freier dem Rotlichtkönig dann ein mächtiges Hörnchen geklopft und ihm die Kohle trotz heftigster Gegenwehr aus den Händen gerissen. Danach war er stiften gegangen. Mehrere Tausend Euro reicher und mit zunächst unbekanntem Ziel.

Nicht aber mit unbekanntem Gesicht. Denn eine Überwachungskamera hatte das Schauspiel der gewaltsamen Geldübernahme aus dem Bankinneren heraus auf Chip festgehalten. So hatte der Hüter der leichten Damen leichtes Spiel bei der Identifizierung. Trotz einer veritablen Beule, die im Kopf ein gewaltiges Dröhnen verursachte und mit Eisbeutel gekühlt werden musste, hatte er am nächsten Morgen den Mann auf dem Überwachungsvideo sofort wieder erkannt. Als einen überaus großzügigen Kunden, den er wegen seines honorigen Verhaltens über den grünen Klee lobte. Bis ihm klar wurde, dass der ja der Grund allen Übels war.

War es der viele Alkohol, der ihn so verwirrt machte? Oder hatte er am Ende doch eine Gehirnerschütterung davon getragen? ‚Kaum vorstellbar‘, dachte Klaus. „Wo nichts ist, da kann man nichts erschüttern“, hatte sein Vater schon immer gesagt.

 

Sei´s drum. In den Minuten nach dem etwas sehr anstrengenden und zeitraubenden Gespräch mit dem „Sondergastronomen“ ging es Schlag auf Schlag. Der Abgleich der fast Passbild-tauglichen Aufnahmen des Räubers mit Fotos in der elektronischen Gangsterkartei führte verblüffend schnell zu einem Ergebnis. Der Typ, ein Mann aus Siegen-Weidenau, war schon mehrfach wegen Eigentumsdelikten und Überfällen in Erscheinung getreten. Nur Minuten später starteten unauffällige Kollegen vom Weidenauer Revier aus in einem ebenso unauffälligen Fahrzeug, um vor dem Elternhaus des Übeltäters auf dessen Wiederkehr zu warten.

Dass er auftauchen würde, daran hatten die Siegener Kollegen keinen Zweifel. Denn bei aller kriminellen Energie mit Hang zur käuflichen Liebe zeichnete den 38-jährigen Gelegenheitsjobber eines besonders aus: seine hohe soziale Kompetenz nämlich. Er versorgte seit Jahren eine einseitig gelähmte und bettlägerige Frau, die eine kleine Mietwohnung im Hause seiner längst verstorbenen Eltern bewohnte.

Nicht, dass er irgendwelche womöglich schrägen sexuellen Ambitionen gehabt hätte. Nein. Es gefiel ihm einfach, für die Endfünfzigerin einzukaufen und sie mit all dem zu versorgen, was die Leute vom sozialen Dienst nicht leisten konnten. Irgendwie war sie wohl so etwas wie ein Mutterersatz für Hendrik Schlemper, den Ganoven mit karitativen Zügen.

Oft unterhielt er sich stundenlang mit seiner Mieterin. Und sie plauderten über Gott und die Welt. Wenn er nicht gerade mal wieder für ein paar Monate in den Knast eingefahren war. Solange mussten andere die Einkäufe übernehmen.

‚Und so einer fährt bis nach Berleburg, poppt sich die Seele aus dem Leib, säuft literweise Dom Perignon und schmeißt mit Geld nur so um sich. Um dann zu erkennen, dass er total pleite ist und daher beschließt, sich die Kohle auf spektakuläre Art und Weise wieder zurück zu holen.’ Klaus schüttelte jetzt noch den Kopf während der Fahrt. ‚Wirklich eine schräge Nummer. Aber in Nullkommanix aufgeklärt. Vielleicht geht er den Kollegen ja bald ins Netz.’

Den Porsche und seinen bekloppten Fahrer würde Klaiser wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber immerhin hatte er ja seine Nummer. OE-JJ 276. Gleich morgen würde der Kripobeamte das Zentralregister und POLAS abfragen. Ob mit dem Wagen alles in Ordnung ist, wem er gehört und ob der Besitzer schon mal irgendwo aufgefallen ist. Falls denn der Pilot dieses Geschosses auf vier Rädern auch dessen Besitzer war.

Wer immer heute hinter dem Steuer saß, seine rücksichtslose Fahrweise war nicht mehr zu toppen. Aber leider war die Größe des Fahrers das einzige, was in Bruchteilen von Sekunden in seinem „optischen Gedächtnis“ hängen geblieben war. Ein richtig kompakter Mann, eigentlich zu massig für einen solch schlanken Wagen. Mehr ging in der Kürze des Vorbeirasens in Dotzlar nicht. Das glich einem Versuch, in einen vorbeidonnernden Zug zu schauen. ‚Solch einem Idioten müsste man einfach den Lappen wegnehmen dürfen‘, dachte der Polizist. Fertig aus!

Als Klaus durch Raumland Bahnhof in Richtung Berghausen fuhr und der altehrwürdige Gasthof Kunze in Sicht kam, musste er unwillkürlich an seinen Kumpel Heiner denken. Der sprudelte förmlich über, wenn er von seinen Erlebnissen in dem ehemaligen Vereinslokal der Sportfreunde Edertal erzählte. Was müssen die hier für tolle Siege mit Unmengen Pils begossen und was für bittere Niederlagen mit eben solchen Mengen hinuntergespült haben. Heiner hatte gar nicht aufgehört zu schwärmen, von diesen „glorreichen Zeiten der Edertaler“.

Sekundenbruchteile später wurde der Beamte aus seiner Feierabendstimmung herausgerissen. Denn von rechts, vom Stöppel, kam der Porsche in die Einmündung herunter gedonnert, schnitt seinen Weg und veranlasste ihn zu einem abartigen Bremsmanöver. Während Klaus´ rechter Fuß samt Bremspedal das Bodenblech zu durchdringen drohte, er nach links auswich und nur noch auf Krachen, Splittern und Blackout wartete, röhrten die vermutlich mehr als 400 PS dieses Zuffenhausener Wunderwerkes einmal heftig auf. Und schon lag der Irre wieder über der Tempobegrenzung.

Jetzt kam in Klaiser endgültig der Bulle durch. ‚So nicht, Kumpel‘, jagte es ihm durch den Kopf. Aus der Schockstarre schaltete er in den Jagdmodus um. Doch Vorsicht war geboten. Eine Verfolgungsjagd durch geschlossene Ortschaften – das geht gar nicht. Und bis Berghausen waren es keine 500 Meter um die nächste Kurve herum.

Sein Dienst-Audi machte einen Satz nach vorn, als er das Gaspedal durchdrückte, während er die Kojak-Lampe aufs Dach knallte. Der Saugnapf hielt auf Anhieb.

Eine Blaulicht-Verfolgung war zwar eher selten hier in Wittgenstein. Das erinnert mehr an Chicago-Zustände. Aber dem Polizisten war es wichtig, die Menschen auf und an der Straße zu warnen. Auch wenn er deutlich hinter der eigentlichen Gefahr herraste. Vielleicht machten Entgegenkommende ja schon vorsorglich und auf Distanz Platz. Und damit diesem wahnsinnigen Porschekutscher die Fahrbahn frei.

Aber das reichte nicht. Auch wenn Klaiser erkennen konnte, dass auf der schnurgeraden Straße zur Ortsmitte hinauf nicht so viel Verkehr war. Schnell informierte er per Funk die Wache in Bad Berleburg über seinen Einsatz. Der PvD, der Polizeiführer vom Dienst, versprach, sofort eine Streife loszuschicken.

Höhe Friedhof jagte der Durchgeknallte gerade wieder an zwei Vorausfahrenden vorbei, hatte aber den Gegenverkehr unterschätzt. Er musste nach rechts ausweichen. Doch auf dieser einen Fahrspur konnte so eine „Dreiernummer“ nicht gut gehen.

Es knatschte und knallte zweimal recht fies, Reifen quietschten. Und dann rollten ein ziemlich angekratzter Mondeo und ein verbeulter Passat rechts ran. Die Fahrer waren außer sich, als Klaiser wenige Sekunden später vorbei kam. Sie waren unverletzt, stellte er erleichtert fest. Auch das gab er noch per Funk durch. Aber sie mussten jetzt auf die Kollegen warten. Denn die Verfolgung wollte er unbedingt fortsetzen. Unter seinen Rädern krachte es. Ein abgerissener Außenspiegel zerlegte sich in Fetzen.

Dass den alten Mann mit dem Fahrrad ein paar hundert Meter weiter dieses Schicksal nicht ereilte, dafür sei der Herr im Himmel gepriesen. Klaiser hatte ihn samt seinem Untersatz im Geiste bereits fliegen sehen. Aber der Rentner stand nur wie angefroren da und stierte in die Richtung, in die der Rasende verschwunden war. Sekunden später hörte er die kreischenden Reifen hinter der Rechtskurve. Vielleicht hatte der Senior dabei ja auf ein dumpfes Aufschlaggeräusch gehofft. Doch das war vergeblich.

Der Porschefahrer ignorierte Klaiser nach wie vor. Obwohl der nun ganz dicht an den Ort des Geschehens herangerollt war und den Wagen rechts abgestellt hatte. Aber der Hüne raste vor Wut und hatte genug damit zu tun, den Lkw-Fahrer zur Sau zu machen. Weil der, von Aue her kommend, sein Gespann nicht um die enge Biegung herum bekam. Mehrere geparkte Pkw am Wegesrand machten dieses Ansinnen noch spannender. Jetzt hätte sich ein Beifahrer einen Orden als Einweiser verdienen können. Hatte der Kranwagen-Chauffeur aber nicht.

So bekam Berghausens Hauptverkehrsader einen Verschluss. Eine Thrombose, um im Bild zu bleiben. Samt Zufahrt zu allen Nebenstraßen.

Für den Moment eigentlich nichts Aufregendes. Die wenigen aufgehaltenen Autofahrer aus vier Richtungen übten sich in erstaunlicher Geduld. Sie sahen ja, dass es nicht weiter ging und der Schwerlastkutscher sein Bestes versuchte.

Nur der Porschefahrer, für den es offenbar kein Zurück in die entgegengesetzte Richtung gab, tobte wie ein Irrer und versuchte nun, den Trucker von seinem Sitz zu holen. Doch der hatte sich die Schimpfkanonaden nicht länger gefallen lassen, dem Aggressor schlicht den Stinkefinger gezeigt und die Fahrertür verrammelt. ‚Macht man nicht‘, dachte Klaiser. Trotzdem: der Mann auf dem hohen Lkw-Thron hatte seine volle Sympathie.

Allerdings wurde es für den Mutigen hinter der Tür jetzt brenzlig, denn sein Widersacher vom Typ „handliches Schrankformat“ war um den Brummi herum gerannt und im Begriff, die Beifahrertür aufzureißen. Die drei stählernen Stufen hatte er bereits erklommen. Der Polizist musste also eingreifen.

Und das tat Klaiser auch. Er ging ein paar Schritte vor und riss den Fleischberg an seinem gürtelverstärkten Hosenbund mit einem Ruck einfach vom Bock. Einfach so. Klaus war perplex, wie leicht das ging. Dieser aggressive Sack allerdings auch. Denn der hatte nicht mit einer Attacke von hinten gerechnet. Frei schwebend drehte er sich halb um die eigene Achse, nachdem ihm der Türgriff entglitten war, stierte Klaiser im Vorbeifliegen verwundert an und knallte der Länge nach auf die Straße. Freier Fall aus gut einem Meter fünfzig Höhe, plus Körpergröße, auf Asphalt. Das klatscht richtig. Vor allem, wenn sich die Hände, nach Halt suchend, irgendwo, aber nicht vor dem Gesicht befinden.

Für Sekunden war es still. Sogar der Motor des Lkw brummelte nur im Standgas. Und der schreckensbleiche Fahrer gönnte sich einen Moment hingebungsvollen Gaffens auf den Gestrauchelten. Ein dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Gesetzeshüter ansah. Dann verschwand er wie in Zeitlupe im Inneren des Führerhauses. Vermutlich musste er jetzt erst einmal ordentlich lüften in der Kabine.

Klaiser stand breitbeinig über dem reglosen Sturzopfer am Boden. Wie ein Jäger über seiner Beute. Nur weniger zufrieden. Denn so konnte er den Mann schließlich nicht liegen lassen. Idiot hin oder her. Er musste was tun. Erste Hilfe leisten womöglich. Doch der Beamte war alleine mit diesem gewaltbereiten Koloss. Ihm war extrem unwohl zumute.

Berechtigterweise, wie sich herausstellen sollte. Denn als er ihn zaghaft an der rechten Schulter anfasste, um ihn umdrehen und nach ihm schauen zu können, stieß der Porsche-Rüpel einen tierischen Schrei aus. „Uuuuuuuuaaaaaaaaaah, Scheiffe, verfluchte. Jetf iff allef im Eimer“, brüllte der Fleischberg mit total lädierter Oberlippe und drehte sich auf die Seite.

Blut quoll aus einer Platzwunde an der Stirn und aus Mund und Nase. Letztere hatte eine seltsame Kartoffelform. „Fo ein Mift, fo ein verdammter!“ Er kriegte sich gar nicht mehr ein. „Wer bift Du eigentlich, Du dämlicher Narr!“, schrie er Klaiser an. „Gnade Dir, wenn ich Dich fu packen kriege! Ich bring´ Dich um, du Wickfer!“

„Interessant“, versuchte der Angebrüllte cool zu bleiben. „Ich bin Hauptkommissar Klaus Klaiser, Kripo Bad Berleburg. Und du regst dich jetzt am besten erstmal ab.“

Seinem Gegenüber blieb vor Schreck das blutende Maul offen stehen, als Klaus ihm seinen Dienstausweis vor die verbogene Nase hielt.

Wie von der Tarantel gestochen war der Typ urplötzlich auf den Beinen und wollte weg. Doch der Bulle erwischte ihn an einem Handgelenk, riss ihn am Arm herum und hatte dessen Pranke blitzschnell so weit auf den Rücken gedreht, dass der Muskelprotz leise aufjaulte und auf die Knie ging. Gut, dass der Polizist in Zivil die Handschellen noch am Hosenbund hatte.

Der Rest war Routine. Die Hamburger Acht klickte zweimal und Klaiser entspannte innerlich ein wenig. Mit festgezurrten Händen auf dem Rücken schien ihm der Riese jetzt weit weniger gefährlich. Auch wenn der immer wieder brüllte wie ein Ochse und ihn auf´s Übelste beschimpfte.

Als der heftig Verbeulte allerdings versuchte, nach Klaus zu treten, knickte sein linkes Standbein ein. Begleitet von einem noch lauteren Aufheulen. Offenbar war der Sturz auch für die unteren Regionen seines massigen Körpers nicht ohne Folgen geblieben.

Irgendwie war es dem Trucker zwischenzeitlich gelungen, sein sperriges Gefährt um die Kurve zu bringen und endlich weiter zu fahren. Röhrend zog der Brummi den Tieflader samt Kran den Berg hinauf. Klaisers Armbanduhr zeigte drei Minuten nach halb fünf.

‚Alles super’, dachte Klaus. ‚Den Typen können die Kollegen ja gleich mit nach Berleburg nehmen.’ Und er hätte endlich Feierabend. Es gab nur noch ein Problem. Der Verkehr wollte nicht so recht anrollen. Es setzte jetzt eher ein Hupkonzert ein.

Und das war kein Wunder. Denn der Porsche stand ja noch immer quer zur Fahrbahn in der Kurve. Da traute sich kaum jemand mit seinem Wagen vorbei. Hätte ja noch zusätzliche Macken geben können, an dem edlen Gefährt. Obwohl es rechts schon ziemlich lädiert war. Aber da wollte keiner noch zusätzliche Schuld auf sich laden. Und natürlich auch den eigenen Wagen heile lassen.

„Meine Karre muff da weg, Du Arsch!“, brüllte der Bodybuilder. „Mach‘ mich lof!“

Demonstrativ dreht er dem Polizisten den schrankbreiten Rücken mit seinen zusammengeschnallten Pfoten zu.

„Leck mich doch“, entgegnete Klaiser. Nicht für Geld und gute Worte hätte er den Typen zu seinem Wagen zurück gelassen. Auch wenn der sich jetzt gebärdete wie Rumpelstilzchen. Vorher wollte der Hauptkommissar wissen, was der Kerl so alles auf dem Kerbholz hat. Außerdem war der Porschekutscher schon allein wegen seiner Raserei, der Kollision mit den beiden Wagen im Dorf und der Bedrohung des Truckers fällig. Den würde er nicht mehr laufen lassen.

 

Aber es wäre jetzt wirklich an der Zeit, den Porsche von der Piste und die bluttriefenden Wunden in der Visage dieses Zweieinhalbzentnermannes versorgt zu bekommen. Und die Gaffer weg zu schicken. Denn mittlerweile hatte sich eine ansehnliche Menge Mensch im Kreis um das Geschehen aufgebaut. Natürlich in respektvollem Abstand. Wann kriegst du so was schon mal geboten auf dem Dorf?

Klaiser war ganz und gar nicht nach Publikum zumute. Er wollte die Sache hier so schnell wie möglich beenden und hoffte inständig auf die versprochenen Streifenkollegen. Mit der Linken zerrte er den Demolierten an der Handschellenkette neben sich her, während er mit der Rechten sein Handy in Gang setzte. Mal nachfragen, wo die Kollegen bleiben.

Doch da stoppte dicht neben ihm ein blau-silberner VW-Bus mit der tollsten Werbeaufschrift, die er sich im Moment nur denken konnte: POLIZEI. Der war wohl über eine der Nebenstraßen gekommen, die jetzt wieder frei waren. Heraus sprangen zwei junge Kollegen, die Klaiser nur vom Sehen kannte. Beamte, die als Verstärkung bei der Sicherung des Flüchtlingserstaufnahmelagers von Köln nach Bad Berleburg abgeordnet worden waren.

Die Jungs hatten Figürchen wie Zehnkämpfer. Breite Schultern, schlanke Hüften und ein massives Fahrgestell. In ihren Einsatzkombis und mit Springerstiefeln machten sie echt was her. Selbst der Gefesselte schien ein wenig ins Grübeln zu geraten, als er sie sah. Richtig topfitte Jungbullen.

In kurzen Zügen erklärte Klaiser ihnen, dass es sich bei dem Mann um einen Verkehrsrowdy und üblen Schläger mit reichlichen Drohgebärden handele. Dann überließ er den Kraftprotz ihrer Obhut, um endlich die Straße frei zu machen. Das Hupkonzert hatte ein wenig nachgelassen. Den Autofahrern war das Auftauchen der Uniformierten wohl zu mulmig. Außerdem war klar, dass sich bald an der Situation etwas ändern würde.

Der Porsche-Schlüssel lag zum Glück auf der Mittelkonsole, als Klaus sich in den Sportsitz gleiten ließ. ‚Was für ein Auto. Und dazu noch ziemlich neu‘, dachte er, als er startete. Mit unbändiger Kraft zog der Bolide schon im Standgas an wie ein wilder Hengst. Aber der Beamte machte mit dem Traumfahrzeug lediglich eine Kehrtwende und stellte es neben seinem Quattro auf dem Hof vor dem ehemaligen Union-Stübchen ab. Eine legendäre Kneipe. Sein Nachbar hatte dort der Erzählung nach so manche Nacht Doppelkopf gespielt und geknobelt. Und dabei reichlich dem Dortmunder Bier zugesprochen. „Lang ist´s her“, hatte Werner sinniert. Der Zapfhahn war schon seit Jahrzehnten nach oben gedreht.

Klaus machte sich auf die Suche nach Personal- und Fahrzeugpapieren im Wagen. Das jedoch verlief mehr als enttäuschend. Der Panamera war innen so gut wie leer. Seltsam. Lediglich eine Sportjacke ohne Taschen auf dem schmalen Rücksitz. Und die Betriebsanleitung vom Hersteller im Handschuhfach. Die Tankanzeige stand auf etwas über „halbvoll“ und der Tacho auf 12.371 Kilometer. Das Navi war eingeschaltet.

Immerhin war die Straße jetzt wieder frei. Der Stau löste sich langsam auf. Aber als er ausstieg, waren er und das Auto umringt von Schaulustigen, die jede Menge anerkennende Schulterklopfer für den Mutigen übrig hatten. „Das war ja der Hammer, wie Sie den zusammen gefaltet haben“, meinte ein Junge, vielleicht gerade mal 15 Jahre alt.

‚Wenn die wüssten, wie mir zumute war‘, dachte er nur, als er zum Ort des Geschehens zurückging. Aber die Anerkennung tat ihm gut. Klaiser grinste zufrieden in sich hinein.

„Samma, dämm hässe awwa ordentlisch die Fresse poliert. Wie jing dat dann?“, wollte der Größere von den beiden Kollegen in breitestem Kölsch wissen. Während der andere gerade dabei war, per Funk einen Rettungssanitäter heranzuholen. Den mittlerweile verstummten, aber immer noch blutenden Gestrauchelten hatten sie derweil im Inneren des VW-Busses an einem Haltegriff angekettet.

Klaus´ Erklärung zu den wirklichen Umständen wollte der Kölner gar nicht so richtig glauben und grinste breit „Dä häddet sischer verdient“, meinte er nur. „Oder jloubst du, dat dämm Kaventsmann dat jeile Auto jehört? Dat iss doch vill zo kleijn füa dänn. Un zo düa. Dat hät dä doch jarantiert irjendwo jeklout.“

Kurz darauf klemmte er sich an den Funk und fragte die Autonummer in der Zentrale ab.

„Die hann im Moment zo vell zo donn“, kam er kurz darauf wieder zurück. „Do is irjendwo ’n Riesensouereij im Jang. Da is de Kacke rischdisch am Dampfen.“

„Kann ja wohl nicht an uns liegen“, lachte Klaus und freute sich auf seine Frau und ein ordentliches Abendessen. So langsam hing ihm nämlich der Magen zwischen den Knien. Und Ute, Physiotherapeutin in einer der Berleburger Kliniken, dürfte längst zu Hause sein und schon mal alles vorbereitet haben. Am Mittag hatten sie noch telefoniert und sich für fünf Uhr verabredet. Das würde zwar knapp, aber käme immer noch hin. Bis nach Hause bräuchte er von hier aus im Wagen gerade mal zwei, drei Minuten.

Die beiden hatten sich nach Klaisers Versetzung zur Polizei in Berleburg ein schmuckes Häuschen hier im Ort gemietet. 130 Quadratmeter, so gut wie neu, direkt am Ortsrand. Nicht weit weg von der Straße zur Krimmelsdell. Ein herrliches Eckchen mit hoher Feierqualität. Das war wichtig in Berghausen.

Ute war schon zwei Jahre vor ihm in die Kurstadt gekommen, in deren Namen die Einheimischen das „Bad“ gerne wegließen. Aus purer Gewohnheit. Berleburg war zwar schon eine halbe Ewigkeit für Kneippkuren bekannt. Den Titel „Bad“ hatte die Kleinstadt aber erst 1971 bekommen.

Doch das Kuren nach Pfarrer Kneipp hatte die Zeit nicht überdauert. Die meisten Kliniken hatten sich mittlerweile auf Rehabilitationstherapien spezialisiert. Auf die Heilung von Schlaganfallpatienten oder solchen mit schweren Traumata oder massiven Hörschäden, zum Beispiel. Blitzgüsse und Heusäcke hatten Therapien in Neurologie, Psychologie oder Psychosomatik Platz gemacht.

Und genau dort hatte die damals frisch gebackene Physiotherapeutin und Schwimm- und Bademeisterin Ute angeheuert. In einer gerade umfunktionierten Doppelklinik.

Zum Leidwesen von Klaus, damals noch Polizeikommissar bei der Münsteraner Schutzpolizei.

Zwei Jahre lang war der aufstrebende Schutzmann an freien Wochenenden ins Wittgensteiner Land gefahren, um seine bildhübsche Freundin zu besuchen. Die musste in der Klinik häufiger auch an Samstagen Dienst schieben. Da war sein Besuch hier schon praktischer.

Und zwischendrin feilte er an seiner Karriere, wechselte nach Lehrgängen zur Kripo und wurde befördert.

2013 schließlich hatte er die Chance, als Hauptkommissar bei der Kripo in Berleburg einzusteigen. Das passte prima zu den Heiratsplänen des Paares, das sich hier auf dem Land mit seinen etwas knorrigen, aber unheimlich herzlichen Menschen sauwohl fühlte. Er griff zu.

Den Klaisers gefiel Bad Berleburg und seine Umgebung. 23 Ortsteile mit insgesamt nur knapp 20.000 Einwohnern. Das war so richtig nach dem Geschmack der beiden, die bei Telgte im Münsterland groß geworden waren. „Unheimlich viel schöne Gegend hier“, hatte Ute mal gesagt.

Beide liebten das Leben auf dem Land, waren begeisterte Wanderer und Skifahrer und vor allem keine Schönwetter-Anbeter. Das war wichtig in einem Landstrich mit gefühlten 250 Regen- und Schneetagen pro Jahr.

Heute war es übrigens trocken und warm. Ein Septembertag, wie man ihn gerne hatte. Und es versprach ein schöner Abend zu werden, als der Rettungswagen heranrollte. Endlich. Ein Rettungsassistent und eine Notärztin kletterten aus dem Fahrzeug. Der Fahrer wendete und stellte den Wagen neben dem Polizei-Bulli ab. Zwischenzeitlich hatten sich auch die Gaffer am Straßenrand verkrümelt.