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Die neue Magdalena

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14.
Der böse Dämon

Nachdem sich Mercy von dem ersten übermannenden Schreck über diesen unerwarteten Anblick erholt hatte, wollte sie rasch auf sie zueilen und ihre Verzeihung erflehen. Allein Grace hielt sie mit einer drohenden Handbewegung zurück. »Kommen Sie mir nicht in die Nähe«, sagte sie verächtlich in befehlendem Tone. »Bleiben Sie dort stehen!«

Mercy war betroffen; auf ein solches Entgegenkommen von Seite Gracens war sie nicht vorbereitet. Sie fasste die Lehne eines Stuhles, der neben ihr stand, um nicht umzusinken. Grace fuhr in demselben gebieterischen Tone fort:

»Ich erlaube Ihnen nicht, sich in meiner Gegenwart hier zu setzen. Sie haben überhaupt kein Recht, in diesem Hause zu sein. Vergessen Sie denn, wer Sie sind und wer ich bin?«

Diese Worte an und für sich waren schon im höchsten Grade beleidigend. Der Ton, in welchem sie gesprochen wurden, trieb Mercy das Blut in die Wangen. Sie erhob trotzig den Kopf und war im Begriffe, zornig etwas zu erwidern. Doch sie bezwang sich; Julian Gray fiel ihr ein, und seines in in sie gesetzten Vertrauens wollte sie sich würdig zeigen. Ihm zu Liebe wollte sie von Grace, die von ihr betrogen worden war, jede Schmähung geduldig ertragen.

So blieb sie ruhig und ergeben stehen. Schweigend sahen sie einander an – zum erstenmale wieder waren sie beide allein seit ihrer Begegnung in dem französischen Häuschen. Welcher Gegensatz damals, wie sie sich jetzt gegenüber traten. Grace Roseberry saß in ihrem Stuhl; klein und unscheinbar, die harten, drohenden Züge von krankhafter Blässe bedeckt und die abgezehrte Gestalt in ärmliche, schwarze Kleider gehüllt, sah sie neben Mercy Merrick verkommen aus, als gehörte sie den untersten Klassen der Gesellschaft an. Mercys große, schöne Gestalt stand in reichem Seidenkleide hoch aufgerichtet vor ihr; sie neigte anmutig den Kopf in sanfter Ergebung; eine vollendete Schönheit, deren Anblick ein Vorrecht, die bewundern zu dürfen eine Auszeichnung schien. Hätte ein Fremder unter diesen beiden Erscheinungen – welche ihre romanhaften Rollen im wirklichen Leben abgespielt – raten sollen, welche die wahre Verwandte der Lady Janet Roy sei, und welche die Betrügerin, die es versucht, sich in die Stelle der anderen einzuschleichen – er hätte, ohne sich zu besinnen, Grace für die letztere und Mercy für die erstere erklärt.

Grace brach zuerst das Schweigen, nachdem sie ihr Opfer vorher mit verächtlichen Blicken vom Kopf bis zum Fuße gemessen hatte.

»Bleiben Sie da stehen. Ich sehe Sie mir gerne an«, sagte sie mit boshaftem Wohlbehagen. »Jetzt hilft Ihnen kein Ohnmächtigwerden. Jetzt ist keine Lady Janet Roy in der Nähe, um Sie zu laben, und auch keine Herren, um Sie aufzuheben. Mercy Merrick, endlich habe ich dich! Gott sei Dank dafür. Jetzt ist die Reihe an mir. Du entkommst mir nun nicht mehr!«

All die Kleinlichkeit des Herzens und des Verstandes, mit welcher Grace damals im französischen Häuschen Mercys traurige Lebensgeschichte angehört und aufgenommen hatte, trat auch jetzt hervor. Sie hatte damals die leidende und reumütige Sünderin von sich gestoßen, anstatt ihr hilfreich die Hand zu bieten; jetzt rächte sie sich für die erlittene Unbill mit wilder, erbarmungsloser Schadenfreude. Mercy antwortete ihr geduldig mit weicher, gedämpfter Stimme:

»Ich bin Ihnen durchaus nicht ausgewichen«, sagte sie. »Hätte ich gewusst, dass Sie hier im Hause sind, ich wäre von selbst zu Ihnen gekommen; denn es ist mein innigster Wunsch, Ihnen zu bekennen, dass ich mich so schwer gegen Sie versündigt habe, und alles tun will, um meine Schuld zu sühnen. Das Verlangen, Ihre Verzeihung zu gewinnen, ist zu mächtig in mir, als dass Ihr Anblick mich hätte erschrecken können.«

Sie sprach diese versöhnlichen Worte einfach und würdevoll; Grace Roseberry geriet jedoch dadurch in Wut.

»Wie können Sie es wagen, mich wie Ihresgleichen zu behandeln?« brach sie aus. »Sie benehmen sich ganz, als ob Sie hier in Ihrem Rechte wären, Sie Nichtswürdige! Das ist mein Platz hier – und was muss ich tun? Ich muss in dem Garten hin und her laufen, um von den Dienstleuten nicht erwischt zu werden, muss mich wie eine Diebin verstecken und wie eine Bettlerin draußen warten. Und warum alles das? Bloß, damit ich ein Wort mit Ihnen reden kann. Ja, mit Ihnen, der Zuchthäuslerin, der Straßendirne!«

Mercy ließ den Kopf noch tiefer sinken; zitternd hielt sich ihre Hand an der Stuhllehne fest.

Sie konnte die Schmähungen kaum ertragen. Allein Julian schwebte ihr vor und sie ertrug sie. Geduldig antwortete sie:

»Wenn es Ihnen Vergnügen macht, mich so schwer zu kränken – ich habe freilich kein Recht, mich dagegen aufzulehnen.«

»Sie haben überhaupt kein Recht!« gab Grace zurück. »Nichts gehört Ihnen, nicht einmal das Kleid, das Sie tragen. Sehen Sie sich an und dann mich?« Dabei flog ihr wilder, stierer Blick über das kostbare Seidenkleid, welches Mercy trug. »Von wem haben Sie dies Kleid, dieses Geschmeide? Alles von Lady Janet, ich weiß es. Sie schenkte es Grace Roseberry. Die sind Sie nicht. Das Kleid, die Armbänder, alles gehört mir; sie waren für mich bestimmt.«

»Sie werden sie sehr bald bekommen, Miss Roseberry; ich trage sie nicht mehr lange.«

»Was soll das heißen?«

»Sie sind zwar grausam gegen mich, allein meine Pflicht gebietet es, den Schaden, den ich verursacht, wieder gut zu machen. Ich will und werde – die Wahrheit bekennen.«

Grace lachte höhnisch.

»Sie wollen die Wahrheit bekennen!« sagte sie. »Meinen Sie, ich bin die Närrin, die dies glaubt? Sie sind nichts als eine schändliche, unverschämte Lügnerin von Anfang bis zu Ende! Sie sollten aus freiem Antrieb ihre Kleider, Ihre Kostbarkeiten, Ihre Stellung hier im Hause – Sie sollten alles aufgeben und in das Besserungshause zurückkehren? Nein, Sie tun das nicht – Sie nicht!«

Über Mercys Gesicht zog allmählich eine leise Röte; doch sie hielt sich zurück; Julians veredelnder Einfluss wirkte noch in ihr fort; bis jetzt konnte sie noch zu sich selber sagen: »Lieber alles andere, als Julian Gray täuschen!« Seine Worte hatten ihr den Mut und die Kraft verliehen, ihre jetzigen Qualen geduldig zu ertragen; aber an einem zeigte es sich, welche Mühe sie dies kostete; sie unterwarf sich schweigend – ruhig zu sprechen, war sie nicht mehr im Stande.

Gerade dies stumme Dulden reizte Grace Roseberry aufs äußerste.

»Sie werden die Wahrheit nicht bekennen«, fuhr sie fort. »Sie hätten es eine volle Woche hindurch tun können und Sie haben es nicht getan. Nein, nein! Sie sind eine von denjenigen, die bis zum letzten Augenblicke lügen und betrügen. Um so besser, dann kann ich Sie vor dem ganzen Hause bloßstellen. Man wird mich dafür preisen, dass ich die Veranlassung war, Sie dorthin zurückzustoßen, woher Sie gekommen – in die Straßen. O! Beinahe alle erlittene Unbill könnte ich über der Lust vergessen, mit welcher ich Sie am Arme eines Polizisten, den höhnenden, schreienden Pöbel hinterdrein, in das Gefängnis führen sehe!«

Das war zu viel; eine solche Beschimpfung konnte sie nicht mehr ertragen. Sie musste sich gegen ihre Quälerein wehren.

»Miss Roseberry« sagte sie, »ich habe bisher ohne Murren jede Kränkung von Ihnen ertragen. Ersparen Sie mir jetzt jede fernere Beleidigung. Ich wiederhole es Ihnen abermals und abermals, Ihnen soll Ihr Recht werden. Es ist mein fester Entschluss – ich will alles bekennen!«

Ihre Stimme zitterte, als sie diese Worte sprach. Grace blickte sie, ungläubig lächelnd, mit unsäglicher Verachtung an.

»Sie brauchen nur nach der Glocke zu greifen«, sagte sie, »ziehen Sie daran.«

Mercy war sprachlos vor Überraschung; sie verstand sie nicht.

»Sie sind eine vollendete Büßerin – Sie können es nicht erwarten, die Wahrheit zu bekennen«, fuhr die andere fort. »Gut, so bekennen Sie vor aller Welt und auf der Stelle. Rufen Sie nur Lady Janet – Mister Gray – Mister Holmcroft – die Dienstleute – rufen Sie sie alle herein; werfen Sie sich in ihrer Gegenwart auf die Knie und erklären Sie sich selbst als eine Betrügerin. Dann glaube ich Ihnen – aber früher nicht.«

»Treiben Sie mich nicht so weit, dass ich Ihre Feindin werde!« rief Mercy beschwörend.

»Was liegt mir daran, ob Sie meine Feindin sind oder nicht.«

»Treiben Sie es nicht weiter – o, tun Sie es nicht – um Ihrer selbst willen.«

»Um meiner selbst willen? Sie Unverschämte! Meinen Sie, mir etwa drohen zu können?«

Die Erregung in Mercy steigerte sich von Augenblick zu Augenblick; ihr Herz pochte immer heftiger, immer glühender brannten ihre Wangen; doch mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung bezwang sie sich.

»Haben Sie Erbarmen mit mir!« rief sie flehend. »Ich weiß, ich habe schlecht gehandelt, aber darum bin ich doch noch immer ein Weib wie Sie. Ich kann es nicht über mich gewinnen, meine Schuld vor allen Hausbewohnern aufzudecken. Lady Janet liebt mich wie eine Tochter; Mister Holmcroft soll in einer Woche mein Gatte werden. Ich kann nicht ihnen ins Gesicht sagen, dass ich sie hintergangen habe. Sie sollen es ja trotzdem alle erfahren; heute noch, ich schließe früher kein Auge, sage ich Mister Julian Gray die volle Wahrheit.«

Grace brach in ein lautes Lachen aus. »Aha!« rief sie mit wilder, roher Lustigkeit aus. »Jetzt ist es endlich heraus!«

»Nehmen Sie sich in Acht!« sagte Mercy. »Nehmen Sie sich in Acht!«

»Mister Julian Gray! Ich bin hinter der Billardzimmertür gestanden und habe gehört, wie Sie ihn freundlich einluden, hereinzukommen. O, diesem die Wahrheit zu bekennen, ist für Sie keineswegs fürchterlich; im Gegenteile!«

»Es ist genug, Miss Roseberry! Sprechen Sie nicht weiter. Um Gottes willen, sage ich Ihnen, bringen Sie mich nicht zum äußersten! Sie haben mich lange genug gefoltert.«

»Sie sind nicht umsonst in den Straßen umhergelaufen. Sie wissen sich zu helfen; es ist immer gut, wenn man Vorrat hat. Geht Mister Holmcroft nicht ins Netz, so bleibt Ihnen noch Mister Julian Gray. Ah! Sie machen es wirklich gut. Aber ich werde Mister Holmcroft die Augen öffnen; er soll erfahren, mit wem er sich verbunden hätte, wäre ich nicht gewesen.«

 

Sie stockte, eine weitere, noch härtere Beleidigung blieb unausgesprochen.

Das Wesen, welches sie so gröblich beschimpft hatte, kam jetzt auf sie zu. Grace starrte hilflos zu ihr empor; aus Mercys zornsprühendem Gesicht war plötzlich alles Blut gewichen, als sie sich drohend über ihre Quälerin beugte.

»Sie werden Mister Holmcroft die Augen öffnen«, wiederholte Mercy langsam; »er soll erfahren, mit wem er sich verbunden hätte, wären Sie nicht gewesen!«

Sie hielt inne. Dann richtete sie eine Frage an Grace Roseberry, bei welcher dieser ein Schrecken durch alle Glieder fuhr.

»Wer sind Sie?«

Die unterdrückte Wut in Blick und Ton, als sie diese Worte sprach, zeigten deutlicher als jeder heftige Ausbruch, dass Mercys Geduld nunmehr erschöpft war. In der Abwesenheit des Schutzengels hatte der böse Dämon sein Werk vollbracht. Julian Gray hatte ihr besseres Selbst emporgehoben, jetzt sank es wieder, durch die Bosheit eines Weibes schändlich vergiftet, in die Nacht zurück. Mercy brauchte nur zu wollen, sie konnte sich leicht und furchtbar rächen für den ihr zugefügten Schimpf. Außer sich vor Wut und Entrüstung zauderte sie nicht mehr – sondern ergriff das Mittel, das ihr zu Gebote stand.

»Wer sind Sie?« fragte sie noch einmal.

Grace stand auf und versuchte zu sprechen. Mercy hielt sie mit einer verächtlichen Handbewegung zurück.

»Jetzt erinnere ich mich erst!« fuhr sie mit verhaltenem Zorn im selben stolzen Ton fort. »Sie sind die Irrsinnige aus dem deutschen Hospital, die schon vor einer Woche hier gewesen ist? Ich fürchte mich nicht mehr vor Ihnen. Setzen Sie sich, Mercy Merrick und ruhen Sie sich aus.«

Kalt und unbekümmert redete sie sie bei diesem Namen an, als sei er der ihre; dann schritt sie an ihr vorbei und ließ sich in dem Stuhl nieder, welchen beim Beginn ihrer Unterredung Grace ihr verweigert hatte.

Grace sprang empor.

»Was soll das heißen?« fragte sie.

»Nichts anderes«, antwortete Mercy verächtlich, »als dass ich jedes Wort, das ich bisher gesprochen, wieder zurücknehme. Ich will und werde meinen Platz hier im Hause behaupten.«

»Sind Sie von Sinnen?«

»Sie stehen neben der Glocke. Ziehen Sie sie jetzt, wie Sie das vorhin mir geraten haben. Rufen Sie das ganze Haus zusammen und fragen Sie dann, welche von uns beiden die Wahnsinnige ist – Sie oder ich?«

»Mercy Merrick, Sie werden das bis an ihr Lebensende zu bereuen haben.«

Mercy erhob sich und starrte mit flammenden Augen auf die trotzige Sprecherin vor ihr.

»Kein Wort mehr!« sagte sie. »Verlassen Sie das Haus sogleich, so lange Sie es noch verlassen können. Wenn Sie hier bleiben, so rufe ich Lady Janet Roy.«

»Das können – das dürfen Sie nicht!«

»Ich – nicht können – nicht dürfen. Sie haben nicht den Schatten eines Beweises gegen mich in Händen. Ich besitze die Papiere; dies hier ist mein Platz; Lady Janet hat mir ihr Vertrauen geschenkt. Und Sie müssen mir glauben – ich behalte meine Kleider, meine Armbänder, ich behaupte meine Stellung hier im Hause. Ich leugne es, dass ich ein Unrecht begangen. Die menschliche Gesellschaft hat mich grausam behandelt, ich bin ihr darum nichts schuldig. Ich habe sogar ein Recht, von ihr Vorteil zu ziehen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Ich leugne es auch, Ihnen einen Schaden zugefügt zu haben; wie hätte ich es denn wissen können, dass Sie wieder lebendig werden? Habe ich Ihrem Namen, Ihrem Charakter vielleicht Unehre gemacht? Ganz das Gegenteil davon; Sie können sich bei mir bedanken, denn jedermann hier liebt und achtet mich. Glauben Sie, Lady Janet hätte Sie so lieb gewonnen wie mich? Niemals! Ich sage Ihnen ins Gesicht, dass ich Ihre Stelle tausendmal besser und würdiger ausgefüllt, als Sie es getan haben würden. Darum, ich gebe Ihren Namen nicht auf; ich gebe Ihnen das geraubte Recht nicht wieder zurück! Treiben Sie es also zum äußersten, ich trotze Ihnen!«

Unaufhaltsam waren diese schonungslosen Worte hervorgedrungen. Es war nicht möglich, sie zu unterbrechen, bis sie endlich atemlos und erschöpft innehielt. Grace ergriff die erste Gelegenheit, die sich ihr bot.

»Sie trotzen mir?« erwiderte sie entschlossen. »Sie werden es nicht mehr lange tun. Ich habe nach Kanada geschrieben. Meine Freunde dort werden für mich sprechen.«

»Und wenn sie es tun, was dann? Ihre Freunde sind hier fremd. Ich bin die Adoptivtochter Lady Janets, sie wird nicht ihnen glauben, sondern mir. Wenn sie an sie schreiben, wird sie die Briefe verbrennen; wenn sie hierher kommen, weist sie ihnen die Tür. Ich bin in einer Woche Mistress Horace Holmcroft; dann kann meine Stellung niemand mehr erschüttern, niemand mehr mich angreifen.«

»Warten Sie erst noch. Die Hausmutter im Besserungshaus haben Sie vergessen?«

»Finden Sie sie auf, wenn Sie können. Ich habe Ihnen ihren Namen verschwiegen; Sie wissen nicht einmal, wo das Besserungshaus ist.«

»Ich setze Ihren Namen in die Zeitung und erfahre so, wer die Hausmutter ist.«

»Tun Sie dies, in welcher Zeitung Londons Sie wollen. Glauben Sie denn, ich hätte einer Fremden, wie Ihnen, meinen wahren Namen gesagt? Mercy Merrick hieß ich erst, als ich England verließ. Dieser Name ist der Hausmutter völlig unbekannt; er ist es auch Mister Holmcroft. Er traf in dem französischen Häuschen mit mir zusammen, während Sie bewusstlos auf dem Bette lagen. Mein Krankenpflegerinkleid war unter meinem grauen Mantel versteckt; weder er, noch sonst jemand hat mich darin gesehen. Man hat auf dem Kontinent Nachforschungen angestellt, doch – ich weiß es zufällig von der Person, die sie angestellt – sie blieben erfolglos. Ich bin in Ihrer Stelle sicher, man kennt mich unter Ihrem Namen. Ich bin Grace Roseberry und Sie sind Mercy Merrick. Beweisen Sie das Gegenteil, wenn Sie können!«

Sie sprach diese Worte mit stolzer Sicherheit, im Bewusstsein ihrer Unantastbarkeit und deutete nach der Tür des Billardzimmers.

»Sie sind da versteckt gewesen, Sie haben es selbst eingestanden«, sagte sie. »Sie kennen also den Weg, um von hier zu entkommen. Verlassen Sie das Zimmer!«

»Ich rühre mich nicht von der Stelle!«

Mercy schritt zu einem Seitentisch und legte die Hand auf den Drücker der Glocke.

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür des Billardzimmers. Julian Gray, von seiner erfolglosen Durchsuchung des Gartens zurückkehrend, erschien auf der Schwelle.

Er hatte sie noch kaum überschritten, so ward auch die Tür des Bibliothekzimmers aufgestoßen; der dort drinnen aufgestellt gewesene Diener zog sich zurück und ließ Lady Janet Roy eintreten; ihr folgte auf dem Fuße Horace Holmcroft, das Hochzeitsgeschenk seiner Mutter für Mercy in der Hand.

15.
Der Polizeimann in Zivil

Julian ließ seinen Blick rasch durch das Zimmer schweifen und blieb in der geöffneten Tür wie angewurzelt stehen.

Seine Augen hafteten – zuerst auf Mercy, dann auf Grace.

Sie sahen beide so verstört aus, dass er keinen Augenblick über die Art ihrer Unterredung im Zweifel sein konnte. Was er gefürchtet hatte, war nunmehr wirklich geschehen; sie waren allein zusammengetroffen, ohne dass jemand sich ins Mittel gelegt hätte. Inwieweit sie sich von Wut und Hass hatten hinreißen lassen, war er jetzt noch gänzlich außer Stande zu beurteilen. Für den Augenblick, so lange seine Tante im Zimmer war, konnte er nur die Gelegenheit abwarten, um mit Mercy zu sprechen, und dann darüber wachen, dass Grace nicht unnötig und ungebührlich beleidigt werde.

Das Verhalten Lady Janets, als sie in das Speisezimmer trat, entsprach vollkommen ihrem ganzen Charakter.

Sie erkannte sofort die Fremde, welche hier eingedrungen war, und blickte Mercy streng an. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt?« rief sie. »Sind Sie recht erschrocken? Nein! Nicht im Geringsten! Das ist merkwürdig!« Sie wandte sich zu dem Bedienten. »Warten Sie im Bibliothekzimmer; ich werde Sie vielleicht noch brauchen.« – Dann zu Julian. »Überlassen Sie alles mir; ich weiß, was ich zu tun habe.« Horace winkte sie, stehen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Nachdem sie so jedem gesagt, was sie für notwendig befunden hatte, näherte sie sich der Stelle, wo Grace mit gerunzelter Stirn und trotzig geschlossenen Lippen stand.

»Ich will Sie weder beleidigen, noch Ihnen sonst durch eine harte Behandlung wehe tun«, begann Lady Janet ruhig. »Ich will Sie nur darüber aufklären, dass ihre wiederholten Besuche hier durchaus zu keinem für Sie befriedigenden Resultat führen werden. Hoffentlich zwingen Sie mich nicht, Ihnen noch ärgeres zu sagen – Sie werden begreifen, dass ich wünsche, Sie mögen sich entfernen.«

So sprach sie rücksichtsvoll zu Grace, in Anbetracht ihres vermeintlich gestörten Geisteszustandes. Diese jedoch fuhr sogleich heftig auf.

»Um des Andenkens an meinen Vater, um meiner selbst willen«, antwortete sie, »fordere ich Gehör. Ich lasse mich nicht fortschicken.« Dabei setzte sie sich ohneweiters in Gegenwart der Herrin des Hauses selbst auf einen Stuhl nieder.

Lady Janet wartete einen Augenblick – um nicht die Herrschaft über sich zu verlieren. Inzwischen ergriff Julian die Gelegenheit und versuchte, Grace zum Nachgeben zu bewegen.

»So halten Sie, was Sie versprochen?« fragte er sanft. »Haben Sie mir nicht Ihr Wort gegeben, Mablethorpe-House nicht mehr zu betreten?«

Da unterbrach ihn Lady Janet. Sie hatte die Herrschaft über sich wieder vollständig gewonnen und antwortete nun Grace mit einer nicht zu missdeutenden Handbewegung nach der Tür.

»Wenn Sie meinen Rat nicht befolgt haben, bis ich dort an der Tür angelangt bin«, sagte sie, »so sollen Sie sehen, dass Ihnen auch der Trotz nichts mehr nützen kann. Ich bin gewohnt, dass man mir gehorche, und verlange darum auch Gehorsam. Zwingen Sie mich nicht, strengere Maßregeln zu ergreifen; gehen Sie, ehe es zu spät ist!«

Sie schritt langsam dem Bibliothekszimmer zu. Julian wollte abermals versuchen, auf Grace zu wirken, allein seine Tante hielt ihn mit einer energischen Handbewegung zurück, als wollte sie ihm sagen: ich dulde keine Einmengung. Sein zweiter Blick fiel auf Mercy. Sie stand noch immer mit gesenktem Kopf regungslos da; es schien fast, als wollte sie an allem, was vorging, gar keinen Anteil nehmen; nicht einmal Horace gelang es, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Lady Janet stand jetzt an der Tür und blickte über die Schulter zurück nach der kleinen, unbeweglichen Gestalt auf ihrem Stuhle.

»Nun, wollen Sie gehen?« fragte sie zum letztenmale.

Grace sprang zornig auf und richtete ihre Gift sprühenden Augen auf Mercy.

»Ich lasse mich nicht aus dem Hause weisen, so lange diese Betrügerin noch vor mir steht«, sagte sie. »Der Gewalt weiche ich, aber nur ihr. Ich behaupte meinen Anspruch auf die Stelle, die dies Weib hier mir gestohlen hat. Es nützt auch nichts, wenn Sie mich deshalb schelten«, fuhr sie mürrisch zu Julian gewendet fort, »so lange diese Person unter meinem Namen in diesem Hause lebt, so lange gebe ich meine Besuche hier nicht auf. In Ihrer aller Gegenwart wiederhole ich, dass ich an meine Freunde in Kanada geschrieben! Sie soll nun vor Ihnen allen leugnen, wenn sie es kann, dass sie die Abenteurerin, die Verlorene, dass sie Mercy Merrick ist!«

Diese Herausforderung zwang Mercy, ihre untätige Haltung aufzugeben und um Ihrer eigenen Verteidigung willen sich an den Verhandlungen zu beteiligen. Sie musste jetzt Grace entgegentreten und ihr Trotz bieten. Sie wollte sprechen – Horace hielt sie zurück.

»Sie ist nicht wert, dass Sie ihr antworten«, sagte er. »Geben Sie mir Ihren Arm, wir verlassen das Zimmer.«

»Ja, führen Sie sie nur hinaus!« rief Grace. »Sie muss sich wohl schämen, einer ehrlichen Frau unter die Augen zu treten. An ihr ist es, das Zimmer zu verlassen – nicht an mir!«

Mercy zog die Hand aus Horacens Arm und sagte ruhig: »Lassen Sie mich hier.«

Horace gab nicht nach. »Ich kann es nicht hören«, versetzte er, »wie sie Sie beschimpft; es empört mich, wenn ich gleich weiß, dass man sie dafür nicht verantwortlich machen kann.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Lady Janet mit einem raschen Blick auf Julian. »Niemand soll mehr von ihr zu leiden haben.«

Dabei zog sie die Karte ihres Neffen aus der Tasche und öffnete die Tür des Bibliothekzimmers.

»Gehen Sie zu der nächsten Polizeistation«, sagte sie zu dem eintretenden Diener, »und übergeben Sie diese Karte dem diensthabenden Chef mit der Weisung, keinen Augenblick zu säumen.«

»Halt!« rief Julian, ehe noch seine Tante die Tür schließen konnte.

 

»Was soll das?« fragte Lady Janet scharf. »Ich habe meinen Befehl erteilt.«

»Lassen Sie mich vorerst noch ein paar Worte allein mit dieser Dame sprechen«, erwiderte Julian auf Grace deutend. »Dann«, fuhr er, sich in ziemlich auffälliger Weise an Mercy wendend, fort, »hätte ich an Sie die Bitte zu stellen, mir eine kurze Unterredung zu gewähren.«

Mercy verstand die Anspielung und bebte vor seinem Anblick zurück. Sie wechselte die Farbe und schwieg in peinlichster Aufregung. Julian hatte sie leise an ihr früheres Gespräch gemahnt und damit in ihrem Innern den Kampf mit ihrem bessern Selbst von neuem angefacht. Sie war nahe daran, das Edle in sich Herr werden zu lassen – sich zu jener Erhabenheit empor zu schwingen, welche selbst die schmerzlichste Kränkung vergessen kann – aber Gracens Bosheit sah in ihrem Zögern einen Anlass, um abermals in beleidigender Weise ihre Unterredung mit Julian Gray zu berühren.

»O, bitte, Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wenn er mit mir allein ist«, sagte sie mit krampfhaft affektierter Höflichkeit. »Ich habe gar keinen Grund, an Mister Julian Gray eine Eroberung machen zu wollen.«

Horace, welchen schon Julians Bitte an Mercy eifersüchtig und misstrauisch gemacht hatte, wollte eben hierauf etwas erwidern, da kam ihm Mercy zuvor. Die Entrüstung hatte sie in diesem Augenblick übermannt.

»Ich danke Ihnen, Mister Gray«, sprach sie zu Julian gewendet, jedoch ohne ihn anzublicken. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen; ich werde Sie nicht weiter bemühen.«

Mit diesen raschen, unüberlegten Worten nahm sie das Bekenntnis zurück, zu dem sie sich selbst verpflichtet hatte, und trat wieder in ihre angemaßte Stellung zurück im Angesichte des Wesens, dem sie dieselbe entzogen hatte!

Horace schwieg, allein er war keineswegs beruhigt. Er sah, wie Julian seine Augen traurig forschend auf Mercy heftete, während sie sprach und hörte ihn tief seufzen, als sie geendet hatte. Er bemerkte endlich, wie dieser nach einem kurzen, ernsten Nachdenken und einem flüchtigen Blick auf die ärmliche, schwarze Gestalt hinter ihm – plötzlich, wie von einem Gedanken durchzuckt den Kopf erhob.

»Geben Sie mir die Karte«, rief er dem Diener in einem Tone zu, dem man die Entschlossenheit anhörte. Der Bediente gehorchte.

Ohne weiter darauf zu achten, dass Lady Janet in dieser Angelegenheit keine fremde Einmischung dulden wollte, zog er den Bleistift aus seinem Taschentuch hervor und fügte den auf der Karte bereits stehenden Worten noch seine eigenhändige Unterschrift bei. Als er damit fertig war, gab er dem Diener die Karte zurück und wandte sich zu seiner Tante:

»Verzeihen Sie, dass ich es gewagt, in diesem Falle etwas eigenmächtig zu handeln; ernste Gründe, die ich Ihnen zu einer passenderen Zeit mitteilen werde, haben mich dazu genötigt. Im übrigen will ich Ihnen in Ihrem weiteren Vorgehen in keiner Weise hinderlich sein. Was ich eben getan, wird im Gegenteil dazu beitragen, dass Sie Ihre Absicht erreichen.«

Bei diesen Worten hielt er den Bleistift, mit dem er seinen Namen unterschrieben, in die Höhe.

Lady Janet war überrascht und, vielleicht nicht ganz ohne Grund, verletzt. Sie antwortete nicht, sondern winkte nur dem Diener mit einer Handbewegung, die Karte zu bestellen.

Es entstand eine Stille im Zimmer. Die Augen aller Anwesenden richteten sich mehr oder minder ängstlich auf Julian. Mercy fühlte etwas wie Überraschung und Schrecken. Horace war gleich Lady Janet verletzt, ohne eigentlich zu wissen, warum. Sogar Grace Roseberry empfand das drückende Vorgefühl eines heranziehenden Ereignisses, auf welches sie nicht vorbereitet war. Julians Worte und Handlungen waren, seitdem er die Karte beschrieben, in undurchdringliches Dunkel gehüllt; niemand von allen, die ihn umgaben, konnte sich erklären, weshalb.

Dennoch wäre der Grund zu seinem Benehmen mit zwei Worten gesagt gewesen: er hielt an dem Glauben fest, dass Mercy edlerer Natur sei.

Nach der Sprache, welche Grace in seiner Gegenwart gegen Mercy gebraucht, war es leicht zu erraten, wie schonungslos sie ihren Vorteil jener gegenüber ausgebeutet haben mochte, als Julian ihre Unterredung störte. Anstatt in Mercy das Mitgefühl und den Sinn für Recht zu erwecken – anstatt ihre Zerknirschung freundlich aufzunehmen, und sie zu vollständiger und unverzüglicher Sühne aufzumuntern – hatte Grace sie offenbar aufs äußerste verletzt und beschimpft. Dies hatte Mercys Geduld erschöpft, und so war sie dem Drucke unerträglicher Härte unterlegen.

Das einzige Mittel, das Unheil wieder gut zu machen, wäre – wie Julian vorausgesehen – eine Unterredung mit Grace allein gewesen. Er musste durch die Anerkennung ihrer gerechten Ansprüche sie zu besänftigen und zu bewegen suchen, dass sie es ihm überlasse, Mercy ihr Bedauern und ihre Entschuldigung für die ihr zugefügte Beleidigung auszudrücken und damit eine freundliche Verständigung zwischen ihnen herbeizuführen.

In diesem Sinne hatte er gewünscht, zuerst mit der einen und dann mit der anderen allein zu sprechen. Nach dem, was unterdessen vorgefallen, nach der neuerlichen Beschimpfung von Seite Gracens und der dadurch erpressten Antwort Mercys war es ihm nunmehr klar geworden, dass eine Einmischung, wie er sie beabsichtigt, nicht den geringsten Erfolg haben würde.

Es blieb nichts übrig, als das Schreckliche geschehen, das heißt die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen und dabei einzig und allein auf Mercys edlere Natur zu vertrauen.

Wenn der Polizeibeamte eintrat; wenn es ihr klar wurde, welche Folgen sein Einschreiten haben werde; wenn sie nur die Wahl hatte, entweder Grace in ein Narrenhaus gesteckt zu sehen oder selbst die Wahrheit zu bekennen – was würde sie dann tun? War das Vertrauen, welches Julian in sie setzte, begründet, so würde sie alle ihr angetane Schmähung großmütig verzeihen und der von ihr Beschädigten Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Sollte jedoch sein Glaube nur der blinde Wahn eines durch Liebe betörten Mannes gewesen sein – sollte sie angesichts einer solchen Wahl dennoch auf ihrem Unrecht beharren, was dann?

Julian ließ diese Möglichkeit in seinen Gedanken gar nicht aufkommen; für ihn bedurfte es nur des Erscheinens des Polizeibeamten, um ihr den rechten Weg zu zeigen. Er hatte vorher schon, um ein Unheil von Seiten Lady Janets zu verhüten, den Chef der Polizeistation die Weisung zukommen lassen, der auf der Karte angegebenen Aufforderung nur dann Folge zu leisten, wenn dieselbe seine Unterschrift trage. Er war sich der Verantwortlichkeit, welche er damit übernahm, völlig und bewusst und ebenso kannte er seine Stellung Mercy gegenüber, welche ihn durch das Zurückziehen eines Bekenntnisses außer Stand gesetzt hatte, sich auf dasselbe zu berufen – aber eben dies hatte ihn veranlasst, ohne Zögern seinen Namen zu unterzeichnen; und jetzt stand er – unter allen der einzig Gefasste – da, den Blick auf diejenige gerichtet, deren besseres Selbst er bis aufs äußerste zu verteidigen entschlossen war.

In Horace war die angefachte Eifersucht nicht wieder zur Ruhe gekommen. Argwöhnisch führte er Julians ernste Haltung und Mercys niedergeschlagenes Wesen auf ein geheimes Einverständnis zwischen beiden zurück. Da er nun keine Veranlassung hatte, offen dagegen einzuschreiten, so versuchte er, sie zu trennen.

»Sie haben eben den Wunsch geäußert«, wandte er sich an Julian, »mit dieser Person – er deutete dabei auf Grace – einige Worte unter vier Augen sprechen zu können. Sollen wir uns zurückziehen, oder gehen Sie mit ihr zu diesem Zwecke in das Bibliothekzimmer?«

»Ich habe ihm nichts allein zu sagen«, brach Grace aus, ehe noch Julian antworten konnte. »Ich weiß es genau, dass er der letzte ist, der mir Gerechtigkeit widerfahren ließe. Er ist völlig blind. Wenn ich überhaupt mit jemand unter vier Augen spreche, so ist es mit Ihnen, denn Sie haben mehr als alle anderen ein Interesse daran, die Wahrheit zu entdecken.«