Die Liebe ist kein leichtes Spiel

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Die Liebe ist kein leichtes Spiel
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Wilma Burk

Die Liebe ist kein leichtes Spiel

Kurzgeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Liebeskummer

Ein Lächeln von Gitte

Halt, warte, bleib doch!

Liebe kommt und geht.

Verliebtes Wochenende.

Verräterische Spuren

Flug verpasst

Heimlich und unbemerkt

In einem einzigen Moment

Stecken geblieben Im Stau

Zwanzig dunkelrote Rosen

Haben die Hexen gelacht?

Und dann kam alles anders

Träume mit siebzig

Liebe im Sonnenuntergang

Guten Morgen, Emily

Liebende Augen sehen mehr

Spuren der Vergangenheit

Liebeserklärung an einen Toten

Impressum neobooks

Liebeskummer

Frühlingswind strich durch die Äste der blühenden Sträucher und Bäume links und rechts der Autobahn. Wie ein graues Band durchschnitt sie die Landschaft. Darauf jagten Menschen mit ihren Autos entlang, vorbei an Wäldern, Wiesen und Äckern. In einem dieser Wagen, der Wohlstand verriet, saß Henriette Köhler mit ihrer Enkeltochter Corinna. Sie fuhren den Bergen entgegen.

Selbstbewusstsein und Sicherheit drückte Henriettes Haltung hinter dem Lenkrad aus. Sie war gewöhnt, Dinge in die Hand zu nehmen. Hoch erhoben trug sie ihr Haupt mit den kurzen, braun gefärbten Haaren. Kein weißes Haar sollte zu sehen sein. Um ihren Hals legte sie sich gerne einen leichten Schal, um altersbedingte Falten zu verdecken.

Seit ihr Mann vor zwölf Jahren gestorben war, leitete sie ein angesehenes Modehaus in der Stadt. War ihr Gang auch aufrecht, ihr keine Müdigkeit anzumerken, konnte sie auch noch mit ihrer Eleganz für ihr Modehaus werben, so verlangte es sie doch schon öfter danach, von dem Trubel des Geschäftes auszuspannen. Dann fuhr sie für ein paar Tage allein in die Berge nach Sendelbach, an einem See gelegen, und tat nichts, als den Tag zu genießen.

Doch kurz vor ihrer Abfahrt an diesem Morgen hatte noch ihre Tochter Beate angerufen und sie angefleht: „Henriette, tu mir einen Gefallen, nimm deine Enkeltochter mit. Ich weiß mir keinen Rat mehr! Corinna geht mir ein vor Liebeskummer. Sie isst kaum etwas, wird immer dünner und sitzt lustlos herum. Ich habe ihre Sachen schon gepackt, du brauchst sie nur noch abzuholen.“

Henriette passte das eigentlich nicht; sie zögerte.

„Jetzt sag bloß nicht: Nein!“

„Ja, will denn eine Siebzehnjährige mit ihrer Oma überhaupt mitfahren? Das ist ihr doch sicher viel zu langweilig.“

„Die kannst du zurzeit hinsetzen, wohin du willst, da bleibt sie sitzen. Also was ist?“

Und nun saß Corinna neben Henriette, blass, schmal und zusammengesunken, die Hände im Schoß vergraben. Ihre langen rotblonden Haare leuchteten golden, wenn ein Sonnenstrahl zwischen dunklen Wolken vom Himmel herunterhuschte und flüchtig über sie hin strich, als wollte er sie tröstend streicheln. Der Fahrtwind pfiff durchs geöffnete Schiebedach.

„Wollen wir eine Pause machen? Willst du ein Eis essen?“, fragte Henriette ihre Enkelin.

„Wenn du es willst?“ Angestrengt schaute Corinna von ihr abgewandt aus dem Fenster.

„Ich will wissen, ob du es willst!“, betonte Henriette ungeduldig.

„Es ist mir egal.“

Henriette holte tief Luft. „Nun hör mir mal zu! Thomas hat eine andere und will dich nicht mehr sehen. Das tut weh, ja! Aber ...“

„Ja, ja! ... das Leben geht weiter ... du bist noch so jung ... das geht vorüber! - Hör auf! Das kann ich nicht mehr hören! Was wisst ihr schon davon?“ Corinna fuhr zornig auf, ehe sie wieder zusammensank.

‚Kein schlechtes Zeichen, wenn sie schon wütend werden kann’, dachte Henriette.

Schweigen.

Dann versuchte sie erneut ein Gespräch in Gang zu bringen: „Du bist nicht der einzige Mensch, für den die Welt einstürzt, weil er verlassen wurde.“

Corinna reagierte nicht.

„Auch ich habe einmal damit fertig werden müssen.“

Corinna blickte kurz auf.

Wird sie ihr zuhören? Egal, Henriette redete weiter: „Ich habe einst meinen Louis über alles geliebt, mit der ganzen Kraft meiner jungen Jahre. Da bin ich wenig älter gewesen als du heute. Mein Vater war von seiner Firma in eine andere Stadt versetzt worden, ganz in der Nähe der Berge. Bald danach hat er dort ein Ferienhaus gekauft, in einem Ort mitten in den Bergen schön gelegen. Jedes Wochenende sind wir dort hingefahren, im Sommer wie im Winter. Hier bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, dem Louis Hofbauer.“ Sie machte eine Pause und sah zur Seite.

Corinna blickte wieder zum Fenster hinaus.

Unbeirrt, sich selbst in Erinnerung verlierend, fuhr Henriette fort zu erzählen: „Er war ein Bild von einem Mann, ein Sohn der Berge, braungebrannt, so dass seine Zähne blitzten, wenn er lachte. Alle Mädchen im Ort waren verrückt nach ihm, aber er hatte nur Augen für mich, als wir uns auf einem Fest zum ersten Mal sahen. Sein Blick ging mir unter die Haut! Aus seinen dunkelbraunen Augen konnte er so sanft schauen wie die Kühe mit ihren dunklen Augen auf den Almen.“

Corinna fuhr herum, als erwache sie, und sah sie grinsend an. „Er hatte Augen wie eine Kuh?“

Henriette lachte auf. „Ein besserer Vergleich ist mir nicht eingefallen. Ich liebe diese braunen Kühe mit ihren Ohren wie Samt und den großen dunklen Augen. Sein sanfter Blick wollte so gar nicht zu dem ‚gestandenen Mannsbild’ passen, wie sie dort sagten. Breite Schultern hatte er, starke Muskeln, er konnte zupacken. Aber sobald er mich in die Arme nahm, war er behutsam und liebevoll. Doch bei den anderen wusste er sich Respekt zu verschaffen, wenn er mit stolzen Schritten daherkam, die Daumen in seinen Lederhosenbund gesteckt. Wenn er diese Lederhosen getragen hat, das war - da fehlen mir die Worte.“

„Er hatte einen Knackarsch!“, warf Corinna ein und ihre Augen funkelten gespannt, als plagte sie kein Liebeskummer mehr.

Henriette sah sie verdutzt an. „Na, so haben wir damals nicht gesagt. Das war aber schon sehr beeindruckend.“

„Sexy!“

„So nennt ihr das heute. Für mich ist es damals mehr als das gewesen, Corinna. Er hatte eine Ausstrahlung von Wärme und Liebe, die mich ganz in seinen Bann zog. Mit ihm, bei ihm, da habe ich gelebt. Wenn ich von ihm getrennt war, kam mir alles so leer, so ohne Sinn vor. Was sind wir uns danach in die Arme gefallen, wenn wir auch nur für ein paar Tage nicht zusammen sein konnten. Er hielt mich fest, ich klammerte mich an ihn und atmete seine Nähe. Er gab mir das Gefühl, wertvoll zu sein, ihm unsagbar viel zu bedeuten. Ich war seiner so sicher, glaubte an ihn und unsere gemeinsame Zukunft. Er liebte seine Berge, ließ mich ihre Schönheit erkennen, und doch strebte er aus seinem Heimatort fort. Er war der jüngste Sohn eines Bauern und wollte kein Bauer werden wie sein Vater und sein Bruder. Er hatte Automechaniker gelernt. Darauf wollte er eine Zukunft aufbauen, eine Zukunft für uns beide.“

„Hattet ihr schon ...“

„Wonach willst du fragen?“ Unangenehm berührt warf Henriette einen Blick auf ihre Enkeltochter.

Die aber fragte ungeniert: „Na, ob ihr da schon miteinander gebumst habt?“

„Corinna! Über so etwas hat man zu der Zeit nicht geredet.“

„Aber man tat es.“

Irritiert sah Henriette ihre Enkelin an. „Was seid ihr immer so direkt!“

„Also hattet ihr! Sonst wäre es ja keine richtige Liebe gewesen.“

Henriette war froh, dass ihre Aufmerksamkeit beim Fahren gefordert wurde und sie dazu nichts mehr sagen musste. Zum wievielten Male überholte dieser verrückte junge Mann in seiner bunten Rostlaube sie nun schon? Immer wieder wurde er danach langsamer, bis sie ihn überholen musste, um dasselbe Spielchen nach einiger Zeit erneut zu beginnen. Frech grinste er zu ihr herüber. Henriette wollte ihm schon zeigen, wie verärgert sie war, da bemerkte sie, er schaute ja nicht zu ihr hin, sein Grinsen galt Corinna. Und Corinna? – Henriette war verblüfft. Sie hatte sich vorgeneigt und tat so, als blicke sie gelangweilt an ihr vorbei zum Fenster hinaus. Henriette sah aber sehr wohl das Lächeln, mit dem sie zu dem jungen Mann hinschaute. Reichte ein Autoflirt schon aus, um ihren Liebeskummer zu vermindern?

 

Als der junge Mann sie überholt hatte, scherte er vor Henriette wieder in die Fahrspur ein. Corinna lehnte sich zurück und fragte, ohne den Blick von seinem Wagen zu wenden: „Wie lange bist du mit diesem Louis zusammen gewesen?”

„Zwei Jahre.“

„Zwei ganze Jahre?“, staunte sie und dann nachdenklich: „Thomas und ich, wir waren nur sechs Monate zusammen.“

„Egal, wie lange man zusammen ist, eine Trennung schmerzt immer, besonders, wenn man verlassen wurde. Ich glaubte damals so sicher daran, dass Louis Hofbauer und ich immer zusammenbleiben würden. Ein Leben ohne ihn hatte ich mir gar nicht mehr vorstellen können. Es hat mich wie ein Schlag getroffen, als alles zu Ende war.“

„Ich konnte mir ein Leben ohne Thomas auch nicht vorstellen. Darum tut es ja so weh. – Was war schuld daran, dass ihr euch getrennt habt?“

„Ich bin einmal überraschend zu ihm gefahren, da hatte er eine andere im Bett. Dieser Schock! Zuerst stand ich wie gelähmt. Dann lief ich nur noch davon. Ich weiß gar nicht mehr, wohin. Es dauerte, bis ich zu mir kam und es begriff.“

„O Gott! Das ist ja schlimmer als bei mir. Ich habe nur gesehen, wie Thomas Arm in Arm mit der andern ging und dachte schon, ich halte es nicht aus.“

„Ich habe es auch kaum ausgehalten und dachte, alles, mein Leben sei vorbei. Mein Louis, den ich so liebte, dem ich vertraut hatte, in den Armen einer anderen Frau. Ich kam mir so wertlos vor, so verschmäht und weggeworfen. Er hatte unsere Liebe verraten. Ich litt unsagbar. Nichts, aber auch an gar nichts konnte ich mehr glauben. Der Sturz aus einer glücklichen Zeit war tief für mich.“

„Ja, so fühlt man sich. Hilflos ist man dem ausgeliefert“, sagte Corinna leise. Es klang aber nicht mehr so verzweifelt.

Henriette wurde wieder abgelenkt. Der junge Mann vor ihr bremste gerade erneut grundlos ab, wollte sich offensichtlich wieder überholen lassen. Sie scherte aus, gab Gas und fuhr an ihm vorbei.

Corinnas Kopf flog herum. Der junge Mann und sie sahen sich an.

‚Weiter so!’, dachte Henriette. Das schien ja mehr zu helfen, als jede Erzählung von ihr über vergangenen Liebeskummer. Sie bedauerte, dass sie nun von der Autobahn abfahren musste, lenkte das Auto in die Ausfahrt und sah neugierig in den Rückspiegel. Tatsächlich, der junge Mann folgte ihr auch hier. Er schien hartnäckig zu sein. Wie lange wollte er dieses Spiel noch treiben? Die Straßen wurden schmal, es ging in die Berge. Sie sah zu Corinna, bekam sie es mit, dass der junge Mann ihnen noch immer folgte?

Ja, sie hatte sich gerade vorsichtig umgedreht, als suchte sie etwas auf der Rückbank. Mit einem zufriedenen Lächeln drehte sie sich wieder zurück, sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Dann fragte sie: „Wann hattest du die Trennung von deinem Louis überwunden?“

„Nach einem Jahr. Da lernte ich deinen Großvater kennen und lieben.“

„Ein ganzes Jahr? Das ist ja ewig!“

„So lange wie bei mir dauert es nicht immer.“ Henriette lächelte. Nein, bei Corinna würde es kürzer sein, wenn sie auf ein wenig Beachtung, wie von diesem jungen Mann, schon so reagierte.

„Habt ihr euch nie mehr gesehen? Weißt du nicht, was aus ihm geworden ist?“, wollte Corinna wissen.

„Nein. Mein Vater wurde schon kurze Zeit später wieder versetzt. Wir sind weggezogen, in eine andere Stadt. Und als ich später mit deinem Großvater zusammen war, da hatte ich ihn bald vergessen. - Das heißt, nein, keine Liebe kann man ganz vergessen. Es tut nur nicht mehr weh.“

„Wo ist dieser Ort, in dem der Louis zu Hause war?“

„Wir werden gleich durchfahren; er liegt auf unserem Weg.“

„Können wir da einkehren? Ich möchte ein bisschen mehr davon sehen.“

Einen Moment zögerte Henriette. Das hatte sie noch nie getan. Bisher war sie immer nur durchgefahren. Aber eigentlich ... „Gut, es ist sowieso Zeit für eine Rast.“ Neugierig sah sie in den Rückspiegel. Was würde der junge Mann tun?

Kurze Zeit später betraten sie in dem Ort den gemütlichen Gastraum eines Gasthauses. Nur wenige Gäste waren darin und in einer Ecke, vor einem breiten und hohen Kachelofen an einem blank gescheuerten Stammtisch für Einheimische, saß ein alter Mann mit einem langen grauen Bart. Viele Falten hatten Wetter und Zeit in sein Gesicht geprägt. Er hockte da, wie in sich gekehrt, als gingen ihn die Menschen nichts mehr an. Zu seinen Füßen lag sein alter Hund, so zottelig wie der Bart seines Herrn. Henriette sah flüchtig hin.

„Der ist aber urig“, flüsterte Corinna ihr zu.

Sie setzten sich ans Fenster, bestellten Kaffee und blickten hinaus auf das Treiben auf der Straße.

Schon bald sah Henriette den jungen Mann kommen. Er kam zielsicher auf das Gasthaus zu, schlank, groß, mit sicheren Schritten. ‚Na, an dem hätte ich früher nicht so leicht vorbeisehen können’, dachte sie ... und Corinna? – deren Blick hing schon wie gebannt an ihm.

Die Tür flog auf; er kam herein. Ein Lächeln zog über sein Gesicht, als er Corinna sah. Nur einen Moment zögerte er, fuhr sich durch sein kurzes blondes Haar und kam direkt auf ihren Tisch zu. ‚Na, der wird doch nicht?’, erschrak Henriette – Nein, er ging vorüber, setzte sich an den Nebentisch, aber so, dass er Corinna nicht aus den Augen verlieren konnte.

Ganz schön frech und hartnäckig, fand sie und musterte ihn. Er lachte herüber. Auch seine blauen Augen lachten mit. Nein, unsympathisch war er ihr nicht. Die Situation belustigte sie. Fragend sah sie zu Corinna. Die saß wie versteinert da und wurde fast so rot wie ihr Haar.

Der Wirt brachte Kaffee und Kuchen, dann ging er weiter zu dem jungen Mann und nahm dessen Bestellung entgegen. Danach wandte er sich dem Alten zu und stellte ihm eine neue Maß Bier auf den Tisch. Der griff sofort zu, trank einen kräftigen Zug daraus und wischte sich den Schaum aus seinem dichten Bart. Seinen verbeulten, durchschwitzten Filzhut mit Adlerfeder und Edelweiß nahm er nicht vom Kopf. Vielleicht fehlten darunter die Haare, die er im Überfluss in seinem Bart hatte. Umständlich stopfte er sich mit seinen breiten, klobigen Händen eine Pfeife.

Henriette ließ wieder einen flüchtigen Blick über ihn gleiten. Irgendetwas berührte sie an ihm. Doch dann wandte sie sich Corinna zu. Sie erzählte ihr, was sie alles in Sendelbach untenehmen könnten, wie schön es da sei und dass sie dort sicher viel Abwechslung finden würde. Doch hörte ihr Corinna überhaupt zu? Aufrecht saß sie jetzt, nicht mehr so zusammengesunken. Manchmal lachte sie, warf ihre rotblonden Haare zurück und blickte immer wieder verstohlen zu dem jungen Mann hin. War das noch das liebeskranke Mädchen, welches vor ein paar Stunden zu ihr ins Auto eingestiegen war? Was doch so ein bisschen Beachtung ausmachen kann.

Der junge Mann rief den Wirt zu sich. „Ich will nach Sendelbach. Ist das noch weit?“, fragte er laut, so dass es Henriette und Corinna hören mussten.

„Nein, nur über den Pass. In einer guten Stunde sind sie dort“, erklärte der Wirt.

Corinnas Augen glänzten. „Der fährt ja dahin, wohin wir auch wollen“, flüsterte sie Henriette zu.

„Zufälle gibt es!“ Na, dieser Zufall kam Henriette doch komisch vor, eher glaubte sie, dass er ihr Gespräch belauscht hatte. Henriette war es recht. Vielleicht kam Corinna auf andere Gedanken, wenn der junge Mann wirklich ihre Nähe suchte. Nein, lange dauerte es bei Corinna gewiss nicht, bis sie über ihren Liebeskummer hinweg war, davon war Henriette nun überzeugt.

Plötzlich neigte sich Corinna ihr zu: „Merkst du das nicht, wie der Alte dich unentwegt anstarrt? Kennt der dich vielleicht?“

„Quatsch! Wer soll mich hier noch kennen?“ Dann aber drehte sie sich vorsichtig um – und erschrak. Dieser Blick, das konnte doch nicht sein! Sie wich ihm aus. Nein, sie irrte sich bestimmt.

Es ließ ihr aber keine Ruhe. So rief sie den Wirt heran, bezahlte und fragte beiläufig, wer der alte Mann sei.

„Das ist der Louis, der alte Senner oben von der Kuchl-Alm. Der ist schon ein bisschen seltsam“, antwortete der Wirt.

„Louis? Hat er auch einen Nachnamen?“

„Ja mei, für uns ist es halt der alte Louis. Aber ich glaub’, Hofbauer heißt er. Ja, genau, Louis Hofbauer.“

Betroffen blickte Henriette hinüber.

Der Wirt ging.

Auch Corinna starrte zu dem Alten hin. „Henriette, ist er das?“

Nervös stopfte Henriette ihr Portmonee in die Tasche. Ihre Hände zitterten dabei. „Er muss es wohl sein“, sagte sie bedrückt.

Ganz langsam drehte sie sich ihm zu und sah ihn voll an. Sie wich ihm nicht mehr aus. Mit den Augen sagte sie ihm, dass nun auch sie ihn erkannt hatte. Waren seine Augen auch kleiner geworden, sie spürte die Wärme, mit der er sie ansah, die Liebe einer vergangenen Zeit. Lang war es her, dass sie sich miteinander verbunden fühlten.

Er hatte es also nicht geschafft, sich von seinem Heimatort zu lösen, die Berge haben ihn festgehalten. Was hatte das Leben aus ihm gemacht? Sie saß hier, noch immer eine auffällige Erscheinung, eine tüchtige Geschäftsfrau, die im Leben noch etwas zu sagen hatte; er dagegen wirkte, als wäre er für die Welt schon verloren, ein seine Einsamkeit suchender Senner, dem vielleicht sein Hund und die Kühe wichtiger waren als jeder Mensch. Ein ganzes gelebtes Leben lag zwischen ihnen und trennte sie. Die Erinnerungen an eine Zeit, in der sie zusammengehörten, der Welt gemeinsam trotzen wollten, war wie eine Sage, von der man nicht wissen konnte, ob sie wirklich einmal wahr gewesen ist. Sie wussten noch voneinander, aber es gab für sie keine Brücke mehr zueinander über das, was sie trennte, über die lange Zeit, die sie verändert hatte. Er machte keinen Versuch, sie anzusprechen, und sie wollte es auch nicht.

Henriette drängte zum Aufbruch.

Corinna warf noch einmal einen neugierigen Blick auf den Louis Hofbauer, der einmal die große Liebe ihrer Großmutter gewesen war, ehe sie hinausgingen.

Der Blick des alten Senners folgte ihnen, solange er sie sehen konnte. Henriette spürte es.

Als sie im Auto saßen und weiterfuhren, fragte Corinna: „Dieser Louis, war der sehr viel älter als du?“

„Nein, das war er nicht, nur ein paar Jahre.“

„Aber das war doch ein sehr alter Mann?“

„Ja, heute ist er wohl sehr viel älter als ich. Das Leben geht sehr unterschiedlich mit den Menschen um. Dem einen lässt es mehr Zeit zum Altern, dem andern weniger.“ Ein wenig Trauer schwang in Henriettes Worten mit.

Sie schaute in den Rückspiegel. Der junge Mann fuhr wieder dicht hinter ihnen her. Gar nicht mehr verstohlen drehte sich auch Corinna neugierig um. Sie wollte wissen, ob er ihr folgte.

‚Liebeskummer dauert eben immer nur so lange, bis der Nächste kommt. Mal braucht es länger und mal geht es schneller, bis es vorbei ist’, dachte Henriette und lenkte ihr Auto die kurvenreiche Straße in die wundervolle Bergwelt hoch, die Louis wohl nie losgelassen hat.

Ein Lächeln von Gitte

Wie sehr wünschte sich Harry, einmal Geld wie die anderen zu haben, um es für Gitte bei den Schaustellern des Frühlingsfestes der Stadt ausgeben zu können. Einmal wollte er nicht zusehen müssen, wie Manfred und die andern für jeden Euro ein dankbares Lächeln von ihr erhielten.

Schon hatte die Mutter das abgewetzte Portmonee gezückt, schon den Fünf-Euro-Schein in der Hand, um ihn Harry zu schenken. Doch der Vater kam dazu.

„Du gibst ihm kein Geld mehr!“, befahl er. Mit seinen breiten Schultern fast den Türrahmen füllend stand er in der Küchentür, das Kinn vorgeschoben und den Blick der blutunterlaufenen Augen herrisch auf Harry gerichtet. Ein leichter Alkoholdunst umgab ihn.

Harry hätte die Faust in das Geschirr auf dem Tisch schlagen mögen. Wieder duckte sich die Mutter, wieder steckte sie zögernd das Portmonee weg. Müde stricht sie sich dabei eine unordentliche Haarsträhne aus der Stirn.

„Wie viel hat denn der Herr Sohn verdient, dass er das Geld zum Fenster hinauswerfen möchte?“, höhnte der Vater.

Harry warf den Kopf in den Nacken und wollte sich an ihm vorbeischieben.

Der Vater aber packte ihn bei den mageren Schultern. Dabei stieß er ihm seinen widerlichen Atem ins Gesicht und fuhr ihn an: „Keine Antwort, was? – Durch die nächste Gesellenprüfung wirst du auch wieder fallen, oder? Kannst ja deinem Vater weiter auf der Tasche liegen.“ Dann stieß er ihn von sich aus der Küche.

 

Harry knallte die Wohnungstür hinter sich zu. Noch mit geballten Fäusten sprang er die kahle Treppe hinunter. Von den Wänden des Aufgangs bröckelte der Putz. Er biss die zähne zusammen, als er über den düsteren Hinterhof ging. Oben am Fenster stand seine Mutter und sah ihm nach. Er wusste es, aber er warf nicht einen Blick hinauf.

Warum lehnte sie sich nie auf? Warum duckte sie sich ein Leben lang und ließ es zu, dass der Vater ihn beschimpfte, wenn nicht noch Schlimmeres. Wie er es hasste, dieses Leben in dem schmutzigen Hinterhof in der Altstadt dieser Stadt.

Eines Tages aber wird alles anders werden! Wenn schon Altstadt, dann wird er In einem Vorderhaus wohnen, wie Gitte und Manfred. Von einem Balkon mit bunten Blumen wird er auf die Straße schauen können. Vielleicht kann er sogar in einen der Neubauten am Rande der Stadt ziehen, sobald er in der Fabrik Meister geworden ist und eine große Werkstatt leitet. Dann kann er die Lehrlinge schelten, so, wie er jetzt gescholten wurde. Doch dazu musste er erst die Gesellenprüfung bestehen. Er konnte nachts kaum noch schlafen vor Angst, dabei wieder durchzufallen.

Vor dem Haus warteten schon seine Freunde auf ihn: Gunter, Horst, Manfred und als einziges Mädchen bei ihnen Gitte.

„Endlich!“, maulte Gunter. „Das hat ja wieder mal eine Ewigkeit gedauert, bis du kommst.“ Obwohl er kleiner war, sah er Harry geradezu von oben herab an.

Harry entschuldigte sich schüchtern und biss sich auf die Lippen. Scheu sah er zu Gitte. Leuchteten ihre samtbraunen Augen auf, als sie ihn ansah? Er musste sich irren. Verlegen versuchte er, die Ärmel seiner ausgewachsenen Jacke bis zum Handgelenk hinunterzuziehen.

Manfred packte Gitte neckend bei ihren schulterlangen Locken. Biegsam wand sie ihre schlanke Figur, um sich zu befreien und lachte spielerisch dabei.

Harry zog sich das Herz zusammen.

Horst drängte zum Aufbruch und schob sich an Gittes Seite. Manfred jedoch legte wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Schulter. Gunter kaute gelangweilt Kaugummi und lief wie Harry hinterher. So gingen sie die Straße hinunter zum Rummelplatz.

Je näher sie kamen, umso lauter wurde es. Da dudelte Musik aus Lautsprechern, priesen Ausrufer ihre Attraktionen an und schrieen sich Losverkäufer die Kehle heiser. Mädchen kreischten, Bahnen ratterten und Schüsse knallten. Leuchtend grelle bunte Farben verwirrten das Auge und Gerüche nach Süßem, nach Mandeln oder Gebratenem drängte sich auf. Lachende, schwatzende Menschen schoben sich durch die Gänge an Buden, Zelten, Karussells und sonstigen Attraktionen vorbei. Auch die Freunde mit Harry mischten sich erwartungsvoll darunter.

Bald zog Manfred lässig Geld aus der Tasche und spendierte Gitte Fahrten mit Autoskootern, auf der Achterbahn, Riesenrad und Kettenkarussell. Gunter und Horst machten alles mit. Manchmal bezahlten sie auch für Harry eine Fahrt, der sich ja sonst nichts leisten konnte. Doch meistens stand er abseits und musste zusehen, wie Gitte sich amüsierte – und immer an Manfreds Seite. Krampfhaft umschloss seine Hand dabei die wenigen Cents in seiner Tasche. Nein, bei Gitte hatte er keine Chance! Nichts gab es, was ihr nicht schon von Manfred geboten wurde, dachte er traurig.

Als Gitte später atemlos mit den drei andern aus der Gespensterbahn kam und ihm erzählen wollte, wie schaurig es darin zuging, stutzte sie und sah ihn forschend an. Manfred wollte sie weiterziehen und mit ihr den andern folgen zu einem Losverkäufer, sie aber riss sich los und blieb bei Harry.

„Möchtest du vielleicht ein Eis?“, fragte er verlegen.

„Sehr gerne“, versicherte sie und errötete.

Harry hastete selig zum Eisverkäufer und erstand eine Eiswaffel. Als er damit zurückkam, kehrten auch gerade die drei andern zurück.

„Manfred hat einen Teddy für dich gewonnen, Gitte“, riefen Horst und Gunter schon von weitem.

„Was sagst du nun?“ Selbstgefällig näherte sich Manfred, trug wie eine Trophäe einen kleinen braunen Teddybär mit einer großen roten Schleife vor sich her und reichte ihn ihr.

Gitte nahm ihn, lachte und fand ihn drollig. Dann fiel ihr Blick auf Harry, in dessen Hand die kleine Eiswaffel zu schmelzen begann. „Harry, mein Eis! Danke“, rief sie und nahm es ihm ab.

Verächtlich sah Manfred auf die Waffel nieder. „Die lohnt ja das Lecken nicht“, meinte er herablassend. „Hättest du doch was gesagt, ich hätte dir eine viel größere besorgt.“

„Danke, ich wollte keine Größere“, wies Gitte ihn ab.

Beleidigt zuckte Manfred mit den Schultern.

Verstimmt gingen sie weiter. Doch bald versuchten Horst und Gunter mit fröhlichem Lärmen die Stimmung zu übertönen. Auch Gitte half ihnen dabei. An einer Schießbude blieb sie stehen. „Schaut mal, die Rose dort! Ist sie nicht wunderbar nachgemacht, sie wirkt wie echt“, rief sie.

„Lass sie dir doch von Harry schießen“, forderte Manfred und kniff hinterhältig grinsend dabei die Augen zusammen.

Harry biss die Zähne zusammen.

Erschrocken blickte Gitte Manfred an. „Nein, nein! So habe ich das nicht gemeint. Ich will sie gar nicht haben“, beeilte sie sich zu versichern.

Manfred lachte höhnisch. „Wie rücksichtsvoll! Du weißt wohl genau, dass er das nicht kann?“

„Du bist gemein!“, erboste sich Gitte.

Harry spürte, wie alle Röte aus seinem Gesicht wich. „Und ich werde sie dir schießen“, sagte er und trat vor.

Gitte hielt ihn am Ärmel fest. „So höre doch: Ich will sie nicht!“

Doch Harry riss sich los und warf seine letzten Cents auf den Tisch der Schießbude.

Gitte sah seinen trotzigen Blick und seinen verkniffenen Mund. Sie musste ihn gewähren lassen.

Manfred wollte sich ausschütten vor Lachen. „Jetzt könnt ihr was erleben!“, schrie er.

Horst stimmte in sein Lachen ein: „Das gibt einen neuen Schützenkönig!“, höhnte er.

Als Harry das Gewehr anlegte, war all sein verbissener Mut verflogen. Er glaubte, von den Blicken ringsum aufgespießt zu werden. Seine Hände zitterten. Der erste Schuss fiel --- die Rose nicht!

Schadenfroh johlten die Freunde um ihn herum. Gitte starrte wütend Manfred an. Doch der johlte nur umso lauter.

Harrys Wangenmuskeln spannten sich. Zweimal konnte er noch schießen. Krampfhaft hielt er das Gewehr. Er legte erneut an. Sein zweiter Schuss --- wieder nichts! Er zwang sich, nicht aufzugeben – umsonst! Beim dritten Schuss fiel schließlich statt der Rose ein hässliches, künstliches Blümchen herunter. Da kannte der Hohn der andern keine Grenzen mehr.

Enttäuscht legte Harry das Gewehr aus der Hand. Kein Cent klimperte mehr in seiner Tasche.

Jetzt schob Manfred sich nach vorn, zahlte, nahm ohne ein Wort das Gewehr auf und schoss – die Rose fiel.

Beschämt wollte Harry mit hängendem Kopf davongehen.

Gitte aber versperrte ihm den Weg und hielt ihn fest. „Mach dir nichts draus“, sagte sie und lächelte ihm ermutigend zu.

Doch genau das, dieses mitleidige Lächeln vertrug er nicht, nicht jetzt, wo er sich gedemütigt und verletzt fühlte. Es tat ihm weh. „Was willst du?“, schrie er sie an und stieß ihre Hand von seinem Arm. „Geh zu den andern, zu Manfred! Die haben mehr Geld und können dir mehr bieten.“

Betroffen blickte Gitte ihn an, erst erstaunt, dann voller Zorn. Ihre Hand ballte sich und zerdrückte das hässliche Blümchen darin. „Gut, wenn du es nicht anders haben willst!“ Sie wandte sich ab, ließ ihn stehen und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Manfred, Horst und Gunter beeilten sich, ihr zu folgen.

„Den sind wir los!“, frohlockte Manfred und wollte Gitte wieder seinen Arm um die Schulter legen.

Sie aber schlug ihm die Hand nieder. „Bilde dir nur nichts ein!“, fauchte sie ihn an.

Verblüfft blieben die drei stehen.

Schnell war ihr Zorn auf Harry verraucht, als sie sich noch einmal nach ihm umsah. Gebeugt, mit hängendem Kopf, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, und mit jedem Schritt verratend, wie enttäuscht und gedemütigt er sich fühlte, so verließ er gerade das Frühlingsfest.

Da ließ Gitte die Jungen stehen. „Was seid ihr nur für Freunde?!“, rief sie ihnen zu. Dann rannte sie Harry hinterher. Atemlos holte sie ihn ein.

Überrascht verhielt er seinen Schritt. „Du läufst mir nach?“, fragte er ungläubig.

„Warum nicht?“, antwortete sie verlegen und errötete. Was sollte sie sonst sagen. Ohne recht zu wissen, was sie tat, zupfte sie die zerdrückten Blütenblätter der hässlichen Blume glatt.

„Du hast noch diese Blume?“, wunderte sich Harry und folgte jeder Bewegung ihrer Hände. „Wo ist die Rose?“

„Ach die! So schön war sie doch wieder nicht. Sie liegt bestimmt noch am Schießstand“, antwortete Gitte.

Sie schauten sich an. Ein glückliches Lächeln zog über sein Gesicht und Gitte erwiderte es. Erst zaghaft, dann fester legte er seinen Arm um ihre Schulter. „Tut es dir nicht leid?“, fragte er.

„Nein!“, versicherte sie und schmiegte sich an ihn.

So gingen sie zusammen ihren Weg, weg von dem lärmenden Rummelplatz, weg von den Freunden. Sie sahen sich nicht einmal nach ihnen um.