Auf der Suche nach Eirenechora

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Wolf-Dieter Ostermann

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EIRENECHORA

Ein Märchen für Erwachsene

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

IMPRESSUM

ZUFLUCHT

MUTPROBE

GROKUT

RÜCKSCHLAG

RACHGARS AUGE

BEI DEN WUSCHIS

ERLÖSUNG

HEIMKEHR

DANKSAGUNG

ZUFLUCHT

Das kleine Waldlokal ist übervoll. Durch Schwaden von Tabaksqualm sind überall schemenhaft gestikulierende Gestalten zu sehen. Ich kauere frierend und durchnässt von dem unerwarteten Regen in der hintersten Ecke an einem kleinen, runden Tisch.

Draußen regnet es immer noch so stark, dass man meinen könnte, ein Wasserfall stürze über die Fensterscheiben. Im Raum ist es sehr warm. Meine Kleider beginnen zu dampfen und mein Gesicht zu glühen; doch in meinem Inneren hat sich die Kälte festgesetzt und lässt mich weiter bibbern. Vor dem Hintergrund laut geschmetterter Heimatlieder hebt und senkt sich der Wirrwarr der Unterhaltungen an den Tischen um mich herum.

Je fröhlicher und ausgelassener die Stimmen werden, desto mehr sinke ich zusammen, von meiner abgrundtiefen Armseligkeit erdrückt. Mit aller Kraft presse ich die Zähne aufeinander, um nicht von der immer heftiger andrängenden Tränenflut überrollt zu werden. Der Lärm um mich herum schwillt an zu einem Ungeheuer, das mir von allen Seiten bedrohlich näherrückt ...

Die schwärzeste Nacht meines Lebens empfängt mich. Ich habe es drinnen nicht mehr ausgehalten und mich blitzartig ins Freie gerettet.

Zum Glück regnet es nicht mehr, aber dafür bricht alles wieder über mich herein: die unablässig gewachsenen Anforderungen im Beruf, die Vorwürfe der halbwüchsigen Kinder und der Schwiegermutter, deren Ansprüche ich nicht mehr so umfassend wie früher befriedigen kann und die sich zunehmend vernachlässigt fühlen, schließlich der heftige, unversöhnliche Streit mit meinem Mann und wie ich in namenloser Verzweiflung aus der Wohnung gestürzt und in die Nacht gerannt bin, ziellos, immer weiter und weiter ...

Aufseufzend spüre ich, wie das Feuer meiner Backen von einem kühlen Windhauch allmählich gelöscht wird, wie die frische und reine Luft meine Lungen, meinen Kopf, ja den ganzen Körper durchströmt und erfrischt.

Aber hier kann ich nicht bleiben; zögernd setze ich einen Fuß vor den anderen, ohne irgendeine Vorstellung, wohin ich mich wenden soll. Der Boden fühlt sich weich an; ich spüre kalte Nässe durch meine Schuhe eindringen.

Nun wird es plötzlich holperig, und ich muss aufpassen, dass ich mir nicht die Knöchel verstauche. Bin ich in einen Acker geraten? Plötzlich bauen sich vor und neben mir graue Mauern auf, und kurz darauf betrete ich einen Wald.

Zum Glück ist es unmerklich heller geworden, so dass ich die Zweige noch rechtzeitig erahnen kann, bevor sie mir ins Gesicht schlagen.

Bald bin ich so weit in die Wildnis vorgedrungen, dass ich keine Ahnung mehr habe, wo ich bin und wie ich hier jemals wieder herausfinden könnte.

Sumpfige, oft von kleinen Tümpeln durchsetzte Lichtungen zwingen mich immer wieder zu neuen Umwegen.

Schließlich wird das Gebüsch so dicht, dass ich mich mit beiden Armen hindurchkämpfen muss. Wie gelähmt bleibe ich stehen, blicke hektisch in alle Richtungen, rufe vergeblich um Hilfe ...

Was tun? Ich entschließe mich, in etwa geradeaus weiterzugehen, und atme bald danach auf: Das Geäst lichtet sich, und gleich darauf stehe ich an einem hinfälligen Lattenzaun!

Zwischen Gemüsebeeten kann ich eine Gestalt ausmachen, die sich jetzt aufrichtet und zu mir herüberblickt. Um das runde, freundliche, von unzähligen Fältchen durchzogene Gesicht einer hochbetagten Frau spielen lustige graue Locken. Der Anblick überschwemmt mich mit einem warmen Gefühl der Geborgenheit, noch ehe auch nur ein Wort gesprochen wurde ...

Mit einem Lächeln des Willkommens winkt sie mir zu. Ein Strahlen scheint sie zu umgeben. „Entschuldigung!“ murmele ich verlegen, doch da kommt sie mir schon entgegen, legt eine lose Latte zur Seite und lässt mich in ihr Paradies eintreten. „Alles wird gut!“ Ihre gütige Stimme schwemmt meine Verkrampfung wie eine warme Dusche hinweg, treibt mir die Tränen in die Augen. Sie geht mir voraus zu einem kleinen, schon etwas windschiefen, reetgedeckten Häuschen und lässt mich an einem klobigen Gartentisch davor Platz nehmen.

Für kurze Zeit verschwindet sie, kommt aber gleich darauf wieder mit einem Tablett voller Herrlichkeiten, deren Anblick mir unversehens den Hunger wieder ins Bewusstsein ruft, der mich schon den ganzen Tag gleich einem Tier von innen zu verschlingen droht: dicke Scheiben duftenden Landbrotes, goldgelbe Butter, perlendes Quellwasser und dazu ein Schälchen in Milch gelegter, frischer Erdbeeren ...

Ich erschrecke selbst über die Gier, mit der ich mich darüber hermache, als eine leise und doch eindringliche Frage mein hastiges Kauen schlagartig zum Stillstand bringt: „Warum hast du so viel Angst?“

Als hätte jemand eine Schleuse geöffnet, stürzen alle erfahrenen Ängste gleichzeitig wie eine wilde Horde auf mich herab, schütteln mich, dass ich die Besinnung zu verlieren drohe; ich möchte schreien, doch der Mund ist verklebt. Verzweifelt blicke ich zu dem Gesicht über mir auf, das ich jedoch nur noch ganz verschleiert wahrnehme, als drohte es mir zu entrücken. Und doch bannt es meinen Blick, scheint es das tobende Chaos meiner Gefühle erst unmerklich, dann immer deutlicher zu beschwichtigen, bis sie schließlich in den heftigen Wunsch münden, diesen Ort der Geborgenheit nie wieder verlassen zu müssen, mich hier unwiderruflich eingraben zu dürfen ...

„Du kannst drei Tage bei mir bleiben: Heute wirst du vergessen, morgen deinen Blick öffnen und übermorgen wird dich eine unruhige Neugier erfassen, so dass du in der folgenden Nacht keinen Schlaf mehr finden und im Morgengrauen meinen Garten auf der anderen Seite verlassen wirst!“ Die Sätze streifen mich nur wie ein Hauch aus weiter Ferne; ich sinke immer tiefer, ohne doch abzustürzen; ein zartes Gespinst fängt mich auf, trägt mich in einen bewusstlosen Schwebezustand ...

Mit dem Gefühl, jahrelang geschlafen zu haben, wache ich auf und sehe mich verwundert um. Wo bin ich?

Wie schön dieser Garten ist! Über unzähligen bunten Wiesenblumen glitzern die Tautropfen auf den langen, weichen Grashalmen im Sonnenlicht; Zweige voll reifer Himbeeren laden mich zu einem erfrischenden Frühstück ein.

Dann strecke ich mich genüsslich im Gras aus und blicke zu den behäbigen weißen Wolkenschiffen am Himmel empor, lausche dem Summen der Insekten und dem leisen Rauschen des Windes und versinke in gedankenloser Glückseligkeit.

Irgendwann grummelt mein Magen und ich richte mich wieder auf. Das Blau des Himmels scheint noch tiefer geworden, die Sonne hat den Zenit überschritten. Kratzende Geräusche lenken meinen Blick auf einen großen alten Apfelbaum, von dessen Stamm aus ein Eichhörnchen neugierig zu mir hinüberblickt, plötzlich zweimal um den Stamm rast, um dann wieder seine schwarzen Knopfaugen prüfend auf mich zu richten. Als ich langsam aufstehe, verschwindet es in Sekundenschnelle zwischen den Ästen.

Ich pflücke einen großen, rotbackigen Apfel, setze mich unter den Baum und lehne mich an den rauen Stamm. Ein Bussard zieht am Himmel seine Kreise.

Ehe ich es mich versehe, ist die Sonne untergegangen und hinterlässt am Himmel ein überwältigendes Farbenspiel: von leuchtendem Orange zu weichem Rosè und schließlich zartem Violett.

Bald darauf erscheint, zunächst kaum erkennbar, der erste Stern, der mir dann, bei zunehmender Dunkelheit, mit kraftvollem Leuchten zuzublinzeln scheint.

Ruft er mich …? Über diesem Gedanken schlafe ich ein, und er klingt noch nach, als ich von hellem Morgenlicht aus tiefer Bewusstlosigkeit emporgeschleudert werde. Ich fühle mich voller Tatendrang, springe auf, sehe mich nach einer Arbeit um und treffe alsbald auf meine Gastgeberin, die sich gerade anschickt, gebückt dem Unkraut zu Leibe zu rücken. „Das kann ich doch machen!“ rufe ich spontan. Langsam und umständlich richtet sie sich auf. „Seit ich denken kann, mühe ich mich mit der Gartenarbeit ab, aber wenn du wirklich Lust dazu hast, überlasse ich sie dir für heute gerne! Eigentlich sollst du dich ja erholen, und jetzt schenkst du mir eine Atempause!“ Offensichtlich gerührt lässt sie sich in einen Liegestuhl sinken, und ich mache mich mit Feuereifer ans Werk. Je mehr ich erledigt habe, desto größer wird der Schaffensdrang; ich frage immer wieder nach weiteren Aufgaben und bin ganz überrascht, als es Zeit wird, an ein Mittagessen zu denken.

 

Ich darf bei der Zubereitung helfen, und weil im Garten nichts mehr zu tun ist, fange ich danach an, das Häuschen der Alten, die mir teils schmunzelnd, teils kopfschüttelnd dabei zuschaut, zu säubern und aufzuräumen.

Dabei fällt mir ein altes, schon halb verwittertes Buch mit dem seltsamen Titel „Eirenechora“ in die Hand.

Verlegen sehe ich mich nach meiner Retterin um; ein aufmunterndes Nicken ermutigt mich, es vorsichtig aufzuschlagen, und nun versinke ich in einer geheimnisvollen und faszinierenden Welt voll einladender Freundlichkeit, die so ganz anders erscheint als die bislang erfahrene.

„Wenn man so leben könnte!“ entfährt es mir unwillkürlich mit einem tiefen Seufzer ...

„Es gibt dieses Land!“

Ich will jetzt nicht gestört, nicht aus meiner Versenkung hervorgezogen werden; aber der warme, leise und doch eindringliche Ton der Stimme gewinnt immer mehr Raum in mir, lässt eine zarte Ahnung von der Möglichkeit selig geborgenen Lebens aufkeimen; mein Herz wird unruhig, beginnt zu hämmern, mein Atem geht plötzlich in kurzen, hektischen Stößen, und eine seltsame Aufgeregtheit macht sich breit.

Zitternd sehe ich mich um, stoße nur ein Wort heftig hervor: „Wo?“

„Es liegt sehr verborgen an einem geheimen Ort; viele haben danach gesucht, doch nur wenige haben es schließlich gefunden.

Aber wenn du das Ziel nie aus den Augen verlierst und trotz aller Strapazen und Enttäuschungen nicht aufgibst, gehörst du vielleicht eines Tages zu ihnen!“

Unbemerkt ist die Nacht hereingebrochen; wir legen uns schlafen, aber ich finde keine Ruhe, durchwandere weite Räume, erlebe wirre Verwicklungen und verstörende Bedrohungen, fahre hoch, versinke wieder in einen Dämmerzustand, der aber nur die Ereignisse sich von neuem überstürzen lässt, so dass ich bald darauf, schwer atmend und klatschnass im Gesicht, dankbar feststelle, mich offenbar in den Morgen hinübergerettet zu haben ...

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